Kapitel 57 – Die Jagd
General de Jarjayes betrachtete den erbärmlichen Zustand seiner Soldaten mit hilfloser Wut. Der schwarze Ritter hatte erneut zugeschlagen, aber diesmal hatte er seine Taktik geändert: anstelle von Adelshäusern überfiel er mit seinen Gefolgsmännern die königlichen Transportzüge! Und heute hatte er 500 Gewähre erbeutet! Einfach so, ohne dass die Soldaten der königlichen Armee reagieren und die Schurken rechtzeitig abwehren konnten! Wie Heuschrecken griffen sie aus dem Hinterhalt an, überwältigten die überraschten Soldaten und verschwanden dann mit dem gesamten Tross. Die übriggebliebenen Soldaten kamen mit leeren Händen nach Versailles und mussten nun vor dem General de Jarjayes Rede und Antwort stehen. „...sie hatten uns auf einer Brücke von beiden Seiten überrascht und sie waren in der Überzahl.", beendete ein Hauptmann, der diesen Tross mit Gewehren angeführt hatte.
Reynier platzte fast der Kragen. Das war schon der dritte Überfall in zwei Wochen! „Lasst euch verarzten und kehrt auf eure Posten zurück!", befahl er den Soldaten und marschierte selbst in Richtung Ställe. Er war sehr wütend und nicht nur auf den schwarzen Ritter! Oscar sollte endlich dafür sorgen, dass dieser gemeine Dieb gefasst wurde! Zwei Wochen waren bereits vergangen, seit André vom schwarzen Ritter am Auge verletzt wurde und Oscar unternahm noch immer nichts gegen diesen Schurken und seiner Diebesbande! Das musste sofort geändert werden und deshalb ritt General de Jarjayes geschwind zu seinem Anwesen, um seine Tochter dazu aufzufordern, endlich ihre Pflicht zu tun!
Im schnellen Galopp erreichte Reynier sein Anwesen und schonte das Pferd nicht. In dem Hof wartete er nicht einmal, bis die Stallburschen ankamen, stieg ab und eilte in das Haus. In dem Hauptgebäude traf er auf seine Enkel. „François, du gehst und holst Oscar sofort in mein Kontor! Und du..." Er sah zu Augustin. „...kommst mit mir mit!"
Augustin folgte wortlos seinem Großvater und François begab sich in das Zimmer seines Vaters. Dabei bekam er ein unangenehmes Gefühl und fragte sich, warum sein Großvater so wütend war und dazu auch noch Augustin mitnahm. Aber das würde er sicherlich später von seinem Bruder erfahren. Seit er sein Geheimnis kannte, begriff er noch viele andere Sachen über ihn. Zum Beispiel, dass sein Großvater eine Hauptrolle im Schweigen von Augustin spielte und ihm drohte, ihn in das Dorf zurück zu bringen, wo er ihn gefunden hatte. Das hatte François schon vor zwei Wochen, als er Graf de Girodel mit Augustin reden hörte, mit Entsetzen verstanden. Wenn sein Großvater über Augustin Bescheid wusste, dann müsste er auch das andere Geheimnis kennen. Aber woher? Oder hatte ihm Graf de Girodel alles verraten? Es wäre sehr enttäuschend zu wissen, dass ein Mensch, dem er vertraute und den er schätzte, einen Verrat begangen hatte. Gleichzeitig würde es zumindest erklären, warum er mit Augustin das gleiche Geheimnis teilte und vom General de Jarjayes bedroht wurden. Wenn der Graf dem General wirklich alles erzählt hatte, dann aus welchen Grund? Das waren noch Fragen, die François jeden Tag beschäftigten. Mit seinem Bruder konnte er nicht darüber reden, weil Augustin seit diesem einen Gespräch vor zwei Wochen kein Wort mehr über dieses Thema verlor. François war das gleichgültig. Er würde selbst alles herausfinden und dann noch mehr oder gar alles verstehen.
Doktor Lasonne untersuchte André und war sehr zufrieden mit dem Fortschritt seines Patienten. „Nun können wir den nächsten Schritt wagen und den Verband gänzlich ablegen."
„Heißt das, dass ich den Verband nicht mehr tragen brauche?", fragte André noch etwas unsicher, aber innerlich jubelte er vor Freude. Die Schmerzen an der Wunde hatten zwar schon längst nachgelassen, aber der Verband war noch immer ein Hindernis und behinderte seine Sicht auf dem Auge.
„Nein, mein junger Freund.", bestätigte der Doktor. „Eure Wunde ist ganz verheilt und Eurem Auge droht keine Erblindung."
„Wie schön!" Auch Oscar freute sich. Endlich war ihr André ganz gesund und das hieß, sie würde schon bald die Jagd auf den schwarzen Ritter fortsetzen können! Noch bevor sie jedoch ihre Danksagung dem Doktor kundtun konnte, ging die Zimmertür auf und François kam kurz herein. „Mutter, dein Vater ist hier und möchte mit dir sofort sprechen. Und er hat Augustin in sein Kontor mitgenommen."
Die Freude über die Genesung ihres Geliebten rückte Augenblicklich in den Hintergrund. Was will mein Vater hier, fragte sich Oscar und fand sogleich die Antwort: Es müsste ganz sicher etwas in Versailles vorgefallen sein. Aber weshalb hatte er dann Augustin mitgenommen? Das würde sie gleich erfahren. Oscar verabschiedete sich von Doktor Lasonne, deutete ihrem André an, dass sie bald zurück sein würde und ging mit ihrem Sohn in das Kontor ihres Vaters. François kam selbstverständlich mit, denn auch er war neugierig zu erfahren, um was es zwischen seinem Großvater und seiner Mutter ging. Zumal Augustin sich dort befand und das bedeutete, dass auch er dabei sein durfte.
Oscar klopfte an und nach einem barschen „Herein", betrat sie das Kontor ihres Vaters. „Ihr wolltet mich sprechen?"
„Ja, das wollte ich!" Reynier saß in seinem Stuhl, rauchte eine Pfeife und durchbohrte seine Tochter mit einem eisigen Blick. „Der schwarze Ritter hat erneut zugeschlagen und erbeutete 500 Gewehre! Kannst du dir das vorstellen, welch ein Verlust das für die königlichen Armee ist?!"
Oscar verstand auf Anhieb, was ihr Vater von ihr nun wollte. Sie sollte den schwarzen Ritter dingfest machen. „Ich werde mich um den Dieb kümmern, sobald André auch bereit ist."
„Sofort!" Reynier sprang wie gestochen von seinem Stuhl. „Oder hast du vergessen, dass du in ersten Linie dem königlichen Haus dienst?"
„Nein, Vater, das habe ich nicht vergessen." Oscar versuchte äußerlich Ruhe zu bewahren, aber innerlich war sie angespannt wie die Sehne eines Bogens. „André braucht noch ein oder zwei Tage, um sein Auge zu schonen und dann können wir gemeinsam auf die Jagd nach dem schwarzen Ritter gehen."
Reynier war noch verärgerter. Seine Tochter wagte ihm auch noch zu widersprechen! Na, warte, dachte er sich, du wirst mir gehorchen, ob du willst oder nicht! „Gut, ich gebe dir zwei Tage und wenn du dann noch immer nicht deine Pflicht tust, dann komme ich hierher und hole mir die kleine Marguerite!", sagte er mit einer List und sah zufrieden die Schreckensmiene seiner Tochter.
Nicht nur Oscar, sondern auch Augustin und François, der mittlerweile an der Seite seines Bruders stand, starten den General entsetzt an. Das würde er tun, wussten alle drei und besonders François begriff, dass sein Großvater auch von Marguerite wusste. Deshalb setzte er seine Tochter unter Druck, ohne dass sie wusste, warum. Das war ein sehr gemeines Spiel seitens seines Großvaters, aber auf ihn böse sein, konnte er nicht. Solange er den Grund nicht kannte, konnte er ihn für sein Tun nicht verurteilen. Dafür verurteilte aber seine Mutter ihren Vater. „Das könnt Ihr nicht machen, Vater!", protestierte Oscar kategorisch und konnte ihre Rage nur mit größter Mühe im Zaun halten. Wenn ihr Vater ihre Tochter nur anrühren würde, dann würde sie für nichts garantieren können!
„Natürlich kann ich das!" Reynier legte seine Pfeife auf den Tisch ab und kam seiner Tochter näher. Er blieb nur zwei Schritte vor ihr stehen und fügte ganz trocken hinzu: „Und wenn das nicht hilft, dann wird ihr François folgen." Es war falsch, das zu sagen, denn er mochte seine Enkel, aber seine Tochter sollte schon erfahren, dass sie mit ihm nicht einfach so spielen konnte. Nur er durfte hier die Spielregeln aufstellen und alle anderen, vor allem Oscar, sollten sich dem beugen.
François konnte kaum glauben, was er da hörte und erinnerte sich an die belauschten Worte von Graf de Girodel. Der General war zum allen fähig, um nur die Familienehre und Königstreue zu behalten. Also wollte sein Großvater ihn auch seinen Eltern wegnehmen? Warum machte er das? François schaute kurz seinen Bruder von der Seite an und dessen Anspannung und jähzorniger Blick in Richtung des Generals gefielen ihm nicht. Hoffentlich würde sein Bruder nichts Unüberlegtes tun, flehte er in Gedanken. Spürst du das, Augustin? Ich will nicht, dass du dich in Schwierigkeiten bringst. Bitte Bruder, hör auf mich und überlasse das unserer Mutter. Aber seine Gedanken erreichten ihn anscheinend nicht mehr. Augustin setzte seine Füße in Bewegung und ignorierte das kaum Hörbare: „Nein, tue es nicht.", von François.
Oscar konnte ihre aufgewühlten Gefühle nicht mehr zügeln. Ihr Vater wollte ihr auch François wegnehmen? Nein, das reichte! Niemand hatte das Recht, ihre kleine Familie zu zerstören! Auch wenn ihr Vater das Geheimnis nicht kannte, würde sie trotzdem mit allen Mitteln für ihr Familienglück und ihre Liebe kämpfen! Oscar machte den Mund auf, wollte etwas sagen, als Augustin urplötzlich sich zwischen ihr und ihrem Vater stellte und sie alle mit seinen entschlossenen Worten verblüffte: „Wenn Ihr das machen würdet, Herr General, dann werde ich Euch verfolgen und François mit Marguerite zurückholen! Sie sind meine Familie und ich lasse es nicht zu, dass Ihr sie zerstört!"
Wie, Augustin rebellierte jetzt auch noch? Genauso wie seine Tochter? Das musste sofort unterbunden werden! Reynier warf ihm einen messerscharfen Blick direkt in die Augen zu. „Wenn du das tust, mein Junge, dann werde ich dich in das Drecksloch zurückbringen, wo ich dich gefunden habe! Oder hast du vergessen, wem du dein besseres Leben verdankst?"
Augustin sagte nichts mehr und schluckte seine Wut herunter. Nicht die Drohung seines Großvaters ließ ihn verstummen, sondern die Tatsache, dass er auch seinen Eltern etwas antun könnte. Er erinnerte sich deutlich an das letzte Gespräch mit Graf de Girodel vor zwei Wochen und nur das hielt ihn von einem weiteren Ausbruch ab.
François spürte die Hilflosigkeit und Wut seines Bruders und fühlte sich genauso. Der General lächelte derweilen seinen rebellischen Enkel zufrieden an. „So ist es brav, mein Junge." Dann schaute er zu seiner Tochter und sein Lächeln verschwand. „Also, zwei Tage und nicht mehr!", sagte er im befehlshaberischen Ton und verließ eilends sein Kontor. Er musste unbedingt nach Versailles zurück und dem König noch den Verlust von 500 Gewehren melden. Aber wenigstens würde er ihm zusätzlich sagen können, dass Oscar die Jagd auf den schwarzen Ritter in zwei Tagen aufnehmen würde.
Oscar war wütend auf ihren Vater, weil er es erneut geschafft hatte, sie zu zwingen, sich seinem Willen zu beugen. Gleichzeitig aber durchströmte sie gewisser Stolz. Sie kam auf Augustin zu, legte ihm die Hand auf die Schulter und drehte ihn zu sich um. „Danke dir für deinen Einsatz, das hast du gut gemacht."
„Ihr seid doch meine Familie." Mehr sagte Augustin nicht.
Oscar war von seinen Worten gerührt und sie verspürte erneut den Drang, diesen Jungen in ihre Arme zu schließen. Aber das tat sie nicht. Stattdessen schenkte sie ihm ein warmes Lächeln. „Ja, das sind wir. Du gehörst zu uns und egal, was mein Vater sagt, du wirst bei uns bleiben."
François spürte, wie die Wut und Anspannung seines Zwillingsbruders nachließen und mit Stolz und Freude überdeckt wurde. Wenn seine Mutter nur wüsste, dass Augustin in Wirklichkeit ein Teil dieser Familie war, wie würde sie dann reagieren? Das hätte François gerne gewusst, aber wie Augustin vor zwei Wochen gesagt hatte, für die Wahrheit war noch kein richtiger Zeitpunkt. „Mutter...", begann er, um auf das eigentliche Thema zu lenken und stand schon an der Seite seines Bruders. „Wir können dem schwarzen Ritter eine Falle stellen."
„Was für eine Falle?" Oscar spitzte neugierig ihre Ohren und schenkte ihrem Sohn die ganze Aufmerksamkeit.
„Wir können ihm auflauern, wenn er den nächsten Tross überfällt.", erklärte François nicht ohne Stolz und Augustin fügte hinzu: „Ich finde, dass ist eine sehr gute Idee! So brauchen wir ihn nicht jagen, sondern einfach warten, bis er kommt und können ihn aus dem Hinterhalt angreifen."
„Genau!", meinte François gleich nach ihm. „So braucht Vater sich wegen seiner Verletzung nicht überanstrengen."
Das war in der Tat eine sehr gute Idee! Oscar war stolz auf die beiden Knaben und lobte sie. Zwei Tage später erschien sie in Versailles zusammen mit André und teilte ihren Plan dem Grafen Girodel und den Soldaten der königlichen Garde mit. Oscar beschloss, einen dieser Züge zu begleiten und dem Dieb eine Falle zu stellen. Das hieß, die übriggebliebenen Soldaten von dem letzten Überfall sollten erneut einen Tross, diesmal aus Versailles, bewachen und denselben Weg nehmen, auf dem der letzte Überfall stattgefunden hatte. Der schwarze Ritter würde bestimmt noch dort lauern, weil es einer der meist genutzten Wege für die königlichen Transportzüge war und das versprach für ihn eine sehr gute Beute.
Gleich am nächsten Tag setzten Oscar und ihre Männer ihr Vorhaben in die Tat um. Während der Tross mit Waffen und Schießpulver von den königlichen Soldaten bewacht wurde, folgten Oscar mit André, Girodel und ihre Soldaten der königlichen Garde ihn mit großem Abstand. Sie brauchten nicht lange warten. Mitten auf dem Weg, und dort wo der letzte Überfall stattgefunden hatte, griffen der schwarze Ritter und seine Männer den Tross an. Oscar und ihre Männer sahen das, gaben ihren Pferden die Sporen und griffen die Diebesbande aus dem Hinterhalt an.
„Das ist eine Falle! Rückzug, Männer!", schrie der schwarze Ritter und die Diebe begannen sich zu zerstreuen.
„Girodel, Ihr übernimmt hier die Befehlsgewalt!" Oscar preschte hinter dem schwarzen Ritter her. „Er darf Paris nicht erreichen! Dort kann er uns leichter entwischen!", rief sie zu André, der hinter ihr her folgte und gab ihrem Pferd noch heftiger die Sporen.
„Ich werde versuchen, ihm den Weg abzuschneiden!" André galoppierte zur Seite, machte einen Bogen und schnitt ihm den Weg ab. Der schwarze Ritter zügelte abrupt sein Pferd und Oscar holte ihn ein. Sie zog ihre Pistole. „Ergebt Euch, Ihr seid verhaftet!"
Das beeindruckte den Mann im schwarzen Kostüm und Maske nicht. „Und was macht Ihr, wenn ich weiter reite?"
„Wie bitte?" Oscar war empört und fasste die Pistole noch fester
„Wollt Ihr mich dann erschießen?", fragte der schwarze Ritter höhnisch und lachte gleich darauf grollend. „Das könntet Ihr niemals. Ich reite jetzt weiter. Denn, wie Ihr es Euch sicherlich vorstellen könnt, habe ich zu tun. Lebt wohl."
Das war nicht zu fassen! Er verspottete sie auch noch?! „Ihr bleibt stehen!", befahl Oscar, aber wurde ignoriert.
„Ich muss zugeben, Ihr seid eine der anständigsten Adligen, der ich bisher begegnet bin. Deshalb nehme ich an, dass Ihr nicht so feige sein werdet, einen Unbewaffneten von hinten zu erschießen." Der schwarze Ritter trabte sein Pferd an und passierte André, ohne ihn zu beachten.
„Es kommt ganz auf den Feind an!" Oscar drückte unvermittelt ab und schoss in seine Schulter. „Schließlich ward Ihr es, der Andrés Auge verletzt hat!" Der schwarze Ritter schnappte nach Luft und fiel gleich vom Pferd herunter. Oscar senkte ihre Pistole, stieg aus dem Sattel und ging näher an den liegenden Mann heran. „Solltet Ihr es noch einmal wagen, mich in Versuchung zu führen, dann trifft meine Kugel Euch das nächste Mal ins Herz!"
Auch André stieg von seinem Pferd herunter und war sofort an der Seite seiner Geliebten. „Hast du ihn etwa erschossen?" Zugegeben, er hätte nie gedacht, dass sie wirklich abdrücken würde. Aber anscheinend hatte er sich getäuscht. Oscar war wütend auf den schwarzen Ritter, nicht nur wegen den Raubzügen, sondern größtenteils, weil er ihren Geliebten verletzt hatte. André hockte sich neben dem liegenden Mann und drehte ihn vorsichtig auf den Rücken. Der schwarze Ritter lebte, aber war bewusstlos.
„Nimm ihm die Maske ab, ich will sein Gesicht sehen!", hörte André die Stimme von Oscar und tat es.
Oscar war erstaunt, als das Gesicht vom schwarzen Ritter entblößt wurde und ihre Augen weiteten sich vor Unglauben. „Aber das ist doch Bernard Chatelet, wir sind uns schon mal begegnet! Er war damals oft mit Robespierre im Gerichtssaal zusammen, wo auch Jean de Valois verhört wurde. Und er ist ein Journalist."
