Kapitel 61 – Dieb im eigenen Haus
Die Sache mit dem schwarzen Ritter war erledigt. Bernard schien in der Tat aufgehört zu haben, die Adelshäuser zu bestehlen oder die königlichen Transporte zu überfallen. Wenigstens das beruhigte Oscar, denn es gab andere Sachen, worüber sie sich Sorgen machte: Der Thronfolger Frankreichs, Prinz Louis Joseph, wurde krank und auf ihrem elterlichen Anwesen de Jarjayes verschwanden seit einer Woche Nahrungsmitteln aus der Vorratskammer oder gar direkt aus der Küche. Das war aber nicht der schwarze Ritter, wusste Oscar, weil er nur Schmuck, Geld oder Waffen und andere kostbare Wertsachen gestohlen hatte. Also musste sich der Dieb direkt auf dem Anwesen befinden und womöglich gehörte er zu den Bediensteten. Deshalb ließ Oscar alle Menschen, die auf dem Anwesen arbeiteten und wohnten, sich auf dem Hof an einem schönen Nachmittag versammeln. Auch François und Augustin waren anwesend. Sie standen zusammen mit Marguerite bei der Kinderfrau Marie und wunderten sich über diese Versammlung.
Flankiert von André und Sophie musterte Oscar all die vertrauten Gesichter und konnte sich kaum vorstellen, dass einer von ihnen ein Dieb sein sollte. Seit vielen Jahren, manche sogar seit Jahrzehnten, dienten treu dem Hause der de Jarjayes und niemand von ihnen hätte es jemals gewagt, seine eigenen Hausherren zu bestehlen. Das war das erste Mal, das solches überhaupt passiert war. „Wie ihr es bemerkt habt, geschehen in diesem Haus seit fast einer Woche seltsame Dinge.", begann Oscar laut und mit energischer Stimme zu sprechen. „Die Vorräte in der Vorratskammer werden geraubt und aus der Küche verschwinden Brot, Milch, Salz und Mehl. Das wird zwar in kleinen Mengen gestohlen, aber unsere Sophie entgeht nichts. Auf meine Bitte hat sie eine Liste mit gestohlenen Sachen erstellt." Oscar zeigte die besagte Liste den herumstehenden Bediensteten vor, aber las nichts davon vor, sondern sprach ihre Anforderung aus: „Wer auch immer das getan hat, soll hier und jetzt vortreten! Ich will niemanden von euch verdächtigen, aber mir bleibt keine andere Wahl. Ich will nur wissen, wer das getan hat und aus welchem Grund. Bitte zwingt mich nicht dazu, euch das Gehalt zu entziehen oder euch gar vor die Tür zu setzen und nennt mir den Dieb!"
Niemand antwortete und die unfassbare Stille hing erdrückend in der Luft. Entsetzen, Angst, Unglaube und Fassungslosigkeit zeichneten sich auf allen Gesichtern ab und Oscar tat jeder von diesen Menschen leid. Sie wusste, wie wichtig die Arbeit auf diesem Anwesen für alle hier war – jeder von ihnen hatte eine Familie zu versorgen und brauchte dringend das Geld. Aber sie wollte doch nur herausfinden, wer sie bestahl und musste deshalb so eine grausige Anforderung stellen. Auch André und seine Großmutter konnten sich kaum vorstellen, dass einer von ihnen zu einem Diebstahl fähig war. Sie alle wohnten unter einem Dach, bekamen Essen und Geld, das sie zu ihren Familien an ihren dienstfreien Tagen brachten. Wenn jemanden etwas fehlte, dann konnte derjenige sich getrost an Sophie oder gar an Oscar wenden, und sein Problem wäre dann geregelt. Das wusste jeder in diesem Haus und deswegen war es unvorstellbar, dass jemand so feige war und hinter dem Rücken seine eigenen Hausherren zu hintergehen. Besonders bei einer so gutherzigen und großzügigen Hausherrin wie Lady Oscar und ihren Eltern.
Aber offensichtlich gab es doch jemanden. Entschlossen und zur Überraschung aller, traten Augustin und François vor. „Ihr dürft niemanden bestrafen, denn ich war es!", verlautete Augustin und schaute dabei direkt in die Augen seiner Mutter.
„Und ich habe ihm dabei geholfen.", fügte François selbstsicher hinzu.
Sophie schlug sich erschrocken die Hand vor den Mund. André und Oscar starrten entgeistert auf die zwei Knaben und dachten, es sollte ein schlechter Traum sein. Alle anderen konnten es genauso wenig fassen, dass ausgerechnet die Adoptivkinder von Lady Oscar zu so etwas fähig waren. Aber wieso? Was bewog sie dazu, zu stehlen? Sie hatten doch hier alles bekommen: gutes Essen, ein Dach über den Kopf, Kleidung, Bildung und sogar Liebe und Zuneigung!
Alle Augenpaare wanderten von den Knaben zu Oscar. Was würde sie jetzt tun, nachdem sich die Diebe nun gestellt hatten? Wie würde sie mit ihnen verfahren? François und Augustin waren noch fast Kinder, die gerade zu Erwachsenen heranwuchsen. Würde sie es übers Herz bringen, die zwei vor die Tür zu setzen? Besonders François, den sie vor dreizehn Jahren gefunden hatte und sich um ihn wie um ihr eigenes Kind kümmerte? Das war für viele unvorstellbar, denn der Junge gehörte schon immer zu Oscars Lieblingen und auch der gesamte Haushalt mochte ihn sehr. Ebenso war Augustin ein netter und hilfsbereiter Junge, den viele von hier bereits ins Herz geschlossen hatten.
Oscar konnte vorerst keinen vernünftigen Gedanken fassen. François, ihr über alles geliebter Sonnenschein und Augustin, den sie wie einen Sohn aufgenommen hatte, waren die gesuchten Diebe? Wie ein scharfes Messer schnitt diese Tatsache in Oscars Herz und ließ es bluten. Aber sie beherrschte sich und zeigte nicht nach Außen, dass sie zu tiefst erschüttert war und sich hintergangen fühlte. Das war bestimmt Augustin, der ihren Sohn dazu angestiftet hatte, redete sie sich ein und Enttäuschung machte sich in ihr breit. Sie hatte ihm vertraut, ihn in ihr Herz gelassen und er zerstörte alles! Wie niederträchtig! Er sollte gehen und nie wieder kommen, aber zuvor wollte sie seine Beweggründe erfahren! „Warum habt ihr das getan?", fragte Oscar die beiden Knaben in einem neutraleren und ruhigeren Tonfall als es ihr zu Mute war.
André bewunderte seine Geliebte für ihre Gelassenheit. Er wusste, was jetzt in ihr vorging und fühlte sich genauso hintergangen und enttäuscht von den beiden Knaben wie sie. François war zwar sein Sohn und er liebte ihn genauso stark wie Oscar und Marguerite, aber das Stehlen gehörte definitiv nicht zu den Dingen, die er befürwortete oder ihm jemals beigebracht hätte. Das Gleiche galt auch für Augustin, den er genauso wie seine geliebte Oscar bereits ins Herz geschlossen hatte. Unwillkürlich musste André an Bernard denken. Vielleicht hatten François und Augustin ihn nur nachgemacht? André verwarf diesen Gedanken. Der schwarze Ritter, für den er sich bei Oscar eingesetzt hatte, war eine andere Geschichte. Es müsste bestimmt einen anderen Grund geben, weshalb die beiden Jungen die Nahrungsmitteln stahlen, wo sie eigentlich selbst das üppige Essen seit einer Woche verweigerten und stattdessen nur Brot und Wasser oder Milch verlangten. Das war äußerst merkwürdig und ergab keinen Sinn.
„Ich warte auf eure Antwort!", drängte Oscar und holte André aus seinen Gedanken.
Augustin suchte derweilen nach passenden Worten. Wie konnte er es seinen Eltern erklären, ohne François in Schwierigkeiten zu bringen und auch sich selbst nicht zu verraten?
„Sag ihnen die Wahrheit über Anna.", flüsterte sein Bruder und Augustin verstand. Über Anna zu erzählen bedeutete zwar auch über sich selbst in gewisser Weise die Wahrheit zu offenbaren, aber wenn er sich geschickt anstellte, dann würde vielleicht doch alles gut ausgehen. Er straffte seinen Rücken, sammelte seinen Mut und schaute noch eindringlicher in das Gesicht seiner Mutter, während er die Erklärung für seine Taten abgab. „Vor einer Woche war ich mit François an dem Ort, an dem ich geboren wurde und begegnete dort einer Freundin. Anna ist meine Milchschwester, wir beide wurden von ihrer Mutter aufgezogen. Aber jetzt ist ihre Mutter tot und sie lebt in bitterer Armut. Anstelle von Kleidern trägt sie ausgediente Kartoffelsäcke und anstelle von normalem Essen, wie wir es kennen, bekommt sie nicht einmal das trockene Brot! Sie jagt Mäuse und Insekten um überleben zu können und trinkt Wasser aus Regenpfützen! So ergeht das nicht nur ihr, sondern auch ihren Mitmenschen in dem Dorf. Ich habe das miterlebt, als ich dort gelebt habe. Während wir hier vollen Tisch mit allerlei Speisen haben, sterben viele Menschen an Hungersnot und Krankheiten! Der schwarze Ritter war deren letzte Hoffnung, aber seitdem er aufgehört hat, ist diese letzte Hoffnung gestorben. Ich wollte nur etwas Gutes für Anna tun, denn wir leben hier im Überfluss und haben alles im Gegensatz zu ihr. Warum können wir nicht teilen? Wir haben doch auch ein Herz, oder?", beendete Augustin und erneut herrschte unheimliche Stille.
Armer Junge, dachten sich viele gerührt und verständnisvoll. Augustin hatte niemals und niemanden über seine Vergangenheit erzählt, aber jetzt konnten die Versammelten seine Beweggründe nachvollziehen. Sogar Sophie holte ein Taschentuch und schniefte darein. Wie würde Lady Oscar jetzt mit Augustin verfahren? Würde sie ihm vergeben können? Diese Fragen standen bei allen Bediensteten im Gesicht geschrieben.
„Anna ist ein nettes Mädchen.", unterbrach François die unheimliche Stille. „Sie wollte zuerst nichts von uns nehmen, aber wir haben sie überredet, weil sie die Sachen wirklich braucht. Sie ist diejenige, bei der wir letzte Woche waren und über die ich euch erzählt habe. Mutter, bitte vergib ihm, Augustin wollte nur seiner Freundin helfen."
„Das ist trotzdem kein guter Grund, um zu stehlen.", äußerte sich Oscar mit einem dicken Kloß im Hals und mit unangenehmen Druck in ihrer Brust. Jetzt, wo sie den Grund erfahren hatte, verwandelte sich die Enttäuschung in Entsetzen. Sie kannte ähnliche Armut der Bauern, sie wurde einstmals damit konfrontiert – damals in Arras, als sie einem Bauernjungen das Leben gerettet hatte. Gilbert und seine Eltern ernährten sich nur von Kartoffelschalen, weil die Ernte als Steuer an den königlichen Hof ging und ihnen blieb nichts davon übrig. Damals hatte Oscar sich auch gefragt, warum die Menschen so leiden mussten und beklagte die Ungerechtigkeit, ähnlich wie Augustin jetzt. Warum musste das nur so sein? Hatten die Adligen wirklich kein Herz? Und es gab noch etwas: Augustin war also in dem Dorf gewesen, wo er geboren wurde? Hatte er auch seine Eltern gesehen?
Nein, besagte ihr Gefühl, denn Augustin sah nur sie und André als seine Eltern. Und er hatte erzählt, dass seine Eltern waren ihm genommen worden. Das hieß, dass sie schon längst fort waren und sie hatten ihren Sohn womöglich vergessen. Dieser Gedanke beruhigte Oscar irgendwie. So brauchte sie sich keine Sorgen machen, dass diese Eltern hierher kommen und Augustin holen würden.
„Ihr hättet uns fragen können und nicht gleich stehlen. Ich denke, wir hätten da schon eine Lösung gefunden.", hörte Oscar ihren Geliebten sagen und versuchte die Erinnerung aus Arras und die Gedanken an Augustins Eltern zu verdrängen.
„Du hast Recht, Vater.", entschuldigte sich François für sich und Augustin, der gleich nach ihm reuevoll hinzufügte: „Beim nächsten Mal kommen wir zu euch, versprochen."
André glaubte dem Jungen. „Dann ist das geklärt." Er schaute zu Oscar. „Oder was sagst du dazu?"
Oscar war mit ihm einverstanden und auch dankbar, dass er ihr diese Entscheidung abgenommen hatte. „Richtig.", betonte sie ernst und mit gewisser Mahnung in der Stimme. „Beim nächsten Mal kommt ihr zu mir oder zu André oder zu Sophie und wir schauen, was wir euch für eure Freundin geben können. Das ist auf jeden Fall besser als zu stehlen." Sie entriss den Blick von den zwei Knaben und schaute alle Anwesenden an. „Ich erkläre die Versammlung als beendet. Ihr könnt zu euren Aufgaben zurückkehren."
Mit diesem Kompromiss waren die Brüder selbstverständlich einverstanden und brachten ein „Danke" im Chor raus. Die Bediensteten atmeten auch erleichtert auf und zerstreuten sich. Lady Oscar bewies wieder einmal, wie gutherzig sie war und sie waren auch dankbar, dass sie die zwei Knaben nicht bestrafen ließ. Ein Mann jedoch, der mit seinem Pferd am Rande der hinteren Reihe unentdeckt stand, war einer anderen Meinung. „Ihr solltet Eure Findelkinder trotzdem für den Diebstahl auspeitschen lassen.", empfahl er, als alle Menschen weggingen und er dadurch sichtbar wurde.
„Graf von Fersen?" Oscar war sichtlich überrascht, ihn hier zu sehen und gleichzeitig stutzte sie über seine Empfehlung, aber hieß ihn trotzdem willkommen. „Schön Euch wieder zu sehen."
„Die Freude ist auch meinerseits, Oscar." Von Fersen lachte und kam näher zu ihr, ohne André und die finstere Gesichtsausdrücke von zwei Jungen zu beachten.
„Ihr seid mir willkommen, Graf, aber überlasst die Erziehung der Kinder mir." Oscar bekam ein miserables Gefühl und sie hätte gerne erfahren, warum der Graf ihr eine solche, beispiellose Empfehlung überhaupt gab. Sie wandte sich zu der alten Haushälterin, die im Gegensatz zu den anderen Bediensteten noch immer an ihrer Seite stand. „Sophie, bring bitte Wein für mich und unseren Gast in meinen Salon."
„Natürlich, Lady Oscar." Sophie verschwand sogleich im Haus und Oscar deutete Graf von Fersen, dass er mit ihr kommen konnte.
„Ich danke Euch für Eure Gastfreundschaft, Oscar." Graf von Fersen drückte die Zügel seines Pferdes André in die Hand, ohne ihn anzusehen und ging zusammen mit Oscar in das Haus.
André plagte sofort eine gewisse Eifersucht und Zorn wegen den Worten des Grafen bezüglich François und Augustin. Was fiel ihm ein, zu sagen, dass die beiden ausgepeitscht werden mussten?! Das Gleiche fühlten und fragten sich die Zwillingsbrüder. „Ich mag den Grafen nicht.", sagte François, als er zusammen mit Augustin seinem Vater in den Stall folgte.
„Ich auch nicht.", bekräftigte Augustin in abfälligem Tonfall.
André band das Pferd des Grafen draußen vor dem Stall fest und schenkte seine Aufmerksamkeit den beiden Jungen. Einerseits war er angetan, dass sie offensichtlich die gleichen Gefühle bezüglich des schwedischen Grafen teilten wie er, aber andererseits machte es ihn stutzig. „Wieso nicht? Hat er euch etwas getan?"
„Als ich kleiner war und ihn zum ersten Mal gesehen habe, saht Mutter und du sehr traurig aus. Dann war er nach Amerika fort und ihr ward wieder glücklich.", erzählte François leicht betrübt
„Verstehe." André staunte, dass der Junge sich daran erinnern konnte, denn er war damals erst fünf Jahre alt gewesen. „Nun, ich kann dich beruhigen, sie sind nur Freunde." Damit versuchte er auch sich selbst zu beruhigen und schaute zu Augustin. „Und weshalb magst du ihn nicht?"
Augustin hob und senkte seine Schultern. „Weil, wenn er da ist, schiebt François Trübsal und das gefällt mir gar nicht."
„Das stimmt nicht, ich schiebe keinen Trübsal.", verteidigte sich François. „Mir gefällt es nur nicht, wenn er mit Mutter alleine ist." Er sah zu André. „Dir doch auch nicht, oder Vater?"
Da musste André ihm recht geben und lächelte matt. „Wisst ihr was? Damit ihr beruhigt seid, gehe ich zu ihnen und schaue, was sie machen. Wäre das was?" Innerlich fragte er sich jedoch, warum er nicht gleich mit Oscar und dem Grafen mitgekommen war.
François und Augustin nickten zustimmend und als André ging, bekam Augustin eine einfallsreiche Idee, dem schwedischen Grafen einen Streich zu spielen. „Kennst du noch das Schlangennest, das wir vor ein paar Tagen im Garten entdeckt hatten, Bruderherz?"
„Natürlich!" François erinnerte sich an dieses Schlangennest. Das waren immer dieselben Schlangen, die jedes Jahr in der Nähe vom Gartenteich nisteten. Allerdings bekam François ein eigenartiges Gefühl. Was hatte sein Bruder vor? „Aber wieso fragst du, Augustin?"
„Komm mit!" Augustin setzte seine Füße in Bewegung und zog dabei ein diabolisches Grinsen. „Ich lasse es nicht zu, dass irgendein Graf aus Schweden unsere Familie zerstört!"
