Die unheimliche Stimme
Am folgenden Tag war Severus durchaus darauf bedacht, Charity und Minerva aus dem Weg zu gehen. Er hoffte einfach, dass die beiden seine Entgleisung nicht weitergetratscht hatten. Allein der Gedanke an das Gespräch, welches er unter dem Einfluss des Plappertrankes mit Charity geführt hatte, trieb ihm die Schamröte ins Gesicht.
Wie hatte er bloß einfach die Wirkung, die das Gebräu schon bei der Herstellung auf den wachen Geist hatte, derartig unterschätzen können? Immerhin fiel der Trank doch in dieselbe Kategorie wie Veritasserum, welches zu Recht strengen Beschränkungen unterlag.
Wie dem auch sei, in ein paar Monaten würde Gras über die Sache gewachsen sein ...
"Severus, warte doch!", rief eine wohlbekannte Stimme, die er nicht hören wollte. Er probierte es mit Ignorieren. Vergeblich.
Charity hatte ihn schnell eingeholt.
"Du lieber Himmel, ich such dich überall!", rief sie atemlos. "Minerva ist schon richtig besorgt. Hör mal, es gibt was zu besprechen. Komm doch mal eben mit!"
Ein wenig respektlos zuppelte sie an seinem Robenärmel herum und versuchte ihn in Richtung Lehrerzimmer zu dirigieren.
Widerwillig folgte er ihr, bis sie so plötzlich stehen blieb, dass er sie beinahe angerempelt hätte.
"Sag mal, du warst doch nicht etwa wirklich auf der Flucht vor uns?"
Severus sagte nichts, aber das leichte Rosa seiner Wangen war Antwort genug. Charity verzog das Gesicht zu einem dreckigen Grinsen.
"Nicht dein Ernst?"
Severus zuckte mit den Schultern. Das wurde irgendwie gerade immer schlimmer.
"Wie kann man denn so verklemmt sein?", fragte Charity und sah ehrlich interessiert aus.
"Ich bin nicht verklemmt", begehrte Severus zaghaft auf.
Charity lachte hell auf.
"Doch, das bist du! Aber wenn dir das so gegen den Strich geht, dann vergessen wir's einfach. Meine Güte, das war lustig! Ich hab Minerva lange nicht mehr so herzlich lachen hören."
"Wer hat sich denn noch alles drüber totgelacht?", hakte Severus argwöhnisch nach. Mittlerweile gingen sie weiter und das Lehrerzimmer war nicht mehr weit.
"Ich hab einen Aushang am Schwarzen Brett gemacht ...", sie feixte. "Niemand natürlich! Wir sind doch Freunde."
Ein Stein der Erleichterung fiel Severus vom Herzen und als sie den völlig überheizten Raum betraten, vermochte selbst die Anwesenheit von Gilderoy Lockhart, seine Laune nicht mehr zu trüben.
"Da sind ja unsere Turteltauben!", frohlockte das Übel in Lila. "Minerva hat darauf bestanden, auf euch zu warten."
Er breitete die Arme aus als begrüße er einen lange verschollen geglaubten Sohn. Minerva starrte angesäuert vor sich hin und Filius kämpfte mit einem hartnäckigem Husten.
"Wir müssen uns noch eine angemessene Strafe für unsere jungen Hasardeure ausdenken", flötete Locke. "Jaja, die Jugend, die Jugend ..."
"Wieso wir?", blaffte Severus.
Locke stutzte kurz, hatte sich aber schnell wieder gefangen.
"Minerva machte so einen ratlosen Eindruck, da habe ich mir erlaubt, ein wenig behilflich zu sein."
"Reizend", knurrte Snape.
"Neinnein, ganz selbstverständlich! Ich helfe doch, wo ich kann. Um den jungen Potter werde ich mich wohl selber kümmern. Da sehe ich echtes Potenzial ..."
Severus' Augenbrauen wanderten zum Haaransatz, er sendete Minerva ein diabolisches Grinsen und fand die Idee von Locke gar nicht so übel.
Das würde Potter aber so richtig stinken. Wunderbar! Gilderoy schwadronierte ungerührt weiter.
"Der gute Argus Filch, der übrigens ein großer Fan von mir ist, hat einen schlimmen Arm. Ich denke, Ronald Weasley könnte ihm beim Polieren der Pokale zur Hand gehen."
Gilderoys Dämonenfeuer-Lächeln strahlte durch das Lehrerzimmer.
Severus fand durchaus, dass das der gerechte Ausgleich dafür war, dass Gryffindor nicht ein einziger Punkt abgezogen worden war.
Minerva würde es verschmerzen und irgendwann konnten sie es Locke heimzahlen, dass er sich einfach so eingemischt hatte. Ihnen würde schon was einfallen, da hatte Severus keine Sorgen. Da sag Einer, es gäbe keine Gerechtigkeit in der Welt.
Severus war erstaunt wie gut es ihm tat, dass die Sache mit dem Plappertrank aus der Welt zu sein schien. Er musste sich eingestehen, dass der die Gesellschaft von Minerva und Charity in nächster Zeit doch extrem vermisst hätte und er dachte an die Jahre, die er nun auf Hogwarts war und in denen einzig das letzte einen Lichtblick darstellte.
Andererseits hatte die Sache mit den Freundschaften natürlich den entscheidenden Nachteil, dass man ihren Verlust um so mehr fürchtete.
Bei einem kurzen Abstecher in den Gewächshäusern erfuhr er, dass er sein Bäumchen schon in einigen Tagen wieder in seine Kerker holen konnte. Eigentlich lief es Alles in Allem gar nicht so schlecht.
Er hatte den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, da landete eine ziemlich große Schleiereule genau zu seinen Füßen und er war erstaunt, wie blasiert so eine einfache Posteule tun konnte, aber diese war eindeutig eine Eule der Malfoys. Mit einem gurrenden Ton, der eher zu einer Taube gepasst hätte hielt sie ihn dem Fuß mit dem Pergament hin und Severus hätte wetten können, dass sie es genoss, dass er niederknien musste, um an den Brief zu kommen.
Natürlich war der Brief von Lucius. In knappen Worten erklärte er, dass er es nicht weiterhin ertragen könne, dass die Slytherins im Quidditch verlieren würden und dass er deshalb selbiger Mannschaft einen Satz hochwertiger Besen zukommen lassen wolle. Natürlich sollte Draco Sucher werden.
Nichts ist umsonst im Leben und Severus konnte Flints Gesicht schon bildhaft vor sich sehen. Der Mannschaftskapitän hatte den jungen Malfoy schon mehrfach abgewiesen. Nun würde er in den sauren Apfel beißen müssen, oder es gab keine Besen.
Severus setzte auf die Vernunft von Flint, aber in Dracos Haut wollte er nicht stecken.
Der würde jetzt ehrlich üben müssen. Seine Flugkünste waren in Ordnung, zum Quidditch spielen aber lange nicht ausreichend. Severus feixte. Es kann grausam sein, wenn Wünsche in Erfüllung gehen. Mit bester Laune schrieb er seinen Jungs eine Bescheinigung, dass sie das Quidditchfeld nutzen durften. Je eher sie anfingen, zu üben, desto besser. Minerva würde dumm gucken. Wenn es um Qidditch ging, verstand sie überhaupt keinen Spaß.
Sieben nagelneue Nimbus zweitausendeins — Severus schüttelte den Kopf. Draco musste wirklich ganz schön genervt haben, in den Ferien. Sah nach purer Freude aus, Kinder großzuziehen.
Froh, solche Dinge nicht aus eigener Erfahrung zu kennen, brach Severus zu einem kleinen Spaziergang auf. Das würde ihm gut tun.
Vor der Hütte von Rubeus Hagrid verweilte er kurz. Die Kürbisse hatten bereits recht ungesunde Ausmaße angenommen und Severus argwöhnte, dass Hagrid nun doch mit Schwelltrank experimentierte, obwohl das im traditionellen Hogwarts Wettbewerb um den dicksten Kürbis, verboten war.
Die Tür des Wildhüterquartiers öffnete sich.
"Tee, Snape?", ertönte die brummige Stimme und Fang, der Saurüde galoppierte freudig schwanzwedelnd, kläffend und wie gewohnt Sabberfäden verlierend, auf Severus zu. Der raffte vergebens seinen Umhang zusammen. Schon zierten Dreckpfoten und Glibber das Kleidungsstück. Merlin sei Dank gab es Hauselfen.
Trotzdem war die Einladung zum Tee eine willkommene Ablenkung. Im Kamin der Hütte prasselte ein Feuer, es war angenehm warm, auch wenn nicht anzunehmen war, dass Hagrid mal wieder ein Drachenei ausbrütete.
Auf dem riesigen Tisch mit der rot-weiß-karierten Tischdecke stand eine Schüssel mit Felsenkeksen.
"Zugreifen!", befahl Hagrid, aber Snape konnte sich eben noch beherrschen.
Bald hatte er eine Tasse von den Ausmaßen eines Eimers mit dampfendem Tee vor sich stehen, an der er sich die Finger wärmen konnte.
Hagrid hatte scheinbar auch schon kollegialen Besuch von Lockhart über sich ergehen lassen müssen. Allerdings äußerte er sich zuerst nur vorsichtig, wobei der Unmut aber deutlich spürbar war.
"Locke ist ein Idiot", knurrte Snape und nippte am Tee. In Hagrids Gesicht ging die Sonne auf.
"Ganz meine Meinung, ganz meine Meinung", bestätigte er eifrig und berichtete, wie Lockhart ihn über die artgerechte Behandlung der Thestrale hatte aufklären wollen. Hagrid lachte breit als er den fetten Sabberfaden von Fang beschrieb, der Locke schließlich in die Flucht geschlagen hatte.
"Wusste ja nicht, wie Sie zu ihm stehen", schloss er beinahe entschuldigend.
"Bitte?", fragte Severus einigermaßen konsterniert nach.
"Na ja, Sie waren doch bei seiner Autogrammstunde, damals in der Winkelgasse ..."
Snape musste lachen und Hagrid beobachtete ihn argwöhnisch wie etwas Hochexplosives.
"Nein, das war Zufall", beteuerte Snape. "Ich hatte da einen Termin und der hatte definitiv nichts mit dem lila Hohlkopf zu tun. Ich wusste gar nichts von der Autogrammstunde."
"Hätte mich auch gewundert, aber man weiß ja nie. Ruckzuck ist man in 'nen Fettnapf getreten."
Hagrid zwinkerte ihm zu, was ihn nun auch wieder ein wenig irritierte. Die Vorstellung wie er sich von Lockhart ein Autogramm geben ließ, bereitete ihm akute Übelkeit.
"Dann kennt sich der geschätzte Kollege also auch mit phantastischen Tierwesen aus ... was macht eigentlich Fluffy?"
"Och, das ist doch'n ganz Lieber!", sagte Hagrid. "Den hab ich im Wald laufen lassen, da fühlt er sich ja wohl. Anders als in dem engen Korridor und dann auch noch angekettet."
Severus rieb sich abwesend auf seiner Wade herum, auf der er ein dauerhaftes Andenken an Hagrids Schoßhündchen deutlich fühlen konnte.
"Lockhart würde bestimmt liebend gern mit ihm Gassi gehen", sinnierte Snape.
"Nee, der Arme verdirbt sich ja den Magen. Das ist nicht gut für so'n Tier."
Eins musste man Albus auf jeden Fall lassen. Die Einstellung von Gilderoy Lockhart hatte eine eindeutig harmonisierende Wirkung auf den Rest des Kollegiums. Filch konnte einem noch ein wenig Sorgen bereiten, aber das würde sich bestimmt auch noch legen.
"Du hast auch deine Lieblingsschüler knapp verpasst", brummte Hagrid.
Severus zog fragend eine Augenbraue hoch.
"Na, Harry, Ron und Hermine!"
Severus stöhnte. Die durfte er zur Genüge im Zaubertrankunterricht genießen. Das musste nun wirklich nicht noch in seiner Freizeit haben. "Und?", fragte er trotzdem pflichtschuldig.
"Hermine war'n bisschen geknickt. Hatte Ärger mit Malfoy ..."
Kindereien, dachte Severus und verdrehte die Augen.
"... hat sie als Schlammblut beschimpft!"
Severus erstarrte. Der Bengel hatte bitte was? Hagrid interpretierte Snapes fragenden Blick völlig falsch.
"Ich mein, sind ja Kinder ...", wiegelte er ab.
"Wann?"
"Na gerade eben. Gab Streit auf dem Quidditchfeld, ein Wort gab das Andere, und du weißt ja wie sie sind ..."
Gar nichts wusste Severus und er wollte auch nichts wissen. Er war außer sich. Er konnte noch nicht mal sagen, warum ihn das so aufregte, aber er würde sofort mit Albus darüber sprechen! Er verabschiedete sich knapp von einem komisch aus der Wäsche guckenden Hagrid und rauschte mit wehendem Umhang hinauf zum Schloss.
In der Großen Halle stockte er als Minerva McGonagall ihn schnarrend mit seinem kompletten Namen anredete. Das verhieß im Allgemeinen nichts Gutes. Forschen Schrittes kam sie auf ihn zu, die Fäuste in die Hüften gestemmt.
"Severus Snape! Ich kann mir das vorstellen, dass es dir gegen den Strich geht, dass Gryffindor besser Quidditch spielt als Slytherin, aber das geht wirklich zu weit! Wenn meine Mannschaft trainiert, dann wird das gefälligst nicht boykottiert!"
"Das Quidditchfeld ist ja wohl groß genug! Beim Spiel passen ja auch zwei Mannschaften drauf!", mokierte Severus sich. Zwei Erstklässler aus Hufflepuff suchten verschreckt das Weite. "Außerdem muss ich dringend zu Albus, weißt du, ob er da ist?"
Minerva war augenscheinlich kurz davor, mit dem Fuß aufzustampfen.
"Das ist wieder mal typisch für dich. Wenn's unangenehm wird, dann wechselst du das Thema! Wir reden da noch drüber!"
"Jaja", brummte Snape und ließ Minerva einfach stehen. Er gerade wirklich keinen Sinn für diesen Häuser- und Quidditchblödsinn.
Mit langen Schritten rauschte er weiter, den Gang entlang, bis vor die Wasserspeier.
"Lakritzschnecke", fauchte er und mit sanftem Knirschen schwangen die Gargoyles zur Seite und gaben den Weg zur magischen Wendeltreppe und in Dumbledores Büro frei.
Dort herrschte wie immer diese angespannte Ruhe, die Severus so zuwider war. Die skurrilen, magischen Gerätschaften auf den storchenbeinigen Tischchen surrten und zischten und stießen in regelmäßigen Abständen Rauch aus. Der Direktor war nicht anwesend. Die Porträts der ehemaligen Schulleiter beachteten ihn nicht. Die meisten schliefen, nur Phineas Nigellus rief mit näselnder Stimme: "Er kommt gleich. Geduld, junger Mann und nichts kaputtmachen!"
Severus hätte schreien können. Wie ein Tiger im Käfig rannte er auf und ab und wirklich, nach wenigen Augenblicken erschien Albus mit seinem Nerven zerfetzendem Lächeln und wies Severus an, sich zu setzen. Widerwillig kam er dem nach, es fiel ihm schwer, stillzuhalten, wenn er sauer war. Und er war stocksauer und das war noch untertrieben.
"Draco Malfoy hat eine andere Schülerin als Schlammblut bezeichnet", platzte er sofort heraus. "Ich werde umgehend die Eltern darüber informieren und er wird nachsitzen ..."
Barsch unterbrach Albus ihn.
"Nichts dergleichen wird geschehen! Habe ich mich klar ausgedrückt?"
Severus war kurzfristig völlig aus dem Konzept gebracht.
"Wie bitte?", fragte er dümmlich und dachte noch, er hätte sich verhört.
Albus fixierte ihn mit seinen strahlend blauen Augen und Severus verspürte ein beklommenes Gefühl. Es war ihm als würde er geröntgt.
Albus sprach sehr leise und sehr verständnisvoll.
"Ich dachte, wir wären uns einig, dass es von Wichtigkeit ist, sich mit Lucius Malfoy gut zu stellen. Sie müssen sich gut stellen, mit Lucius. Das kann doch nicht so schwer zu verstehen sein."
"Aber der junge Malfoy hat ..."
"Draco ist ein dummes Kind!", schnitt Albus ihm das Wort ab. "So wie Sie eins waren. Übertreiben Sie es jetzt nicht mit ihren Rachegelüsten. Das könnte sich ungünstig auf Ihre Reputation auswirken."
"Bei wem?", fragte Snape.
"Severus, sein Sie nicht so hart und halten Sie Lucius Malfoy da raus."
"Ist das eine dienstliche Anweisung?"
Severus war nicht gewillt, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Allerdings hatte er wohl keine Wahl. Albus sprach noch immer mit überfreundlichem Tonfall.
"Ja, Severus, das ist eine dienstliche Anordnung und ich gehe selbstverständlich davon aus, dass sie befolgt wird. Übrigens, wie sieht es mit ihren Bemühungen in puncto Okklumentik aus?"
Severus war mit dieser Frage augenblicklich der Wind aus den Segen genommen, denn seine Bemühungen waren leider nichts weiter als Bemühungen. Der Erfolg war eher bescheiden. Und wenn er ehrlich war, hatte er schon wochenlang nicht mehr geübt.
"Warum?", fragte er und ärgerte sich, dass seine Stimme unsicher klang.
Albus grinste breit.
"Weil Sie ihre Übungsstunden mit Mrs Burbage wieder aufnehmen werden. Ich habe eben mit ihr gesprochen und Sie können gleich heute Abend beginnen. Sie haben doch sicher nichts Wichtiges vor."
Severus hatte nicht übel Lust, eins oder mehrere der kitschigen, storchenbeinigen Tischchen an die nächstbeste Wand zu werfen. Vielleicht in Richtung von Phineas Nigellus' Porträt, das unverhohlen feixte.
"Gehe ich recht in der Annahme, dass es sich auch dabei um eine dienstliche Anweisung handelt?", fragte er mühsam beherrscht.
"Oh ja, in der Tat!", lachte Albus. "Sie sollten sich beeilen, damit Sie vorher noch einen Happen essen können. Die Pastete ist vorzüglich!"
Severus war der Hunger gründlich vergangen. Er verabschiedete sich mit steinerner Miene und begab sich in seine Kerker. Er musste wenigstens einigermaßen zur Ruhe kommen, bevor er sich von Charity in seinem Geist herumkramen lassen durfte. Das Ergebnis wäre ansonsten höchstwahrscheinlich verheerend. Ihm war zum Heulen zumute. Wie ein Stück Schlachtvieh betrat er den speziellen Übungsraum ohne Möbel. Ihm war übel.
Severus brachte mühsam seine hektische Atmung unter Kontrolle, die schwarzen, steinernen, schmucklosen Wände der Zelle sollten die Konzentration erleichtern. Nun wirkten sie ausschließlich bedrückend.
Charity ließ ihn nicht lange warten. Die Tür knarrte gruselig und laut. Die Scharniere mussten dringend geölt werden.
"Oha", sagte Charity. "Da hat jemand nicht geübt und nun plagt das schlechte Gewissen!"
Sie lächelte und stellte den mitgebrachten Korb auf den Boden. Unter den Arm hatte sie einen ziemlich dicken Wälzer geklemmt.
Mit flinken Händen hatte sie den Inhalt des Korbes auf dem Boden ausgebreitet. Teller mit Pasteten, Kuchen, einigen belegten Broten und Schälchen mit Pudding. Dazu einen Krug voll eisgekühltem Kürbissaft. Trauben und Käse. Im Nu hatte der Raum alles Bedrohliche verloren, es sah mehr aus wie eine Picknickwiese. Charity fläzte sich auf dem Boden.
"Los, iss was!", befahl sie und als ein Teil der Anspannung von Severus abgefallen war, kam er dem gerne nach. Er hatte einen Bärenhunger.
"Ich hab in den Ferien ganz interessante Dinge herausgefunden", berichtete sie. "Einmal hab ich hier ein wenig leichte Lektüre für dich. Das Kapitel, das du bis ... sagen wir, nächste Woche durcharbeiten solltest, ist mit einem Lesezeichen markiert."
Sie reichte ihm den fetten, ledergebundenen Schinken, den sie mitgebracht hatte.
Severus blätterte ein wenig herum, peinlichst darauf bedacht, keine Krümel im Buch zu verlieren. Es schien sich um ein Standartwerk über das Thema zu handeln.
"Ich hab das doppelt, du kannst es also behalten."
"Danke schön", sagte Snape und blätterte sich durch ein Kapitel, in dem es über den Zusammenhang von Dementoren und Imperiusflüchen ging. Gruselig!
"Das ist ein Lehrbuch aus Durmstrang, dort werden zumindest die Grundzüge der Sache in der Schule behandelt. Das wird hier ja leider versäumt."
"Wie bist du eigentlich an dieses Spezialgebiet geraten?", fragte Snape.
"Na ja, irgendwas muss man ja können", antwortete Charity ausweichend. Severus hatte schon oft gefragt und noch nie eine Antwort bekommen.
"So", sagte Charity nach einigem Geplauder. "Nun üben wir aber noch ein bisschen."
Flink räumte sie die Reste des Nachtmahls zusammen. Snapes Eingeweide zogen sich zusammen und er bereute, etwas gegessen zu haben.
Momente später standen Severus und Charity einander gegenüber.
"Legilimens", sagte sie leise und emotionslos und augenblicklich wirbelten bunte, zerrissene Bilder durch Snapes Geist. Der heutige Tag, Draco Malfoys Impertinenz und dann er selbst vor vielen Jahren ... nach den ZAG-Prüfungen ... die Rumtreiber, Lily ...
"Na so ein Pech, Krone", sagte Sirius belustigt und wandte sich wieder Snape zu. "Oh!"
Doch zu spät; Snape hatte seinen Zauberstab direkt auf James gerichtet, es gab einen Lichtblitz und über eine Seite von James' Gesicht zog sich eine klaffende Wunde, aus der Blut auf seinen Umhang spritzte. James wirbelte herum: Einen Lichtblitz später hing Snape kopfüber in der Luft, der Umhang war ihm über den Kopf gerutscht und man konnte magere, bleiche Beine und eine angegraute Unterhose sehen.
Viele in der kleinen Schar der Umstehenden johlten. Sirius, James und Wurmschwanz brüllten vor Lachen.
Lily, in deren wütender Miene es einen kurzen Moment gezuckt hatte, als wollte sie lächeln, sagte: "Lass ihn runter!"
"Klar doch", sagte James und ließ seinen Zauberstab hochschnellen. Snape stürzte und sackte auf dem Boden zu einem zerknitterten Häuflein zusammen. Er befreite sich aus dem verhedderten Umhang und rappelte sich schnell hoch, den Zauberstab erhoben, doch Sirius sagte: "Petrificus Totalus!", und Snape kippte erneut vornüber, steif wie ein Brett.
"LASST IHN IN RUHE!", schrie Lily. Sie hatte nun ihren eigenen Zauberstab gezückt. James und Sirius beäugten ihn argwöhnisch. "Ah, Evans, zwing mich nicht, dich zu verhexen", sagte James ernst.
"Dann nimm den Fluch von ihm weg!"
James seufzte schwer, wandte sich Snape zu und murmelte den Gegenfluch.
"Na bitte", sagte er, als Snape aufstand. "Du hast Glück, dass Evans hier ist, Schniefelus —"
"Ich brauch keine Hilfe von dreckigen kleinen Schlammblüterinnen wie der!"
Lily blinzelte.
"Schön", sagte sie kühl. "In Zukunft ist es mir egal. Und an deiner Stelle ..."
Charity hatte sehr plötzlich den Zauber von ihm genommen. Severus war auf die Knie gegangen, ohne es zu merken. Er blickte zu Boden, ein Vorhang aus fettigen Haaren verbarg sein Gesicht. Bis auf Snapes rasselnden Atem war es totenstill im Raum.
"Lass mich allein", bat er. Charity reagierte nicht. Ihm war speiübel und es kostete ihn Einiges an Konzentration, ihr nicht sein Nachtmahl vor die Füße zu spucken.
Diese verfluchte Idee von Albus, er schüttelte den Kopf — er würde es nie lernen! Er wollte auch nicht. Fahrig wischte er sich mit dem Ärmel übers Gesicht. Vorsichtig blickte er auf. Charitys Miene war völlig unbewegt.
"Du bist bestraft worden, für den Sectumsempra. Ich kann mich daran erinnern."
Snape nickte steif. Charity rührte sich nicht und langsam beruhigte sich Snapes Atmung und die Übelkeit flaute ab, nicht jedoch das bohrende Gefühl der Scham, der Erniedrigung und der tiefen und durch nichts zu lindernden Trauer.
Charity blickte weiter auf ihn herab. Ihm schmerzten die Knie.
"Du wirst mit niemandem darüber sprechen ...", ein Flehen. "Auch mit Minerva nicht!"
"Wie du willst", sagte Charity sanft.
Mit Grauen dachte er daran, dass er weiter üben musste. Ein "Ich will nicht", würde den Direktor nicht beeindrucken. Und zu der Verzweiflung gesellte sich Trotz.
Charity streckte ihm die Hand hin, um ihm aufzuhelfen und er ergriff sie bereitwillig. Seine Knie würden morgen grün und blau sein.
Bevor Severus zu Bett ging, versuchte er einmal mehr, seinen Geist von allen Emotionen zu befreien. Er war erschöpft. Es war ein anstrengender Tag gewesen, und schnell schlief er ein.
Dennoch hatte er das Gefühl, sich in einem seltsamen Zwischending, nicht Traum, nicht Tod zu befinden. Er schwebte im Nichts, ein leichter Schwindel, absolute Dunkelheit, aber dann weit entfernt, ein hoher Turm eines Schlosses, und natürlich, das waren die Zinnen des Astronomieturms, die sich abhoben gegen den Himmel, der kein Himmel war.
Eine unheimliche Stimme, die von nirgendwo herkam, die überall war, drang an seine Ohren.
"Sie waren in seinem Geist. Es war Zufall, dass ich Sie finden konnte. Die Erinnerung war gut verborgen, aber sehr stark."
Ein schauerliches Lachen und ein gleißender, unbändiger Schmerz. Er wollte, er musste etwas sagen, aber seiner zerfetzten Kehle entrang sich nur ein fürchterliches Gurgeln. Dann war Stille.
