Liebe, Lüge, Wahrheit

Kapitel 65 – Neuer Dienst

Paris, April 1788. Die große Stadt wimmelte nur so von Menschen mit unterschiedlichen Titeln, Rängen und Status: Arbeiter, Obdachlose, Verbrecher, wohlhabende Bürger und Aristokraten. Jeder von ihnen ging seinen eigenen Tätigkeiten nach und beachtete die vier Reiter in blauen Uniformen nicht, die durch die Straße von Paris in Richtung einer Kaserne ritten.

Eine Gruppe von Tauben flog zu der mächtigen Kathedrale Notre Dame de Paris, dessen majestätische Türme schon in der Ferne zu sehen waren. Aber der Weg der vier Reiter lag in einer anderen Richtung, die nicht einmal ansatzweise in der Nähe der Kathedrale vorbei führte. Sie bogen an einer Kreuzung ab, passierten einen kleinen Markt, überquerten ein paar Brücken und erreichten ihr Ziel. Die Sonne stand bereits oben und der wolkenlose Himmel verhieß keine Niederschläge. Aber das konnte sich noch ändern. Der Tag hatte gerade erst begonnen und es konnte noch vieles geschehen. Wie zum Beispiel die Begegnung mit Alain und Georges. Wegen Alain machte sich Augustin keine Gedanken. Wegen Georges dagegen umso mehr. Noch gestern war er mit François bei Anna in dem Dorf gewesen und hatte ihr über den neuen Dienst ihrer Eltern in der Söldnertruppe bei Paris erzählt. Und auch, dass sie, die Zwillinge, ihre Mutter als Soldaten begleiten würden. Anna sagte darauf, dass ihr Vater am 1. April auch in der Kaserne sein musste, weil er und seine Kameraden einen neuen Befehlshaber bekamen und bat die Brüder wegen Georges vorsichtig zu sein.

„Vielleicht sind sie in einer anderen Kaserne...", sagte François leise zu seinem Bruder, um ihm und auch sich selbst etwas Hoffnung zu geben. Er und Augustin ritten hinter ihren Eltern und etwas aus deren Hörweite entfernt.

Augustin schüttelte verneinend mit seinen dunkelblonden Locken. „Das bezweifle ich... Wir müssen mit Alain reden und mit seiner Hilfe Georges dazu bringen, den Mund bezüglich uns und unseren Eltern zu halten."

François machte den Mund auf, um seinem Bruder zu antworten, als ihre Eltern sich im Sattel umdrehten und zu ihnen schauten. „Worüber unterhaltet ihr euch so leise?", fragte Oscar.

„Sie sind bestimmt aufgeregt, weil sie zum ersten Mal in die Kaserne kommen und Soldatendienste erweisen müssen.", vermutete André.

„Wenn es nach mir ginge, würde ich sie lieber Zuhause lassen...", erwiderte Oscar schwer seufzend und drehte sich wieder um.

„Ich auch, aber leider können wir nichts gegen den Befehl deines Vaters tun." André tat es ihr gleich und die Zwillingsbrüder atmeten erleichtert auf, weil sie auf die Frage ihrer Mutter nicht antworten mussten.

Sie passierten das Eisentor und die Herzen der beiden Knaben schlugen noch aufgeregter. Konzentriert beschauten sie sich die Wachen am Tor und ebenso die Soldaten, die ihnen entgegenkamen, um die Zügel der Pferde zu nehmen. Keiner der Männer waren den beiden Knaben bekannt, aber das beruhigte die zwei Brüder trotzdem nicht. Die Soldaten hielten die vier Pferde bei den Zügeln, während ein graues Pferd zu ihnen geführt wurde.

Ein nobler Offizier, mit einem großen Schnurrbart und einer grauen Perücke auf dem Kopf, kam aus dem Hauptgebäude und salutierte vor Oscar. „Mein Name ist Leutnant Dagous. Ihr seid rechtzeitig angekommen, Oberst de Jarjayes. Die Soldaten sind schon alle auf dem Exerzierplatz versammelt, um Euch und Eure Begleiter zu begrüßen."

„Ich danke Euch, Leutnant Dagous." Oscar wartete, bis Leutnant Dagous auf sein graues Pferd stieg und ritt dann gemeinsam mit ihm zum Exerzierplatz. André, François und Augustin folgten den beiden mit etwas Abstand.

Der Exerzierplatz war groß und die Soldatentruppe auch. In langen Reihen aufgeteilt, salutierten sie alle zusammen wie auf Kommando, sobald sie ihren Oberst und den neuen Befehlshaber sahen. Zwei von ihnen in der ersten Reihe jedoch rissen überrascht die Augen auf, als deren Blick auf die zwei Knaben fiel. François und Augustin bemerkten die beiden Soldaten auch – besonders den, mit dem roten Halstuch und versuchten ihre innerliche Aufregung im Keim zu ersticken.

„Soldaten!", verlautete Leutnant Dagous im festen und lauten Ton: „Hier ist euer neuer Befehlshaber!" Er verstummte und Oscar sprach mit ihrer hohen Stimme weiter: „Mein Name ist Oscar François de Jarjayes! Ab heute bin ich euer neuer Kommandant und meine drei Begleiter sind eure neue Kameraden!" Sie wandte den Kopf nach links und obwohl ihre Mundwinkeln leicht nach oben zuckten, blieb ihr Gesicht ernst. „André, François, Augustin, ihr könnt absteigen und euch zu euren neuen Kameraden aufreihen."

„Jawohl.", sagte die drei im Chor, stiegen von ihren Pferden ab und stellten sich nebeneinander vor die erste Reihe.

„Sehr gut!", lobte Oscar kurz angebunden und ließ ihren Blick über die Köpfe der neuen Truppe wieder schweifen. Das war eine ganz andere Sorte von Soldaten, als sie sie in Versailles kannte. In Versailles wurden nur Männer aus adliger Herkunft als Soldaten aufgenommen, hier hingegen stammten sie allesamt aus dem einfachen Volk. Oscar störte das keineswegs. Sie war entschlossen und bereit, sich dieser neuen Herausforderung zustellen. „Und jetzt beweist ihr mir euer Können, indem ihr mir eure Fechtkünste zeigt! Also nehmt eure Schwerter, sucht euch einen Partner aus und tretet gegen ihn an!"

Niemand reagierte. Die missfälligen Gesichtsausdrücke zeigten deutlich, dass keiner von ihnen erpicht darauf war, den Befehl auszuführen. Oscar zeigte nicht, wie sehr sie diese Befehlsverweigerung überraschte und das auch noch am ersten Tag ihres neuen Dienstes. Weil sie nichts darauf sage, hob Leutnant Dagous verärgert seine Stimme: „Wieso steht ihr noch hier?! Habt ihr nicht gehört, was euer neuer Kommandant euch befohlen hat?"

„Ich glaube nicht, dass jemand große Lust dazu hat.", sagte jemand aus der ersten Reihe, machte einen Schritt nach vorn und stellte sich ausgerechnet neben Augustin. Seine dunkelbraunen Augen richteten sich nur auf Oscar und seine raue Stimme sprach für alle Soldaten. „Am besten Ihr geht zurück zu Eurem königlichen Garderegiment. Denn hier findet Ihr niemanden, der den Befehlen einer Frau gehorchen will."

„Alain...", murmelte Augustin und schaute verdattert zu ihm. Anna musste bestimmt ihrem Vater erzählt haben, wer der neue Befehlshaber sein würde und Alain hatte dann seine Kameraden vorgewarnt. Augustin konnte ihm das nicht verübeln. Vielleicht war das auch besser so. Wenn seine Mutter nach Versailles zurück kehren würde, dann würde das Familiengeheimnis der de Jarjayes nicht enthüllt.

„Du kennst den Mann, Augustin?", flüsterte André baff in seine Richtung, aber er bekam keine Antwort. Er stand neben seinem Sohn und François neben Augustin.

„Das ist der Vater von Anna.", erklärte François anstelle von seinem Bruder leise und André warf kurz einen neugierigen Blick, soweit er konnte, auf den breitschultrigen Mann mit dem roten Halstuch und rabenschwarzen Haar. Das war also der Vater des Mädchens, zu dem sein Sohn und dessen Freund öfters auszureiten beliebten und wegen dem sie im letzten Monat sogar zu einem Diebstahl im eigenen Haus bereit waren. Er würde diesen Mann später ansprechen und noch mehr über ihn und dessen Tochter Anna in Erfahrung bringen, nahm sich André vor und schaute wieder seine Geliebte an.

Oscar hatte nichts von dem kleinen Wortwechsel verstanden. Ihr Blick ruhte auf den Soldaten mit dem roten Halstuch und ihre Hände drückten die Zügel des Pferdes fester. „Wenn Ihr mir etwas zusagen habt, dann stellt Euch mir erst einmal vor!"

„Entschuldigt vielmals. Mein Name ist Alain de Soisson." Der Mann mit dem roten Halstuch grinste. „Ihr habt wohl vergessen, wo Ihr Euch befindet, Oberst de Jarjayes. Die Söldnertruppe ist für ihre raue Art untereinander bekannt, denke ich."

Das war Oscar sehr wohl bewusst, aber sie blieb von seinen Worten unbeeindruckt. „Wenn ich ehrlich bin, mir wäre nichts lieber als ein fairer Kampf. Was haltet Ihr davon, wenn Ihr mir zeigt, was Ihr so drauf habt?"

„Was, Kerle gegen einer Frau?", fragte einer der Männer äußerst verblüfft hinter Alain. Dieselbe Verblüffung stand auch bei André, den Zwillingsbrüdern und Oberst Dagous im Gesicht geschrieben. Warum machte sie das nur? Was wollte sie damit bezwecken?

„Das klingt doch interessant." Ein Soldat mit einer grässlichen Narbe im Gesicht trat auch nach vorn. Er stellte sich neben Alain und seine Lippen umspielten ein böswilliges Grinsen. „Dann soll sie uns zeigen, was sie so alles drauf hat!"

„Wenn einer von euch sie nur anrührt, Georges...", knurrte Augustin in seine Richtung drohend und ballte selbst angriffslustig seine Hände zu Fäusten, aber schaffte es nicht, seine Worte zu Ende auszusprechen.

„Schluss damit!", donnerte Oscar. „Ich erwarte alle, die glauben, kämpferische Fähigkeiten zu besitzen, vor mir vorzutreten! Degen oder Pistole, ist mir gleich!" Sie stieg von ihrem Pferd ab und wartete. François und Augustin fühlten sich unwohl. Oscar sagte nichts und hatte nur die Soldaten im Visier.

„Mach du es Alain, du bist doch unserer Fürsprecher.", sagte Georges betonnend.

Alain verschränkte dagegen ablehnend seine Hände vor der Brust. „Bedauerlicherweise kämpfe ich nicht gegen Frauen."

„Dann mache ich es!" Georges entschied sich mit Begeisterung für ein Duell mit Oscar und malte sich in seinem Kopf aus, wie er sie töten würde. Er war ja gestern bei seinem Bruder Armand zu Besuch und hatte von ihm alles über Jean und dass er Anna oft aufsuchte, erfahren. Jetzt, wo diese Missgeburt mit seinem Zwillingsbruder und seinen Eltern hier aufkreuzte, entstand endlich die Möglichkeit, die Rache in die Tat umzusetzen.

„Oscar, warum machst du das?", flüsterte André besorgt und hörte schon, wie die scharfen Klingen von Oscar und diesem kampfbereiten Soldaten aus (der Schaft) den Schäften gezogen wurden.

Langsam bildete die Truppe einen Kreis um Oscar und Georges. Der Mann mit der Narbe im Gesicht kam mit gezogenem Degen auf sie zu und stellte sich ihr zum Kampf. Oscar zog auch ihren Degen. „Und vergesst nicht, wenn ihr verliert, findet die Inspektion statt und wenn ich verliere, trete ich als Befehlshaber zurück!"

„Das ist ein faires Angebot." Georges hob sein Degen und griff den neuen Befehlshaber an. Oscar wich ihm gekonnt aus und sein Hieb ging ins Leere. „Na, warte, du verdammtes Miststück, ich werde es dir zeigen!", knurrte Georges und griff erneut Oscar an. Diesmal parierte sie seinen Hieb geschickt, schob ihn mit aller Kraft zurück und verübte selbst einen Angriff. Den weiblichen Offizier im Kampf zu töten erwies sich sehr schwer. Georges kochte vor Wut und wollte Oscar mit allen Mitteln besiegen. Auch einen Hinterhalt versuchte er, aber erfolglos. Oscar entschwand seinem heimtückischen Angriff sehr schnell und kaum dass er sich umdrehte, musste er ihren Hieb abwehren.

„Ich muss zugeben, sie ist bemerkenswert.", murmelte Oberst Dagous beeindruckt. „So einer wie sie bin ich bisher noch nicht begegnet."

André verfolgte den Kampf mit Besorgnis. Auch Augustin und François waren um sie sehr besorgt. Das konnte doch nicht wahr sein! Wenn Georges gewinnen würde, dann würde seine Rache erfüllt sein und Augustin hatte nicht die Lust zuzusehen, wie seine Mutter starb. „Ich muss das verhindern!", knurrte er angespannt und wollte seinen Degen ziehen, als er einen eisernen Griff um seinen Arm spürte. „Das wirst du unterlassen!", hörte Augustin eine mahnende Stimme und versuchte seinen Arm zu befreien. „Lass mich los, Alain!"

„Halte dich daraus, Bursche!" Alain jedoch verstärkte seinen Griff.

Augustin versuchte weiter, sich zu befreien. „Ich muss das tun, sonst wird er meine Mutter töten!"

André sah schlagartig von dem Kampf zu Augustin. Das war das erste Mal, dass Augustin Oscar so öffentlich und laut Mutter nannte. Nun gut, der Junge empfand sie und ihn wie seine Eltern, aber hatte sie bis jetzt noch nicht so bezeichnet. Womöglich hatte er Anna einiges über seine Adoptivfamilie erzählt, vermutete André und schob sich zwischen Augustin und Alain. „Lass den Jungen sofort in Ruhe!"

Vor Alain stand ein braunhaariger Mann, mit einer kleinen Narbe auf der linken Wange und funkelte ihn mit seinen grünen Augen ernst an. Alain lachte auf. „Ah, der besorgte Vater greift ein." Jedoch ließ er den Arm von Augustin los.

André zog seine Augenbrauen zusammen. „Und wenn dem so wäre? Augustin gehört einfach zu uns." Er warf den Blick auf den Knaben. „Und du sollst deiner Freundin Anna nicht alles über uns erzählen."

„Halt meine Kleine daraus.", mischte sich Alain bei Erwähnung seiner Tochter ein.

„Hört bitte auf!", störte François dazwischen und zeigte auf die Kampfszene. „Schaut da! Mutter gewinnt!"

Die drei Augenpaare richteten ihre Blicke auf die zwei Kämpfenden. Georges war außer Puste und verübte seine Angriffe mit letzter Kraft. Oscar wich ihm aus und weil ihr Gegner nicht auf seine Deckung achtete, stieß sie ihm mit ihrem Schwertknauf mit voller Wucht in die Magengrube. Georges fiel auf die Knie und krümmte sich. Oscar war einfach flink und wendig, was ihr schließlich den Sieg einbrachte. Den Soldaten gefiel das aber nicht und sie zogen ihr Klingen blank. „Verdammtes Weib, dafür wirst du büßen!", brüllte einer von ihnen und wollte schon mit seinen Kameraden auf Oscar losstürmen, als eine barsche Stimme sie davon abhielt.

„Hört auf, das reicht jetzt!", befahl Alain den Männern und kam zu Georges. „Versprochen ist versprochen und sie ist eindeutig die Siegerin. Ich denke, wir sollten sie lieber als unseren neuen Befehlshaber akzeptieren."

Das gefiel den Soldaten nicht, aber sie rührten sich dennoch nicht von der Stelle. „Na schön, Alain, diesmal hören wir auf dich, aber wir sind noch längst nicht fertig.", ließ einer von ihnen verlauten, aber steckte seinen Degen trotzdem ein.

Alain half Georges auf die Füße zu kommen und sprach dabei zu Oscar. „Ihr hört es ja selbst, Oberst. Glaubt nur nicht, dass alle hier mit Euch als Befehlshaber einverstanden sind."

Oscar verstand. „Ich weiß, was Ihr meint."

Alain griff Georges unter den Armen, spürte dessen ganzes Gewicht auf sich und bevor er ihn in die Baracke trug, schaute er noch einmal den neuen Befehlshaber an. „Lasst mich noch etwas klar stellen. Wir dienen hier nicht, weil es uns das Bedürfnis ist, die königliche Familie und euch Adlige zu beschützen. Wir sind lediglich hier, weil wir das Geld brauchen, um uns etwas zu Essen kaufen zu können, das dürft Ihr niemals vergessen." Dann ging er schleppend mit Georges in die Quartiere.

„Alain de Soisson, wartet!", rief ihn Oscar zurück und als der breitschultrige Mann mit dem roten Halstuch anhielt und sich zu ihr umdrehte, fügte sie hinzu: „Seid so nett und zeigt Euren neuen Kameraden sogleich die Quartiere. Alle anderen können auf ihre Plätze zurückkehren."