Kapitel 21: Es zieht uns zur Sonne, doch wir fürchten das Licht

Zeit war eine seltsame Sache. Erwachsene Menschen hatten davon stets zu wenig und Kindern schien es, als ob alles viel zu lange dauert. Doch auch für Vampire war Zeit eine merkwürdige Angelegenheit, sinnierte Victor. Gewiss, die Zeit konnte ihm nie ausgehen. Aber dafür wurde so vieles seiner Einzigartigkeit beraubt. Ereignisse wiederholten sich auf unterschiedliche Art immer wieder, wenn man nur lange genug lebte. Personen, nun, mit denen verhielt es sich anders. Je älter er wurde, desto kostbarer schienen die Wesen zu werden, die ihm etwas bedeuteten, gleichgültig ob sie noch hier waren oder nur in seiner Erinnerung fortlebten. Oder auch solche, die gegenwärtig nur unentwickeltes Potenzial waren, dachte er wehmütig, während er sein Sternkind beobachtete. Mittlerweile war sie ein Kind von sechs Jahren. Ein hübsches, aufgewecktes Geschöpf mit kastanienbraunen Locken, das seine Eltern nach Kräften auf Trab hielt.

Seit jener ersten Nacht, kam er zwei Mal im Jahr an diesen Ort, um persönlich nach dem Rechten zu sehen, ohne sich von den Sterblichen blicken zu lassen. Dieser Tage zog Victor von Krolock es vor, nur der berüchtigte Schatten in der Ferne zu sein. Es war einfach genug in der übrigen Zeit mit seinen übernatürlichen Sinnen in die Nacht zu lauschen, um zu erfahren, was in dem kleinen Dorf vor sich ging. In der ersten Zeit, hatte er sich noch mehr vor Ort in den Schatten herum getrieben. Es war nicht schwer gewesen, mehr über die Familie heraus zu finden, in die sein Sternkind hinein geboren worden war. Die Wirtsleute hießen Chagal und stammten ursprünglich nicht aus der Gegend. Wie so viele jüdische Familien waren sie vor dem immer rauer werdenden Gegebenheiten geflüchtet und schließlich hier gelandet. An einem Flecken, der vorher keines gehabt hatte, machten sie ihr Wirtshaus auf. Mit einer guten Portion Glück, hatten Yoine und Rebecca sich einen günstigen Ort dafür gewählt. Mit einer Mischung aus deftiger Kost, billigem Wein und den zotigen Schoten des Hausherrn, sowie dessen nicht abzusprechender, gewöhnlicher Schläue, hatten sie sich ein bescheidenes, aber respektables Leben aufgebaut. Ihre Tochter hatten sie Sarah genannt. Ein seltsam passender Name, wie sich schon bald zeigte. Die kleine blieb das einzige lebende Kind der Wirtsleute. Die Wirtin war wie so viele Frauen fast jedes Jahr erneut schwanger, aber keines war bisher lange am leben geblieben. Sarah dagegen war etwas besonderes, sie war nicht nur robust, sie hatte schon jetzt einen starken eigenen Willen. Die Kleine war freiheitsliebend und wild, fast wie ein Junge. Gleichzeitig kokett und den schönen Dingen des Lebens nicht abgeneigt. Von diesen so gegensätzlichen Säulen ihres Charakters war er ebenso fasziniert wie amüsiert. Er erkannte die Seele, die in ihr wohnte, an tausenden kleinen Verhaltensweisen wieder, aber diese neue Persönlichkeit war nicht minder anziehend. Mit ihren Eltern dagegen geriet sie dadurch oft in Konflikte. Victor befürchtete schon jetzt, dass alle diese Eigenschaften sie irgendwann in Schwierigkeiten bringen würden. Doch der Tag dafür war noch nicht gekommen, wie er an diesem Abend zufrieden feststellte. Nachdem sie so lange wie möglich einen Aufstand gemacht hatte, um in der Dämmerung des warmen Frühlingsabends noch draußen zu bleiben, hatte sie sich schließlich widerstrebend ins Haus bringen lassen. Jetzt saß sie an ihrem Fenster und sah schmollend hinaus, während sie ihr langes Haar kämmte. Es entlockte Victor ein Lächeln. Dieses Kind war zum Überleben geboren. Sie würde sich nicht heimlich, still und leise von dieser Bühne zurück ziehen, oh nein. Ihr Hunger danach war viel zu groß. Es zeigte sich an ihrer abenteuerlustigen Art, oder darin, wie sie jetzt unzufrieden zusah, wie die Dämmerung immer mehr verblasste. Dabei hätte sie wie jedes andere Kind ihres Alters sicher schon lange im Bett liegen sollen. Nun, sie hatte einen weiteren Winter unbeschadet hinter sich gebracht und der Familie schien es ihren Umständen entsprechend gut zu gehen. Der Augenblick war gekommen, sich in die fallenden Schatten zurückzuziehen, bevor ihn jemand entdeckte. Er würde im Herbst noch einmal nach ihr sehen. Es war sein einziges Zugeständnis, der Angst geschuldet, etwas könnte sein Sternenkind dahin raffen. Eine Narretei, kein Zweifel, denn was sollte er schon gegen die gewöhnlichen Gefahren einer sterblichen Existenz ausrichten? Aber es beruhigte ihn, zwei Mal im Jahr mit eigenen Augen zu sehen, dass es ihr gut ging, auch wenn er dabei vorsichtig vermied, den Menschen aufzufallen. Ohne dass sie es wussten, war sich der Graf nur allzu bewusst, was seine Untertanen dieser Tage über ihn dachten. Ein Nebeneffekt der Tatsache, dass er gegenwärtig so häufig die Geister der Menschen dieses Ortes belauerte, um aus der Entfernung ein Auge auf die Familie Chagall zu haben. Das einzige Positive, das er dabei über sich selbst erfuhr, war, dass die Menschen noch immer befanden, er sei, im Vergleich zu den Grafen in den benachbarten Domänen, gar kein so übler Herr. Allerdings war die allgemeine Meinung dennoch, dass man besser so wenig mit ihm zu schaffen hatte, als möglich. Im Schloss ging es angeblich nicht mit rechten Dingen zu und auch Koukol, der dort unbeschadet ein und aus ging, war den meisten Menschen unheimlich, obwohl er offensichtlich so sterblich war wie sie. Dazu hatte sich Victor einen äußerst unschönen Ruf erworben. Es hieß, Menschen, die ihm ins Auge fielen, verschwänden, ohne dass sie jemals wieder gesehen würden. Die jungen Burschen wurden ebenso vor ihm gewarnt, wie die Mädchen, da er sowohl den einen als auch den anderen nicht abgeneigt sei. Seine Anordnungen wurden noch immer befolgt, doch er war gegenwärtig eher berüchtigt als beliebt. Doch es hatte aufgehört ihn zu schmerzen. Er war endlich so weit dagegen abgestumpft, dass ihn nicht mehr berührte, was sie über ihn dachten. Nach drei Jahrhunderten immer noch unangefochten zu herrschen - allein dafür durfte er mehr als dankbar sein. Victor war klug genug, dass zu erkennen und hinlänglich vorsichtig, sich nicht all zu häufig offen zu zeigen. So verschmolz er auch dieses Mal mit den Schatten und kehrte in aller Heimlichkeit nach Hause zurück, um einmal mehr seine üblichen Gewohnheiten im Schloss wieder aufzunehmen. Ihre Anwesenheit war ein neues Interesse, das Abwechslung in die Tristesse seiner Existenz brachte. Er fragte sich manchmal: wer war hier wessen Wächter? War er ihr stiller, dunkler Schutzengel oder sie viel mehr sein Engel des Lebens?

In einer Nacht, etwa zwei Jahre später, erwachte Victor mit einem Gefühl des Grauens und der drohenden Gefahr. Er wusste, dass er unmöglich selbst bedroht sein konnte, und dachte intuitiv sofort an sein Sternenkind. Sofort öffnete er seinen siebten Sinn für die Gedanken ihrer Eltern. Diese waren außer sich vor Angst. Sarah war nicht nach Hause gekommen. Ihre üblichen Spielkameraden waren allein zurückgekehrt und sie war immer noch nicht aufgetaucht, obwohl die Sonne bereits untergegangen war. Das war etwas Neues, Ungewöhnliches, selbst für dieses wilde und sorglose Kind. Mit klopfendem Herzen schob er den schweren Steindeckel über sich zurück und war mit einer einzigen fließenden Bewegung aus seinem Sarg heraus. Während er die Treppe hinauf eilte, griff er nach Sarahs Geist. Es dauerte einen Moment, aber dann hatte er sie gefunden. Erleichterung wallte in ihm auf. Doch das Gefühl war nur von kurzer Dauer. Er nutzte seine Kräfte, um einen Blick auf das zu erhaschen, was sie sah, um eine Vorstellung davon zu bekommen, was auf ihn zukommen würde. Sein Herz setzte einen Schlag lang aus und begann dann umso heftiger zu schlagen, als er erkannte, dass sie irgendwo im Wald war. ‚Sterne über uns!' Kein Wunder, dass er solchen Schrecken empfunden hatte. Es galt keine Zeit zu verlieren. Wenn er wach war, waren es vielleicht auch seine untoten Untertanen auf dem Friedhof. Wer konnte außerdem schon sagen, ob sie wirklich die Einzigen in der Gegend waren? Der Graf eilte zum nahen Friedhofstor und ignorierte die Vampire, die um ihn herum aus ihren Gräbern stiegen. Er stürmte hindurch und begann schneller zu laufen. Sarahs Gegenwart war sein Leuchtfeuer, das ihn zu ihr führte und er bewegte sich mit aller Geschwindigkeit, die er aufbringen konnte, auf sie zu. Dabei ignorierte er, was dies mit seiner Kleidung anstellte, die dem Anlass keineswegs angemessen war und die sich oft im dichten Unterholz verfing. Er stolperte einige Male, aber er stürzte nie. Er fing sich rechtzeitig und drängte weiter. Vorwärts über Kammlinien und steile Berghänge hinunter, getrieben von unbändiger Angst. Was würde geschehen, wenn einer von ihnen sie vor ihm erreichte? Und wenn sie an einem plötzlichen, steilen Abhang hinunterfiel, wie sie in dieser Gegend überall zu Hauf im Wald lauerten? Oder wenn sie sich plötzlich einem hungrigen Bären oder einem Wildschwein gegenübersah? Victors einziges Mittel gegen die Angst war das Gefühl ihrer Anwesenheit. Sie war noch da, lebendig und hoffentlich wohlauf. Er ahnte, dass dieses seltsame Band zwischen ihnen zerreißen würde, wenn sie starb, bevor er sie erreichen konnte. Er würde es spüren und wissen. ‚Ich muss sie rechtzeitig finden!' war sein einziger klarer, verzweifelter Gedanke. ‚Ich muss es einfach!' Er kam ihr immer näher, aber die Zeit, die er dafür brauchte, schien endlos. Angstschweiß bedeckte seine Stirn als er endlich nahe genug heran war, um sie riechen und ihren Herzschlag hören zu können. Er durfte sie nicht erschrecken. Sie war noch ein Kind und abgesehen von den beiden Malen als Neugeborenes hatte sie ihn nie zu Gesicht bekommen. Victor wurde langsamer und nahm sich zum ersten Mal, seit er sein Schloss verlassen hatte, die Zeit, seine Umgebung genau zu betrachten. Ein dichter Hain aus Buchen und Eichen, durchsetzt mit Kiefern, erstreckte sich die Flanke eines Abhangs hinab. Weiter unten ersetzt durch Eschen und Ahornbäume. Sie musste in dem kleinen Tal sein, das sich unterhalb zwischen mehrere Berghänge schmiegte. Er verfiel in einen schnellen Tritt, mit dem selbst ein Sterblicher hätte mithalten können, und setzte seinen Weg fort. Als er sich ihr näherte, hörte er das Geräusch von fließendem Wasser und ihre Stimme, die ein in der Region beliebtes, kleines Volkslied sang. Schließlich konnte er sie sehen, wie sie auf einer kleinen Lichtung in der Nähe eines Baches saß. Sie wirkte nicht so ängstlich, wie es ein Kind in ihrem Alter eigentlich sein sollte. Hier mitten im Wald, eingeschlossen zwischen den Bergen, war es dunkel. Der Vampir zögerte einen Moment. Was sollte er nun tun? Seine Sinnen verrieten ihm, dass sie alleine waren. Keine sterbliche Hilfe in der Nähe, die sie bald finden würde. Es blieb ihm keine andere Wahl. Er ging so, dass sie seine näher kommenden Schritte hören konnte und trat auf die Lichtung hinaus. Wenigstens sein blasses Gesicht würde sich in der Dunkelheit abzeichnen. Er begann zu sprechen, sein Tonfall ruhig und freundlich. „Da bist du ja, Sarah. Ich sehe, dass ich dich endlich gefunden habe. Weißt du, dass deine Eltern vor Sorge außer sich sind?"

Wie er es befürchtet hatte, erschrak das Mädchen beim Klang der unbekannten Stimme. „Wer bist du? Haben Mama und Papa dich geschickt?" Ihre Stimme klang nicht wirklich verängstigt, aber unsicher. Er zollte ihr im Stillen anerkennend Respekt für ihren Mut, so fehlgeleitet er in diesem Moment auch sein mochte. Victor trat langsam auf sie zu und kniete neben ihr nieder, um weniger bedrohlich zu wirken.

„Nein. Ich bin nur ein besorgter Nachbar, der von deinem Verschwinden gehört hat. Aber du brauchst keine Angst vor mir zu haben - ich bin ein Freund."

Ihre Augen richteten sich mit einem Stirnrunzeln auf das, was sie von ihm erkennen konnte. „Welcher Nachbar?", fragte sie dann. „Deine Stimme kommt mir nicht bekannt vor." Jetzt klang sie doch ein wenig beklommen.

„Mein Name ist Victor", antwortete der Graf beruhigend. „Du hast mich noch nicht kennengelernt, aber ich lebe nicht weit von deinen Eltern entfernt. Wüsste ich sonst wer du bist?"

Einen Moment kaute sie nachdenklich an ihrer Unterlippe, ehe sie antwortete. „Nein, aber die meisten Leute in unserem Dorf kommen, um bei uns zu essen oder zu trinken. Du nicht?

„Nein. Ich trinke keinen Wein", erwiderte Victor ausweichend. „Aber sag' mir lieber, wie du hierher geraten bist. Du bist ziemlich weit weg vom Dorf und deine Spielkameraden sind lange vor dir wieder zurückgekehrt. Alle suchen nach dir, weißt du?" Er sprach freundlich und ohne Vorwurf. Sarah seufzte. „Ich wollte noch nicht nach Hause", gab sie zerknirscht zu. „Es war so schön im Wald, ich habe diesen kleinen Bach so gerne. Die anderen wollten irgendwann wieder zum Dorf zurück. Wir wären viel zu weit weg gegangen, sagten sie. Also bin ich eben zurück geblieben. Ich bin am Bach entlang gegangen und habe weitergespielt. Als es anfing dunkel zu werden, habe ich versucht nach Hause zu gehen, aber ..." Sie geriet ins Stocken.

„Du hast dich verirrt", stellte Victor sanft fest. Die Kleine nickte mit einem verhaltenen Schniefen. „Als ich die Lichtung gefunden habe, dachte ich, es wäre besser hier zu bleiben, bis Papa kommt und mich findet. Aber er wird bestimmt böse sein!" Sie begann zu weinen.

„Schhhh. Ganz ruhig, Sternenkind. Sie werden froh genug sein, dich unversehrt wieder zu haben." Er legte behutsam eine Hand auf ihre Schulter. Das Eis war nun endgültig gebrochen und wie das unschuldige kleine Ding, das sie war, schlang sie ihre Arme um ihn und barg den Kopf vertrauensvoll an seiner Brust.

„Aber Papa hat gesagt er wird mich schon gehorchen lehren, wenn ich noch mal Dummheiten mache!", schluchzte sie. „Und Mama wird jammern und klagen!" Victor versteifte sich einen Moment unter der unerwarteten Umarmung. Dann entspannte er sich und legte behutsam einen Arm um ihre Schultern, mit der anderen Hand strich er über ihre zerzausten Locken. Er schnaubte beinahe belustigt und schüttelte den Kopf. „Mach dir keine Sorgen. Sie werden zu froh sein, dass du so glimpflich davon gekommen bist", versicherte er aufmunternd. Dann schob der Graf die Kleine auf Armeslänge von sich und sah sie eindringlich an. „Was du heute getan hast, war wirklich töricht. Es gibt viele Raubtiere hier draußen. Sei in Zukunft vorsichtiger. Eine Rüge deiner Eltern ist das kleinste Übel, das dir daraus erwachsen konnte, glaub' mir. Doch jetzt wird es Zeit, dich zu deinen Eltern zurückzubringen." Sie sah ihn mit ihren großen, nassen Augen an und nickte. Er schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln, das seine Reißzähne nicht enthüllte. Dann hob er sie auf, nahm sie in die Arme und erhob sich. Sarah wand sich ein wenig unbehaglich. „Ich kann alleine laufen!", murrte sie geniert.

„Es ist dunkel und der Weg weit", entgegnete er bestimmt. „Je eher wir zurück sind, desto wahrscheinlicher entgehst du der Strafpredigt." Das schien ihr einzuleuchten und sie begann sich zu entspannen. Victor ging so rasch er es wagen konnte, ohne dass sie begriff, dass ihr Retter sich schneller bewegte, als es ein Mensch hätte tun können. Er hielt sie so vorsichtig, als könnte sie jeden Moment in seinen Händen zerbrechen. Die Erleichterung war so groß, dass es ihn beinahe schwindelte. Das Einzige, was nun zählte, war, sie so unauffällig als möglich zurückzubringen und dabei nicht gesehen zu werden. Er gab sich keiner Illusion hin – wenn er nicht in ihr Leben eingreifen wollte, durfte sie sich auf keinen Fall an diese Begegnung erinnern. Er würde seine Kräfte benutzen müssen, um sie vergessen zu lassen. Nicht auszudenken, in welche Schwierigkeiten sie sich vielleicht brächte, wenn sie anfangen sollte, ihn zu suchen. Sein einziges Glück war, dass sie ihn kaum gut genug sehen konnte, um ihn im Dunklen so instinktiv zu erkennen, wie er es in jener aller ersten Nacht getan hatte.

Victor folgte dem Lauf des Baches. Wenn die Kinder ihn vom Dorf kommend gefunden hatten, mochten ihre Eltern mit dem Suchtrupp, der unweigerlich ausgeschickt werden würde, gewiss in dieser Richtung suchen. Alles was er tun musste, war weit genug mit ihr zu gehen, um sie gewissermaßen an die suchenden Sterblichen zu übergeben. Doch es dauerte noch eine ganze Weile, ehe er Stimmen hörte. Ehe sie nahe genug heran waren, dass Sarah sie hören konnte, setzte er sie auf dem Waldboden ab. „Sind wir schon da?", fragte sie unsicher. „Aber hier ist doch niemand außer uns."

„Nein." antwortete Victor. „Aber ich muss ein wenig ausruhen. Du wirst mir allmählich schwer." Die kleine Notlüge kam wie selbstverständlich über seine Lippen.

„Oh, dass tut mir leid", murmelte sie beschämt.

„Halb so schlimm" entgegnete er beschwichtigend. „Wir warten hier einen Moment. Dann wird es schon wieder gehen." Er kauerte sich wie zum Ausruhen nieder und lehnte sich ein wenig gegen einen Stamm. Doch in Wirklichkeit konzentrierte er sich auf den Geist des Mädchens und traf aus der Dunkelheit heraus ihren Blick. Sie konnte es nicht wirklich sehen, wohl aber spüren. Er zwang sie mit einem stummen Befehl den Blickkontakt nicht abzubrechen. Dann, als er sich sicher genug fühlte, folgte ein weiterer. ‚Vergiss diese Begegnung!', war seine stille Anweisung. ‚Vergiss mich, sobald du einschläfst! Nachdem du die Lichtung gefunden hast, bist du dem Bach gefolgt, soweit dich deine Füße trugen. Irgendwann hast du dich zum ausruhen hingesetzt.' Er untermalte den Befehl mit Bildern des Bächleins, das durch das verwinkelte kleine Tal floss, um diese falsche Erinnerung zu festigen. Er erlaubte sich ein paar kostbare Augenblicke der Stille, betrachtete ihren abwesenden Gesichtsausdruck mit einem Gefühl leisen Bedauerns. ‚Du bist müde', befahl er ihr dann. ‚Schlaf ein, Sternenkind!' Augenblicklich schlossen sich ihre Lieder und sie sank auf dem mit Laub bedeckten Boden zusammen.

Victor kam zu ihr und hob sie vorsichtig wieder auf. Dann sah er bedauernd auf ihre reglose Gestaltet herunter. „Verzeih mir!", murmelte er leise. Dann ging er den Stimmen entgegen. Durch den dichten Baumbestand war er bald sicher Fackelschein zu sehen. Viele Stimmen riefen nach dem Mädchen in seinen Armen. Sie wand sich ein wenig in seinem Griff. Er begriff seinen Fehler sofort. ‚Du wirst erst aufwachen, wenn ich es dir erlaube!' befahl er dem schlafenden Geist des Kindes und sie erschlaffte wieder in seinem Arm. Vorsichtig stahl er sich weiter. So nahe heran an die Sterblichen, wie er es eben wagte. Dann wählte er einen Baum nicht weit vom Bach und bettete sie an ihn gelehnt ins Laub. Als sei sie beim Ausruhen hier eingeschlafen.

„Leb' wohl, Sternenkind", flüsterte er, als er sich geräuschlos erhob und in die Schatten zurückwich. Er zog sich tiefer in den Wald zurück und verbarg sich auf einem von einem dichten Dickicht aus Buchen gekrönten Hügel, von dem aus er Sarah gerade noch sehen konnte. Er kauerte zwischen den jungen Bäumen nieder und wartete. Er würde sie erst verlassen, wenn die Sterblichen mit ihr ins Dorf zurückkehren würden. Solange würde er Wache halten. Jeder Räuber, ob Tier oder Unhold, würde ihm die Stirn bieten müssen, um an sie heranzukommen. Aber ihre kleine, zusammengesunkene Gestalt blieb unbehelligt. Die Tiere des Waldes flohen den lauten Stimmen und dem Fackelschein, der nun immer näher kam. Er hätte nicht zu sagen vermocht, wie lange er gewartet hatte, aber endlich erklang ein gellender Ruf. „Da ist sie! Chagall, Chagall! Hier herüber, Mann!"

Immer mehr Menschen traten zu dem ersten hinzu, der mit einer Fackel in der Hand bei dem Kind stehen geblieben war. Jetzt lief ein stämmiger Mann herbei, den Victor schnell als den Wirt erkannte. „Sarah, mein Kind!", hörte er ihn rufen, dann fiel er neben dem Kind auf die Knie und schüttelte sie heftig. ‚Wach auf, Sternenkind!', befahl Victor sanft ein letztes Mal. „Papa!", erklang ihre Stimme und sie klang wie ein Flüstern. „Oh Papa, es tut…" doch sie kam nicht dazu aus zu sprechen. Die Erleichterung in der Stimme ihres Vaters schlug um. Jetzt klang er verärgert und vorwurfsvoll. „Warum kannst du nicht folgen? Willst du mich Meschugge machen? Habe ich dir nicht tausend Mal gesagt, du sollst nicht fort gehen? Schon gar nicht allein!"

„Ich wollte doch nur noch ein wenig am Bach spielen, Papa!", schluchzte sie. „Und dann habe ich mich verlaufen!"

„Nebbich! Das kommt davon, wenn man hinter den anderen Kindern zurückbleibt! In Zukunft bist du bevor es dämmert wieder zu Hause! Wenn du noch einmal alleine herum stromerst, wirst du in deinem Zimmer bleiben, hast du mich verstanden? Willst du jetzt also ein braves Mädchen sein?"

„Ja, Papa, bestimmt Papa!", stimmte sie hastig zu. Was blieb ihr auch schon anderes übrig.

„Lass gut sein, Chagall! Wir haben die Ausreißerin gefunden und sie scheint unversehrt zu sein. Mehr Glück als Verstand, wie bei allen Weibern! Lasst uns endlich umkehren, für die Tracht Prügel ist auch später noch Zeit!" Zustimmendes Gemurmel erklang Reih um. Der Wirt hob seinen Sprössling hoch und wandte sich an die Versammelten. „Machen wir, dass wir hier fortkommen", stimmte er zu. Einen Humpen von meinem Besten aufs Haus für euch alle, die Herren!" Unter lauter Zustimmung rotteten sie sich zusammen und zogen in entgegengesetzte Richtung davon. Victor richtete sich auf. Es war nun auch für ihn an der Zeit, nach Hause zurückzukehren.

Nach der unglücklichen Geschichte im Wald behielt Victor Sarah eine Weile intensiver im Auge als zuvor. Er wollte wissen, welche Konsequenzen ihr kleines Abenteuer ihr eingebracht hatten. Seine Versicherung hatte sich schnell als unzutreffend erwiesen. Der Kleinen waren weder die Strafpredigt noch die Prügel erspart geblieben. Es hatte ihn erzürnt, ihren Schmerz zu fühlen, aber es gab nichts, was er tun konnte. Ihr Umfeld begriff nicht, dass sie eine Lärche war. Ein wilder, kleiner Vogel, der in Gefangenschaft dahinwelken und sterben würde. Für eine Weile wurde sie auch von den Dörflern mit scheelen Blicken beäugt. Dieses Kind war mit keiner noch so düsteren Legende der Gegend von seinem Drang abzubringen, hinaus in Wald und Wiesen zu laufen. Selbst unter Strafe beugte sie sich nicht. Aber als Kind, wie sie es nun einmal war, blieb sie vorläufig auf die Gemeinschaft angewiesen. So ertrug sie den Tadel des Dorfes bis auf weiteres, denn die Dörfler ließen sie spüren, dass sie ihr die Suche im gefährlichen Wald nachtrugen.

Doch der kleine Wirbelwind ließ den Zustand so lange er andauerte über sich ergehen und ging unbeschadet daraus hervor. Bald war sie wieder mit einer Gruppe Gleichaltriger zum Spielen unterwegs und nahm schmollend die ungeliebten Einschränkungen hin, die ihre Eltern ihr aufzwangen. Es gab dennoch Freiheiten: Unter ihren Spielgefährten waren auch Knaben. Vater Chagall sah es nicht gern und hatte einen argwöhnischen Blick darauf, so oft er konnte, doch bis auf Weiteres ließen die Eltern sie gewähren. Ein Umstand, der nicht für immer andauern würde. Aber noch blieben ihr einige Jahre kindlicher Freiheit, zumindest so lange sie leidlich gehorsam war. Immerhin schien sie aus den Schwierigkeiten gelernt zu haben, die ihr Wagnis ihr eingebracht hatte und legte es nicht darauf an, die Erfahrung in abgewandelter Form zu wiederholen. Beruhigt von dem Gedanken, dass sie einstweilen sicher war, entspannte der Vampir seine Wachsamkeit und kehrte zu seinen üblichen Gewohnheiten zurück.

Die Zeit verging und sein Sternenkind wuchs heran. Wo Herbert immer sein Sonnenstrahl gewesen war, schien sie der Nordstern zu sein. Unerreichbar vielleicht, aber da draußen. Hell in der Ferne und immer am selben Ort. Gemeinsam hielten sie ihn auf seinem ermüdenden Weg aufrecht. Mit ihr da draußen in der Dunkelheit, wie der unbewegliche Stern, der den verlorenen Seemann wieder nach Hause führt, wuchs ein wenig Hoffnung in seinem Herzen. Es gab ein Vielleicht, zu dem er voraus schauen konnte. Eine kleine Chance, dass sie sich tatsächlich dazu entschließen würde, ihn auch als Vampir zu wählen. Für den Moment war es genug, jede Nacht auf diese Weise zu existieren. Jahrelanges Warten schien viel weniger unerträglich als endlose Wiederholungen und Langeweile zu ertragen. Sogar Herbert hatte festgestellt, dass es eine leichte Veränderung zum Besseren gegeben hatte. Der hohle, lethargische Blick war aus seinen Augen verschwunden. Von irgendwo her hatte er wieder eine Reserve an Kraft geschöpft. Aber gleichzeitig kannte er seinen Vater zu lange, um nicht zu erkennen, dass es nur eine letzte Reserve war. Der Gedanke daran, was aus ihm werden mochte wenn, was auch immer der Grund für diese neue Anstrengung war, wieder scheitern sollte, machte ihm Angst. Er hatte die unbestimmte Ahnung, dass es sich um einen Sterblichen handelte. Aber bis jetzt hatte Victor noch nicht mit ihm darüber gesprochen. Sollte es etwas Ernstes werden, würde er es sicher erfahren. Herbert war sogar bereit, ein neues Mitglied in ihrer Familie zu begrüßen, wenn es seinen Vater bloß am Leben erhielt! Wenn man ihn nur auf seinem gegenwärtigen Kurs halten könnte, würde er vielleicht endlich über den Seelenschmerz hinauswachsen und sein volles Potenzial entwickeln. So hielten beide Vampire an einer Hoffnung fest, die sich auf dasselbe sterbliche Wesen stützte.

An einem Abend im Frühsommer etwa fünf Jahre später war Victor einer Laune folgend aufgebrochen, kaum dass er sich erhoben hatte. Ohne klares Ziel oder die Absicht zu jagen, streifte er umher und genoss das Dämmerlicht, solange es noch andauerte. Wie lange er so ziellos umher wanderte, hätte er selbst nicht zu sagen vermocht. Unbewusst zog es ihn wie selbstverständlich in das Umland des Dorfes, in dem sein Sternenkind lebte. Das Tal, dem er gefolgt war, verbreiterte sich zwischen den Ausläufern zweier Bergflanken. Der Wind rauschte in dem Schilf, das einen kleinen Weiher umrahmte, der sich an die Wurzeln des Berges schmiegte. An einer Seite war der Bewuchs des Ufers nur schütter. Ein kleiner Badesteg führte dort auf die Wasserfläche hinaus. Victor war so sehr daran gewöhnt, dass die Sterblichen in seinem Herrschaftsgebiet sich ängstlich in ihre Siedlungen zurückzogen, sobald es dämmerte, dass es ihn jetzt überraschte, Menschen ganz in seiner Nähe zu hören.

Dem Klang der Stimmen nach musste es sich um einige halbwüchsige Burschen handeln. Der Vampir rollte unwillig mit den Augen. Zweifellos junge Dummköpfe, nur darauf aus, sich in einer unsinnigen Mutprobe zu beweisen. Er zögerte einen Moment, unsicher, ob er sich zurückziehen oder es auf eine Begegnung ankommen lassen sollte, um sie das fürchten zu lehren. So fand er sich für einen Moment in der Rolle des unfreiwilligen Zuhörers.

„Was haben wir denn da? Der Augapfel unseres Gastwirts - sieh einer an!", johlte eine Stimme. Das ließ Victor aufhorchen. Sarah war hier? Ausgerechnet… Sie war mittlerweile dreizehn Jahre alt. Ein hübsches junges Ding mit langen Locken und einem schelmischen Lächeln. Verflucht, wieso war sie hier, noch dazu allein?

„Weiß der liebe Papa, dass du hier so ganz alleine bist?", spottete ein weiterer Bursche, als hätte er Victors Gedanken aufgefangen. „Ich dachte, es sei dir verboten, allein herumzulaufen?"

„Was geht euch das an?", zischte Sarah verärgert. „Schert euch um eure eigenen Angelegenheiten!"

„Iosif, vielleicht gibt ihr Alter uns einen aus, wenn wir auf sein Kätzchen aufpassen und sie zurückbringen!"

„Eine wundervolle Idee, Serghei! Leisten wir ihr ein wenig Gesellschaft und bringen sie zurück, sobald sie herauskommt, um es herauszufinden."

„Herr im Himmel, seht gefälligst zu, dass ihr weiterkommt!"

„Wenn du uns loswerden willst, dann wollen wir was zu sehen kriegen,", feixte eine dritte Stimme. Los, komm raus und lass dich anschauen!"

„Gar nichts kriegt ihr von mir! Ich bleibe hier drin, bis ihr euch davon gemacht habt!"

„Tatsächlich? Na, dann nehmen wir einfach das hier." Einer der Burschen schnappte sich ein Bündel Kleider, das sie sorgfältig auf dem Steg zurückgelassen hatte.

„Gib das zurück!", rief Sarah.

„Irgendwann kommst du schon raus," spottete der Erste. „Wir können warten."

Der Vampir hatte genug gehört. Es war an der Zeit, diese Burschen in die Schranken zu verweisen. Er ging geräuschlos auf die Burschen zu. Als er nahe genug heran war, trat er aus den Schatten heraus und zwischen sie und sein Sternenkind. Drei grobschlächtige, dunkelhaarige Kerle, um die fünfzehn Jahre alt. Victor sah die drei finster an. „Haben euch eure Eltern keinen Anstand gelehrt? Gebt das zurück und lasst sie in Ruhe!"

„Fällt uns gar nicht ein, Alter!", höhnte jener, der scheinbar ihr Anführer war. „Wir wollen unseren Spaß haben. Zieh selbst Leine!"

Mit einer blitzschnellen Bewegung packte der Graf ihn am Kragen. „Ich sagte, lasst sie in Ruhe!" Seine Stimme war ein tiefes Knurren. Während er sprach, zog er die Lippen zurück und gab den Blick auf seine langen Eckzähne frei. Er blickte den Jungen drohend an und gab ihm eine eindeutige Vorstellung davon, wen er gerade vor sich hatte. Den zappelnden Tunichtgut mühelos mit einer Hand festhaltend, drehte er sich zu den Übrigen um. „Lasst ihre Sachen fallen! Wenn einer von euch auch nur ein Wort darüber verliert, was heute Abend hier passiert ist, werdet ihr dafür bezahlen! Habe ich mich klar ausgedrückt?", knurrte er sie an.

„J-ja, Herr, sofort, Herr!", stotterte einer der beiden hastig.

„Gut! Wagt es nicht, noch einmal in ihrer Nähe herumzuschnüffeln. Sollte mir zu Ohren kommen, dass ein anderes Mädchen auf diese Weise belästigt worden ist, wird es euch übel ergehen!" Der Vampir öffnete seine Hand und warf den Jungen, den er immer noch gepackt hielt zu Boden. „Verschwindet, bevor ich meine Großzügigkeit bereue. Merkt euch meine Worte!"

Der Rädelsführer kam benommen auf die Beine. Seine Kumpane packten ihn zu beiden Seiten und zerrten ihn so hastig fort, als wäre der Leibhaftige hinter ihnen her. Victor sah ihnen noch einen Moment mit finsterer Genugtuung nach. Dann hob er das Bündel Kleider auf, das sie achtlos zurückgelassen hatten. Er trat näher auf sein Sternenkind im Wasser zu.

„Teufel auch, Mädchen! Was tust du um diese Stunde noch hier? Diese Tölpel hatten zumindest in einem Recht: wenn dein Vater hiervon erfährt, wird es dir schlimm ergehen."

„Aber ich wollte doch nur baden!", rechtfertigte sie sich verdrießlich. „Um diese Zeit ist die beste Gelegenheit, dass Mama und Papa es nicht bemerken. Niemand hat mich bisher gestört."

Victor seufzte ungeduldig. „Einmal ist immer das erste Mal, Sternenkind. Hier, zieh dich an! Dann bringe ich dich zurück zum Dorf." Er legte die Kleider nahe dem Ufer ins Gras und wandte sich ab. Victor ging einige Schritte vorwärts, um jedem, der sich näherte, den Blick auf sie zu versperren. Während sie sich anzog, nutzte er die Gelegenheit, die Kapuze seines Umhangs tief ins Gesicht zu ziehen. In dem schwindenden Licht konnte sie ihn bislang nicht deutlich gesehen haben und das sollte besser so bleiben. Auf diese Art würde er weniger in ihre Erinnerungen eingreifen müssen. Als hätte der Gedanke sie herbeigerufen, trat sie neben ihn. „Danke, Herr. Das war wirklich nett. Mich hat noch nie jemand gerettet, wisst ihr?"

„Schon gut, Sarah. Gern geschehen. Beim nächsten Mal solltest du ein paar Freundinnen mitbringen, wenn du hierher kommst. Aber wir sollten jetzt gehen. Wenn wir uns beeilen, haben deine Eltern vielleicht noch nicht bemerkt, dass du ihnen ausgerissen bist."

Sarah nickte ein wenig betreten. „Hoffentlich. Die Kerle haben mich gefunden, als ich rauskommen wollte, um nach Hause zu gehen."

„Du hast Glück gehabt, dass ich gerade in der Nähe war. Aber sie werden dich nicht noch einmal behelligen!" Es lag ein wenig Genugtuung in Victors Stimme, als er das sagte. Er ging in raschem Schritt in Richtung des Dorfes los und sie folgte ihm mühelos. Er spürte, dass sie ihn von der Seite her betrachtete. Sie waren noch nicht lange gegangen, als sie wieder mit ihm sprach.

„Ihr scheint mich zu kennen, Herr. Woher? Und wer seid Ihr?", fragte sie neugierig.

Victor lachte leise. „Jeder hier im Umkreis hat schon von dir gehört", sagte er sanft. Es war keine Lüge. Ihre Wesensart war zu ungewöhnlich für diese Gegend, um nicht aufzufallen. „Wer ich bin, fragst du? Ein Freund", antwortete er dann freundlich.

„Ihr kommt mir seltsam bekannt vor", bemerkte sie nachdenklich in dem Ton von jemandem, dem etwas auf der Zunge liegt, ohne es indessen erreichen zu können. „Aber ich kann einfach nicht sagen, weshalb."

„In einem Menschenleben begegnen wir vielen, ohne dass wir uns an alle davon erinnern," erwiderte er milde.

„Jemand wie Ihr wäre mir sicher aufgefallen", antwortete Sarah bestimmt und mit einer Beharrlichkeit, die ihm schmerzlich vertraut war. „Ihr seid… anders."

Erneut ein leises Lachen. „Kluges Mädchen."

„Ihr wollt mir also nichts verraten?" Sarah klang enttäuscht.

„Es ist besser so", tröstete er versöhnlich. „Ich täte dir keinen Gefallen. Ich bin … nicht beliebt in der Gegend."

„Das kann ich nicht glauben!" Sie klang verblüfft, als sie das sagte. „Ihr wart wirklich sehr nett. Netter als die meisten Männer, die ich kenne."

„Das beweist gar nichts, Sternenkind. Wie viele kennst du denn wirklich? Woher willst du wissen, ob ich dich nicht umgarnen möchte, weil ich wer weiß was mit dir vor habe?"

„Nein, nein. So etwas habe ich schon öfter gesehen. Das passiert andauernd in unserer Gaststube. Dann würdet Ihr Euch keine Gedanken machen, was Papa mit mir anstellt, wenn ich zurückkomme."

Victor Lächelte. ‚Sie ist immer noch ein naives junges Ding, ganz gleich, was sie im Wirtshaus beobachtet.' „Sei vorsichtig. Du bist noch viel zu jung, um so etwas beurteilen zu können, du Grünschnabel", erwiderte er warnend. Sie waren mittlerweile fast am Ortsrand angekommen. Es war höchste Zeit, dafür zu sorgen, dass sie ihr erneutes Zusammentreffen vergaß. „Hätte ich dich sonst vor diesen Strolchen retten müssen?"

„Ich hatte keine Angst!", widersprach sie lebhaft. „Wie Mama, sie fürchtet sich nicht mal vor den Männern, die zu viel getrunken haben!"

„Das ist etwas anderes. Sie hat ihren Mann dabei. Du warst ganz allein da draußen." Er blieb stehen, wandte sich zu ihr um und legte eine Hand unter ihr Kinn. Sie folgte seiner Bewegung und er traf aus den Schatten der Kapuze heraus ihren Blick. „Versprich mir, dass…" Er berührte ihren Geist um ihr zu befehlen und schon sah er den typischen, leicht abwesenden Blick in ihren Augen, als eine donnernde Stimme durch das tiefer werdende Dunkel drang. „Sarah!" Ihr Vater war nicht weit entfernt aufgetaucht und kam auf sie zu. Er hatte sie beide gesehen! Es blieb ihm keine Zeit mehr. Schon seine Kleidung genügte, ihn auf diese Distanz zu verraten. Victor drehte sich auf dem Absatz um und eilte davon. Gerade soweit, dass er beobachten konnte, ohne selbst gesehen zu werden. Das hier würde Konsequenzen haben und er wollte wissen, was ihr nun bevorstand.

„Wo kommst du her?", schalt der Wirt und packte seine Tochter am Arm. „Hab ich dir nicht tausend Mal gesagt, du sollst um diese Zeit drinnen bleiben? Wie konntest du nur mit diesem Mann herumlaufen! Jetzt haben wir den Schlamassel!"

„Aber Papa, er hat mir doch nur geholfen! Ich war unten am Teich, die Jungen wollten mich nicht herauslassen. "Er hat sie verjagt und dann wollte er mich nach Hause bringen."

„Nebbich, was redest du da für einen Unsinn! Der ist für vieles bekannt, aber gewiss nicht, dass er hübsche kleine Frätzchen wie dich beschützt!"

Der Wirt zog seine Tochter ins Licht eines Fensters und betrachtete eingehend ihren Hals von beiden Seiten. Die Tatsache, dass er keine Bisswunden fand, schien ihn zu erleichtern, nicht aber seinen Zorn zu beruhigen.

„Du solltest lieber dankbar sein!", begehrte Sarah zornig auf. „Ich habe zwar keine Ahnung wer er war, aber…"

„Pah! Das zeigt nur, wie wenig du im Kopf hast, wenn es darauf ankommt! Immer nur die Baderei im Sinn! Denk' in Zukunft nach, bevor du in das erstbeste Wasser hüpfst, das du findest! Aber jetzt, jetzt ist es genug, Wuschelschöpfchen! Dieses Mal reicht es wirklich!"

Er zerrte sie mit großen Schritten weiter in Richtung Gasthaus. „Ich werde dich gehorchen lehren! In der Schule werden sie dir schon beibringen, was mit denen passiert, die sich herumtreiben!" Die zornigen Worte waren das Letzte, was Victor hörte, ehe die Tür unsanft hinter ihnen geschlossen wurde.

Es tut mir leid, Sternenkind. Das hat nicht passieren sollen.' dachte Victor wehmütig. Doch der Schaden war angerichtet. Nichts konnte das jetzt noch ändern. Dieses Wortgefecht würde nicht das Ende sein. Er ahnte nur zu gut, was auf sie zukam und war doch vollkommen hilflos, es zu verhindern.

Author's Note:

Iosif: Rumänische Version von Josef.

Serghei: Rumänischer Vorname. Abgeleitet vom griechischen Sergius. Bedeutung: der Seargant/ Feldwebel.

Ich war schon immer der Meinung, Sarah und der Graf sind sich vorher schon über den Weg gelaufen. Kurzes Kapitel diesmal, die nächsten sollten aber wieder länger werden.