Kapitel 22: Was du erträumst, wird Wahrheit sein

Der erzürnte Wirt hatte keine Zeit verloren seine Drohung in die Tat umzusetzen. Seit er Sarah zusammen mit Victor gesehen, hatte sein Sternkind das Haus nicht mehr verlassen dürfen. Es schmerzte ihn, sie wie einen gefangenen Singvogel eingesperrt zu sehen. Die Tatsache, dass sie für ihren ‚Retter' Partei ergriff, hatte ihr womöglich die bisher schlimmste Tracht Prügel eingebracht, die sie jemals bekommen hatte. Diesmal hatte selbst ihre Mutter nicht still zu ihr gehalten, abwechselnd jammernd oder klagend. Statt dessen war Madame Chagal mit in die Strafpredigt eingestimmt. Sein Sternkind war vermutlich die Einzige, die nicht begriffen hatte, wer ihr verhüllter Begleiter gewesen war, weshalb sie die Reaktion der Eltern nicht verstand. Sie war zu jung und viel zu naiv. Für sie war er der galante Retter, dem sie keine bösen Absichten zutraute, obwohl selbst Victor sie gewarnt hatte. Daher blieb es Sarah ein Rätsel weshalb niemand außer ihr zu glauben schien, der Unbekannte verdiene Dank. Sie hatte in der Dämmerung zu wenig von ihm gesehen um auf seine Herkunft zu schließen. Auf die Frage, um welchen Nachbarn es sich denn gehandelt habe, hatte sie nur abfällige Antworten erhalten. Das junge Ding war also nicht auf die Idee gekommen, der freundliche Fremde als auch der berüchtigte, unheimliche Graf könnten in Wahrheit ein und derselbe Mann sein. Die Eltern indessen hatten es ihr auch nicht erklärt. Die Wirtsleute hatten kein Interesse daran das ihre Tochter es herausfand. Sie zogen es vor den sicheren Weg einzuschlagen. Deshalb gaben sie Sarah auf eine Schule in einer Stadt. Größtmögliche Entfernung zu ihrem bisherigen Aufenthaltsort schien dabei das Hauptkriterium darzustellen. Binnen zwei Wochen war sein Sternkind aus dem Tal verschwunden, das ihre Heimat war.

Alles schien dunkler ohne sie. Ihr heller Stern war in die Ferne gerückt. Er konnte sie spüren, doch sie war so entfernt, das er sie kaum erreichen konnte. Die Welt um ihn herum schien sowohl matter, als auch abgestumpft jetzt, da sie fort war. ‚Unsinn', schalt sich Victor. ‚Zwischen uns ist nichts, was gibt es da zu vermissen?' fragte er sich verärgert. ‚Wer sagt dir außerdem, dass sie dich will, wenn die Zeit kommt? Klammere dich nicht zu sehr an sie, alter Narr! Oder wie willst du eine Ewigkeit ohne sie ertragen?' Vor diesem Gedanken schreckte Victor zurück. Sarah war eine Ahnung am Horizont, nicht mehr. Doch der Gedanke, sie vorbeiziehen zu lassen und ein Meer der Zeit ohne sie zu ertragen, war ein Grauen, dessen Vorstellung ihm unvorstellbar schien. ‚Aber du wirst es tun müssen, wenn es ihr Wunsch ist', ermahnte er sich. ‚Denk an Herbert. Er wurde des Lebens beraubt, du musstest die Entscheidung für ihn treffen. Der einzige Grund, warum er dich dafür nie gehasst hat, ist, dass er dich als Retter ansieht. Er hält es für eine Art Geschenk, das du ihm unter den gegebenen Umständen gemacht hast. Bei ihr wäre das ganz anders. Wie würdest du dich fühlen, wenn du das Vertrauen, das sie dir bisher entgegengebracht hat, missbrauchen würdest? Wenn du diesen starken Willen mit deinem eigenen Verlangen beugst? Es wäre ein einziger, großer Betrug! Mit dem einzigen Ziel, sie unsterblich zu machen, damit du sie behalten kannst!' Mit Entsetzen schüttelte er den Kopf, um die Vorstellung zu vertreiben. ‚Nein, niemals!' schwor er sich. Elisabeths Liebe war so kostbar gewesen, weil sie ihm freiwillig geschenkt wurde. Nie könnte er etwas anderes akzeptieren. Er würde sie gehen lassen, auch wenn es sein Ende bedeutete. Zumindest wäre das gerecht. Sein Leben für jenes, das er ihr einst genommen hatte. Die Entscheidung darüber würde am Ende sie treffen, nicht er. So seltsam es auch sein mochte, doch dieser Gedanke half Viktor dabei, ihre Abwesenheit zu ertragen.

Jahre vergingen, ohne dass die Wirtsleute ihre Tochter auch nur ein einziges Mal zurück kommen ließen. Sie hatten das Interesse nie vergessen, das der Graf an Sarah zeigte, als er sie an jenem Abend zurückbrachte. Aber Victor wartete seine Zeit ab. Sie würde zurückkommen, so sicher wie der Sonnenaufgang der Nacht folgt.

In der Zwischenzeit ging er seinen Aufgaben nach. Doch im Licht seines neuesten Entschlusses widmete er Herbert so viel seiner Zeit, wie möglich, ohne ihn in seine Pläne einzuweihen. Es schien sinnlos den Jungen wegen einer Möglichkeit zu ängstigen, die vielleicht nicht eintreten würde. Sein Sohn stellte keine Fragen, aber manchmal sah Victor einen nachdenklichen Ausdruck in den Augen des jüngeren Vampirs, die deutlich zeigten, dass er mehr ahnte, als es ihm lieb war. Doch in stillschweigender Übereinkunft sprach keiner von ihnen davon. Beide zogen es vor die Dinge so zu belassen, wie sie gerade waren und es zu genießen, ohne darüber nachzudenken, wie lange dieser Zustand andauern konnte.

Eines Nachts wachte Victor mit dem Gefühl auf, dass sich etwas verändert hatte. Noch bevor er die Augen aufschlug, tastete er mit seinem siebten Sinn hinaus in die Nacht. Er wurde von einer Präsenz überrascht, hell und klar wie der Nordstern. Mit einem Lächeln öffnete er die Augen. Sie war wieder da!

Das Dorf hatte sich nicht verändert. Es waren noch die selben mit Holzschindeln gedeckten, kleinen Häuser, hinter ihren Einfassungen aus Flechtwerkzäunen. Auf Sarah traf das hingegen nicht zu. Sie war immer hübsch gewesen, doch jetzt war sie zu einer wahren Schönheit herangewachsen. Ein oval geformtes Gesicht mit einem grün-braunen Augenpaar, hell wie die Sterne. Ihre Züge hatten sich kaum verändert, zeigten zwar ihre Jugend, aber das Kindliche darin war verschwunden. Sie war von durchschnittlicher Größe, weder üppig noch zerbrechlich mit gesunder, aber nicht gebräunter Hautfarbe. Die wunderschönen Locken waren erhalten geblieben und flossen jetzt lang über ihren Rücken. Sarahs Charakter war mit der Erziehung, die sie erhalten hatte, gereift, doch sie hatte sich nicht verändert. Das Baden war zu ihrer Leidenschaft geworden, wie Victor mit einem amüsierten Lächeln feststellte. Das Stadtleben hatte ihren rastlosen Hunger nach dem Leben nicht gestillt. Im Gegenteil, es schien dass es die Sehnsucht nach etwas genährt hatte, auch wenn sie nicht begriff, wonach sie suchte. Doch ihre Freiheit währte nur kurz. Sobald Chagal bemerkte, dass die Kerle in der Wirtsstube sie begafften, durfte sein Sternkind ihr Zimmer nicht mehr verlassen, sobald Fremde im Haus waren. Sarahs Protest gegen die Unmenge an Knoblauch, der überall im Haus aufgehängt war, blieb von ihren Eltern unbeachtet. Ihr Groll kochte, aber sie konnte nichts ausrichten. Wie so viele junge Frauen im ganzen Land wurde sie dafür verwahrt, um zum größtmöglichen Vorteil verheiratet zu werden.

Bald', wollte er ihr am liebsten zuflüstern. ‚Bald wirst du frei sein, wenn du es willst!' Aber er schwieg. Es war nicht seine Entscheidung. ‚Lass sie dich finden!' gemahnte er sich und glitt zurück in die Schatten der Nacht.

Indessen hinderte die Einhaltung seiner Vorsätze Victor nicht daran, seine frühere Routine Sarah gegenüber in abgewandelter Form wieder aufzunehmen. Jetzt, da sie im heiratsfähigen Alter war genügte es nicht länger, nur zwei Mal im Jahr nach ihr zu sehen. In unregelmäßigen Abständen kam er nun innerhalb weniger Wochen zu dem Dorf. Doch Victor blieb der ungesehene, stumme Schatten im Dunkel.

Zusätzlich hatte er Koukol angewiesen, ein Auge auf die Geschehnisse in dem Wirtshaus zu halten, so oft sich ihm die Gelegenheit bot. Der Graf hatte seinem Diener keine Gründe genannt, und der Bucklige hatte keine weiteren Fragen gestellt. Er gehorchte dem Willen seines Herrn, ohne ihn jemals in Frage zu stellen. Auch nicht als er begann ihm seltsame Aufträge zu erteilen. Klaglos sorgte er dafür das eine Reihe seltsamer Päckchen und Briefe sowohl den Schuhmacher als auch den Schneider in der Hochburg der Grafschaft erreichten. Einige Wochen später nahm er Pakete und Kisten entgegen, die begannen, im Schloss einzutreffen. Auf Geheiß seines Herren schaffte Koukol alles in die lange verwaiste Zimmerflucht im vierten Stock, die für die Gräfin gedacht war. Doch damit nicht genug. Obgleich ebenso in die Modernisierungen einbezogen wie seine eigenen und Herberts Räumlichkeiten, war die Suite lange nicht genutzt worden. Jetzt richtete Koukol sie wieder her, so das sie jederzeit einen neuen Bewohner hätte aufnehmen können. Fortan gehörte sie zu der Anzahl von Räumen, die der treue Diener regelmäßig in Ordnung hielt.

Dem Sohn des Grafen blieb dies alles nicht verborgen.

„Ich kann nicht umhin zu bemerken, dass du in letzter Zeit sehr häufig in einem bestimmten Dorf herum schleichst," bemerkte Herbert eines Abends, als sie gemeinsam Schach spielten.

Victor zuckte nonchalant die Schultern. „Das kann ich nicht bestreiten," entgegnete er ausweichend.

„Wirst du mir sagen weshalb?" fragte Herbert sanft.

Der Graf zögerte. Dann gab er mit einem Seufzen nach. „Es gibt dort ein Mädchen, das mich interessiert. Sie ist… etwas besonderes," antwortete er vorsichtig.

„Sollte ich dir gratulieren?" fragte Herbert mit einem beinahe schelmischen Lächeln. Doch Victor erwiderte es nicht. „Nein. Vielleicht wird nie etwas daraus," entgegnete er ein wenig brüsk.

Sein Sohn zuckte ein wenig zurück, dann runzelte er die Stirn.

„Warum das? Wenn du sie nicht wolltest, würdest du dich nicht so oft dort herum treiben. Abgesehen davon, wieso hast du sonst Koukol Mutters Zimmer herrichten lassen? Von all den Dingen, die du eigens ins Schloss schaffen lassen, gar nicht zu sprechen. Ich nehme an, du hast schon lange insgeheim ein Auge auf diese Sterbliche und die Sache ist dir ernst."

„Nimm an, was du möchtest," entgegnete der Graf. „Aber halte dich von ihr fern. Ich möchte, dass es ihre Entscheidung ist. Es ist nicht an mir, den ersten Schritt zu machen."

„Du willst sie dem erst besten Sterblichen überlassen, der auf sie aufmerksam werden könnte?" fragte Herbert ungläubig. „Das sieht dir nicht ähnlich. Nein, ich glaube dir kein Wort davon!" hielt der jüngere Vampir dagegen.

Victor funkelte ihn ungehalten an. „Herbert, es reicht!" knurrte er warnend. „Halte dich da heraus! Es sind immer noch meine Angelegenheiten!"

Sein Sohn rollte vielsagend mit den Augen. „Nun gut, rede dir ein was immer dir beliebt," entgegnete er irritiert. „Wenn sie dumm genug ist, einen Sterblichen dir vorzuziehen, hat sie dich ohnehin nicht verdient," setzte er dann mit einem spitzbübischen Grinsen hinzu. Doch nach einem finsteren Blick des Grafen wandte er sich wieder der begonnenen Partie Schach zu und schwieg.

Wochen und Monate vergingen in trügerischer Ruhe. Chagal schien es einstweilen nicht eilig zu haben, seine Tochter zu verheiraten. Tatsächlich war er für den Augenblick fest entschlossen sie noch als Kind zu betrachten. Eine Kurzsichtigkeit, die sicher in der langen Trennung begründet lag. Victor kam das außerordentlich gelegen. Um so mehr Zeit würde ihr bleiben, den Weg zu ihm alleine zu finden.

Der Herbst verging und bald begann es zu schneien. Wenn es nach den Schneemengen ging, versprach der Winter in diesem Jahr streng zu werden. Der Graf machte es sich nun immer häufiger mit einem Buch vor dem Kamin bequem. Derzeit verschlang er das Werk eines Philosophen, den er erst kürzlich entdeckt hatte. Ein am Ende wahnsinnig gewordenes Genie, dessen Thesen sich seltsamerweise häufig mit seinen eigenen Erfahrungen deckten. ‚Gott ist tot'*0? Ein interessanter Ansatz. Dieser scheinbare Atheismus machte ihm den Autor seltsam sympatisch. Die Idee einer Moral, die sich jenseits von Gut und Böse stellte und somit wahrhaft freies Denken ermöglichen sollte, schien ihm beinahe ein WEgweiser aus seiner eigenen Misere, wenn er ihm den folgen konnte. Die Flammende Kritik an der christlichen Weltanschauung, die zum Fallen verurteilt sei, klang vollkommen nachvollziehbar und logisch. Zumindest für den Leser mit über 300 Jahren Lebenserfahrung Mit den Gedanken, dass der schöpferische Wille stets vernichten und überwinden müsse, als auch das Leben sei grundsätzlich zu bejahen, tat er sich dagegen schwer. Zumal wenn er daran dachte, was das im Umkehrschluss alles nach sich zog.

So lange draußen die Kälte regierte, würden sich die Menschen umso häufiger drinnen versammeln, wo das möglich war. Für sein Sternkind bedeutete dies, dass sie sich lediglich in den Bereichen des Hauses bewegen konnte, die nicht von den Bauern und Holzfällern betreten wurden, die sowohl zum Schwatzen als auch zum Zechen in das Wirtshaus kamen. Diesen Zustand würde sie nicht mehr lange ertragen. Es war nur eine Frage der Zeit bis sie eine Möglichkeit fand aufzubegehren.

Das Jahr neigte sich seinem Ende entgegen, bald würde es an der Zeit sein, sich seinem Teil der Vorbereitungen für den Mitternachtsball zuzuwenden. Doch es hatte keine Eile. Das letzte was er in den langen Dezembernächten erwartete, war das auftauchen von Koukol mit Neuigkeiten. Und eben dies geschah. An einem Abend Mitte Dezember kam der Bucklige zu ihm, kaum dass er sich erhoben hatte. Koukol verbeugte sich so gut er das bewerkstelligen konnte. „Guten Abend, Herr. Nachrichten," brachte er mühsam mit seiner heiseren Stimme hervor. Mit ernster Miene gab er Victor das zwischen ihnen vereinbarte Zeichen, das er auf ihre spezielle Art mit ihm zu sprechen wünschte. Koukol hatte dieses Vorrecht in all der Zeit, die er ihm Schatten des Vampirs lebte, nie leichtfertig gebraucht. Auch dass er in der Gruft gewartet hatte, dass sein Herr sich erhob, war auf keinen Fall ein gutes Zeichen. „Sprich, Koukol, was gibt es zu berichten?" forderte er eindringlich und öffnete sich den Gedanken seines Dieners.

Koukol zögerte keinen Augenblick. ‚Herr, Fremde sind bei Chagal abgestiegen. Einer ist ein alter, neugieriger Greis, der zu viele Fragen stellt. Der zweite ist ein junges Bürschchen, das von dem Alten herumkommandiert wird. Der Kerl scheint ein Auge auf das Mädchen geworfen zu haben.'

Victor fluchte unwillkürlich. Doch er fasste sich rasch um sich wieder seinem Diener zuzuwenden. „Gut gemacht, Koukol. Ich werde mir die Angelegenheit ansehen. Gibt es sonst noch etwas?"

‚Nein, Herr. Alles ist vorbereitet, wie immer.'

Victor nickte anerkennend, bevor er Koukol sanft den Kopf tätschelte. „Geh jetzt, ich habe zu tun." wies er ihn an. Herbert, der gerade aus dem Sarg stieg, warf seinem Vater einen halb spöttischen, halb belustigten Blick zu. Der Graf erwiderte den Blick aus verengten Augen, dann ließ er seinen Sohn stehen und verließ betont gleichmütig das Schloss. Sobald er im Wald verschwunden war, ließ er die Maskerade jedoch fallen. So schnell es der Hohe Schnee zuließ, begab er sich zum Wirtshaus, um selbst nach dem rechten zu sehen.

Die Gaststube war geschlossen, als er ankam, lediglich aus den Fenstern in den Oberen Geschossen drang noch Licht. In dieser Nacht wagte er sich viel näher an das Wirtshaus heran als gewöhnlich. Aber der Schnee rund um es herum und in dem kleinen, zur Straße hin offenen Hof war so zertrampelt, das seine eigenen Fußabdrücke nicht auffallen würden. Die schweren Wolken am Himmel versprachen im übrigen in Bälde weitere Schneeschauer. Aus den Schatten heraus beobachtete er Sarahs Fenster. Ihre Kerze brannte, aber sie war nicht zu sehen. Victor schloss die Augen. Seinen siebten Sinn nutzend öffnete er sich ihrem Sterblichen Geist. Sie stand im Bad einem blonden Burschen gegenüber, der sie, einen Schwamm in der Hand, verzückt anstarrte. Sarah war nicht frei von Koketterie oder Eitelkeit. Von der eindeutigen Aufmerksamkeit des Jungen geschmeichelt, schenkte sie ihm ein Lächeln. Kein Mädchen das sich selbst für hübsch hielt, hätte der Versuchung widerstanden, ihre eigene Macht in einem solch günstigen Moment auf die Probe zu stellen. Doch ihr Gegenüber erwiderte es nicht nur nicht, wie bei etwas ungehörigem ertappt schrak er heftig zusammen. Er ließ den Schwamm achtlos fallen, war mit einem Satz durch die Tür und schloss sie hastig hinter sich. Sarah schmollte etwas, dann hob sie kopfschüttelnd ihren Schwamm auf, um damit in ihre Kammer zurückzukehren.

Bald darauf ging sie zu Bett. Doch sein Sternkind schlief nicht. Stattdessen lag sie wach und sann über den Jungen nach. Victor brauchte nicht lange, um ihrem offen vor ihm liegenden Verstand alle Informationen zu entnehmen, derer er bedurfte, um sich ein Bild zu machen. Er war anders als die ungehobelten jungen, mit denen sie aufgewachsen war. Dass er schüchtern und ängstlich zu sein schien war eine interessante Abwechslung. Noch dazu war er ansehnlicher als die meisten der jungen Männer des Dorfes. Er beobachtete Sarah, seit ihr Vater ihn und seinen greisen Begleiter versehentlich ins Badezimmer geführt hatte, ohne zu wissen, wer gerade darin saß.

Ausgerechnet!' durchzuckte es Victor. ‚Ein grüner Bengel, benebelt von den ersten sich regenden fleischlichen Gelüsten und davon augenscheinlich auch überfordert.' Sarah dagegen,– bei ihr war es anders. Er war sich dessen bewusst, dass ihre Sehnsüchte wuchsen. Doch jetzt zu sehen, wie sie begann mit dem ersten Burschen zu tändeln der ihr vor Augen kam? Es führte ihm deutlich vor Augen das sie instinktiv tatkräftig nach dem zu suchen begann,was ihr fehlte, nach dem die alte Seele in ihr verlangte. Es war an der Zeit für ihn zu handeln. Er hatte nur zwei Möglichkeiten: entweder hielt er sich zurück, um zuzulassen, dass sie ihm entglitt, sich an diesen dummen Jungen vergeudete. Er war anders als die Flegel im Dorf und in ihrer jugendlichen Unwissenheit hielt sie dieses Bürschchen für die bessere Option. Wenn sie herausfand, dass er ihr nicht genügte, würde es zu spät sein. Oder er wagte es selbst, endlich seinen eigenen Zug zu machen, weil er seine Seelengefährtin nicht endgültig verlieren wollte. Victor brauchte nicht lange, um seine Entscheidung zu treffen und alle guten Vorsätze hinfort zu fegen. Sie nie wieder sehen, niemals bei sich haben zu können... Nein! Der Himmel mochte ihm beistehen, aber er konnte sich nicht von ihr abwenden. Niemals würde er sie kampflos einem dahergelaufenen Bengel überlassen! Zum ersten Mal seit ihrer Geburt erlaubte er sich, sie in Gedanken zu rufen, aus keinem anderen Grund als dem, dass er es wollte.

'Jahrelang war ich nur Ahnung in dir. Jetzt suchst du mich, du hast Sehnsucht nach mir. Freu dich, Sternkind! Uns beide trennt nur noch ein winziges Stück. Wenn ich dich rufe, hält dich nichts mehr zurück. Getrieben von Träumen und hungrig nach Glück...'*1

Er konnte es nicht unterdrücken. Seine eigenen Sehnsüchte mischten sich zwischen die Dinge, die er sagen wollte. Gefühle und Vorstellungen, die für ihren sterblichen Verstand vermutlich verschwommen blieben. Aber sie würde die Wahrheit hinter dem leidenschaftlichen, flüsternden Versprechen spüren. ''Schweb mit mir in den Abgrund der Nacht und verliere dich in mir. Zusammen werden wir bis ans Ende jeder Ewigkeit gehen!' *2 versprach er. Sterne über ihm, wie er wollte, dass sie ihn wählte und sich ihm hingab. Es fühlte sich so ähnlich an, als ob er nicht atmen könnte, egal wie verzweifelt er es brauchte. Aber konnte er sie wirklich auf diesen Weg führen, da er wusste, dass sie sterben musste, wenn sie jemals eine echte Chance auf ein gemeinsames Leben haben sollten? Denn sie würde sterben müssen um ewig zu leben. Kein Weg führte daran vorbei.

Als habe sie seine Zweifel gespürt, tat sie in diesem Moment etwas, mit dem er nicht gerechnet hatte, ja dass er keinem Sterblichen zugetraut hatte. Sie antwortete ihm! ‚Ich höre deine Stimme, die mich ruft!'*3 Geh nicht weg!'

Einen Moment war er zu erstaunt um zu reagieren. Sein Herz setzte einen Schlag lang aus und schlug dann umso schneller. Er hatte keine Ahnung wie das möglich war, aber sie begann ein Gespür dafür zu entwickeln, wann er ihr nahe war.

Zärtlich streifte Victor ihren Geist mit einer behutsamen Liebkosung. ‚Nicht mehr lang, Sternkind,' versicherte er beruhigend. ‚Ich werde dir die Tiefe der Nacht zeigen. Meine Liebe begleitet dich die ganze Zeit wie dein Schatten.'*4 In diesem Moment trat sie mit ihrer brennenden Kerze in der Hand an ihr Fenster, um in die Dunkelheit hinauszuschauen. Das brachte ihn zum Lächeln. Sie wusste wirklich, dass er hier draußen war, auch wenn sie ihn nicht sehen konnte. Konnte sie seine Aura fühlen? fragte er sich verblüfft. ‚Sie war erstaunlich.' Er hatte noch nie einen Sterblichen getroffen, der so etwas vermochte. Nicht einmal die arme, süße Nadeschda war je dazu in der Lage gewesen. Victor gestattete ihnen beiden eine weitere mentale Liebkosung. ‚Hab Geduld, mein Liebling. Da ich alle deine Träume kenne, verstehe ich, was du brauchst. Wenn ich dich rufe, sollst du gehen, wohin ich dich führe. Deine Träume sind so hungrig, es ist höchste Zeit, sie zu erfüllen.'*5 Er spürte, wie sie bei den letzten Worten sowohl vor Aufregung als auch vor unbestimmter Furcht erschauderte. Wenn es möglich war, verspürte er deshalb noch mehr Zuneigung für sie. Sarah mochte jung sein, aber sie war nicht dumm. Ihre angeborenen Instinkte waren stärker als alles, was er in drei Jahrhunderten erlebt hatte. ‚Bald,' versprach er erneut. ‚Sei bereit.'*6

Aus dem Schatten, in dem er kauerte, konnte er ihr zitterndes Lächeln sehen. Er erkannte, dass es Zeit war, zu gehen. Selbst sie, die Eigensinnige und Widerspenstige, hatte am nächsten Morgen ihre häuslichen Pflichten zu erfüllen. Mit einem wortlosen Abschiedsgruß zog er sich zurück und entschwand. Er ging eine ganze Weile, bis er sich sicher war, dass er genug Abstand zwischen sie gebracht hatte, bevor er sich wieder seinen eigenen Gedanken zuwandte. Noch nie war ein sterblicher Geist dem seinen so nahe gekommen, und das scheinbar völlig ohne Anstrengung. Er wollte sichergehen, dass er ihr keine Ideen eingab, die nicht ihre eigenen waren. Er sah jetzt, wie leicht das passieren konnte, wenn er ihren Geist in eine so enge Verbindung mit seinem eigenen brachte wie heute Abend. Am besten, er tat es nicht noch einmal, wenn es sich vermeiden ließ...

Aber ihre wortlose Reaktion auf seinen Ruf war nicht sein Werk, sondern ihres ganz allein. ‚Geh nicht weg', die Erinnerung an ihre stumme Bitte hallte in seinen Gedanken wieder. ‚Niemals' antwortete er im stillen. ‚Nicht nach heute Nacht!'

Seine Hoffnungen schienen weder unbegründet noch unerwünscht, ihre Worte ließen keinen anderen Schluss zu. Es war ein untrügliches Zeichen, eine freie Äußerung ihres Willens. Es mochte zu riskant sein telepathisch mit ihr zu sprechen, aber nach heute Nacht gab es keinen Grund mehr, der ihn daran hinderte, eine Tatsächliche Begegnung herbei zu führen. Er würde ihr offen den Hof machen, auf all die Arten, in denen er es in seiner Lage vermochte, mit allem was dazu gehörte. Was den Burschen betraf, nun, jedem seine eigenen Waffen. Es würde sich schon herausstellen, wen sein Sternkind wählen würde, den törichten grünen Jungen oder ihn!

Als er ins Schloss zurückgekehrt war und seine vom Schnee durchnässte Kleidung gewechselt hatte, suchte Victor seinen Sohn im großen Salon im zweiten Stock auf. Als er eintrat, war Herbert gerade dabei, an seiner letzten Komposition für den diesjährigen Mitternachtsball zu feilen. Er hatte seinen Sohn seit der Einführung des Balls schon so oft dabei gesehen, dass er sofort erkannte, dass er beinahe fertig war. Leise schlenderte er zum Klavier hinüber und lehnte sich lässig gegen das Instrument. Herbert ließ sich mit seiner Partitur demonstrativ Zeit, bevor er zu seinem Vater aufsah.

„Euer Merkwürden sind zurück, wie ich sehe. Was verschafft mir die Ehre deiner Gesellschaft?" bemerkte er.

„Ich möchte mit dir reden, Herbert," entgegnete Victor gelassen.

„Tatsächlich? Ich glaube mich zu erinnern das du sagtest ich solle mich aus deinen Angelegenheiten heraus halten!" konterte Herbert schnippisch und sah ihn mit zusammengezogenen Brauen an. Victor seufzte. Er hatte es verdient, dass der Junge ihn spüren ließ, dass er ihn gekränkt hatte.

„Verzeih mir, Herbert. Es tut mir leid. Du hattest recht – wieder einmal," antwortete Victor reumütig und machte die Andeutung einer leichten Verbeugung.

„Wie schön das du dass endlich bemerkst!" zischte Herbert ungehalten. „Ach, wieso ärgere ich mich überhaupt noch über dich! In derlei Dingen warst du ja noch nie der schnellste," schalt Herbert immer noch verärgert. Der Graf warf ihm unter gehobenen Brauen einen durchdringenden, tadelnden Blick zu.

„Nein, schau mich nicht so an." wehrte Herbert erregt ab. „Ich sage das nicht in meiner Funktion als Sohn, sondern als Freund!" Victor sah ihn weiter unverwandt an, aber es zuckte ein wenig belustigt um seine Mundwinkel. Es war offensichtlich das er ein Lächeln unterdrückte. Herbert warf verärgert die Hände in die Höhe. „Schon gut, schon gut," murrte er. Dann, mit einem tiefen Seufzen beruhigte er sich und seine Züge hellten sich auf. „Also, worüber willst du mit mir reden?"

„Wir haben vor langer Zeit eine Vereinbarung getroffen," begann Victor vorsichtig. „Keiner von uns sollte einen weiteren Vampir erschaffen, ohne die Angelegenheit zu besprechen, falls wir jemals in Versuchung kommen sollten. Der Zeitpunkt ist gekommen, Herbert," gestand er offen.

„Du liebe Zeit, es ist dieses Mädchen, nicht wahr?" fragte Herbert verblüfft. „Deshalb hast du all diese Dinge bestellt und Mutters Gemächer vorbereiten lassen. Es ist dir ernst damit. Ich hatte meine Vermutungen, aber das hier geht weit darüber hinaus. Nun, berichte mir von ihr. Bekomme ich jetzt etwa doch noch eine Stiefmutter?" frage er schelmisch.

Victor schüttelte den Kopf. Dann kam er herüber und setzte sich mit einem Seufzer neben Herbert auf die Klavierbank. „Was wäre, wenn ich dir sagen würde, dass ich deine Mutter wiedergefunden habe?" fragte er unverblümt.

Sein Sohn runzelte die Stirn. „Bist du dir da sicher? Ist so etwas überhaupt möglich?" entgegnete er zweifelnd. „Der einzige Grund, warum ich das überhaupt in Betracht ziehe, ist, dass du nicht zu irgendwelchen Fantastereien neigst, Vater."

„Sei dir bei dem letzten Punk lieber nicht so sicher, Herbert. Von Anfang an habe ich daran geglaubt, dass es möglich ist und mehr noch, ich wollte es auch. Der Skeptiker hat einen Hang zur romantischen Torheit, fürchte ich..." Victor schüttelte den Kopf mit einem spöttischen Schnauben. „Doch ich glaubte nicht mehr daran seit - nun ja, jedenfalls lange Zeit nicht mehr. Dann, vor achtzehn Jahren, fing ich plötzlich an, über eine Reihe von Symbolen des Wandels und des Neuanfangs zu stolpern. Ich traute keinem von ihnen, denn ich dachte, dass ich über solche dummen Ideen schon lange hinausgewachsen war. Aber eines Tages träumte ich von deiner Mutter."

Herberts Stirnrunzeln vertiefte sich und eine steile Falte zeichnete sich zwischen seinen Brauen ab. Doch Victor hob eine Hand zum Zeichen, dass er ihn zu Ende anhören sollte, und sein Sohn kam der unausgesprochenen Bitte nach.

„Ja, ich weiß, es sollte eigentlich nicht möglich sein, aber es ist sogar zwei Mal passiert. Bei der ersten Begebenheit bat Elisabeth mich, das an ihrem Grab gegebene Versprechen einzuhalten. Ihr eine Chance zu geben, sich zu beweisen, wenn sie zurückkehren würde und keine Fragen zu stellen."

„Das war vielleicht doch nur Wunschdenken," unterbrach ihn Herbert nun doch. Er war offensichtlich nicht überzeugt. „Tief in deinem Inneren hast du vielleicht immer noch den Wunsch nach so etwas wie einem Wunder gehegt," gab er voller Argwohn zu bedenken.

Victor nickte mit einem schmalen Lächeln. „Ja, das wollte ich zuerst auch glauben. Aber es fühlte sich echt an, Herbert. Der Traum verblasste auch nicht in der Art, wie sie es früher taten, als wir noch träumen konnten. Ich versuchte mir einzureden, dass ich mich nur aus einem tief verwurzelten Gefühl der Verpflichtung und des Anstands heraus an das in dieser Scheinwelt gegebene Versprechen gebunden fühlte. Während ich noch fest entschlossen war, alles für eine Ausgeburt meines eigenen Geistes zu halten, geschah es erneut. Doch diesmal war es anders. Ich fand mich in einem mir unbekannten Haus wieder und sah eine Familie, die ich noch nie getroffen hatte. An diesem Tag wurde dort ein Kind geboren und ein Gefühl drängte mich, es zu finden. Egal, wie sehr ich es danach beiseite schieben wollte, der Drang wurde immer stärker, bis ich schließlich nachgab. Ich wusste nicht, was mich erwartete, als ich sie schließlich fand. Als ihre Augen zum ersten Mal die meinen trafen, wusste ich es einfach. Ich kann dir nicht sagen, wie oder warum, aber sie ist es. Daran gibt es gar keinen Zweifel!"

„Hat sie dich auch wieder erkannt?" fragte Herbert neugierig.

„Sie hatte nie die Gelegenheit dazu mich deutlich zu sehen, wenn ich nahe genug war," antwortete der Graf ausweichend. „Du weißt, dass die Sicht der Sterblichen in der Dunkelheit geringer ist als unsere eigene."

Herbert ignorierte den letzten Teil. „Nahe genug?", keuchte er erschrocken. „Du hast also zugelassen, dass man dich sieht?"

Victor lächelte ein wenig wehmütig. „Man könnte es so ausdrücken. Zwei mal hat sie sich im Wald selbst in Gefahr gebracht. Ich musste eingreifen, um schlimmeres zu verhüten. Beim ersten Mal blieb mir genug Zeit dafür zu sorgen, dass sie sich nicht daran erinnert. Aber bei der zweiten Gelegenheit hat mich ihr Vater gesehen, als ich sie in ihr Dorf zurück brachte. Ich musste mich zurückziehen, aber zulassen, dass man mich sieht' hätte ich das alles nicht genannt."

„Nenne es wie du es möchtest, aber gesehen hat sie hat dich ganz gewiss! Wenn dir ein einziger direkter Blick eines so kleinen Kindes gereicht hat, wer sagt dir das es ihr nicht ebenso ging? Wenn du sie erkannt hast, dann sie dich auch!"

Victor sah Herbert fast entsetzt an, doch der schenkte seinem Vater ein spöttisches Grinsen. „Du hättest dir gar nicht die Mühe machen müssen, ihre Erinnerungen an dich zu beeinflussen. Selbst wenn sie sich nicht bewusst erinnern kann, sie weiß es auf ihre Art ebenso wie du."

Victor schloss für einen Moment die Augen. Mit einem Mal ergab vieles einen tieferen Sinn. Ihr scheinbar unbegründetes Vertrauen zu ihm, die Art wie sie seine Warnungen entschieden beiseite gewischt hatte, obwohl sie ihn in diesem Leben gar nicht genug kannte, um so etwas sagen zu können.

„Du magst mehr recht haben, als mir lieb ist," erwiderte er dann.

Herbert zuckte mit den Schultern. „Soviel zu ‚du willst das sie den ersten Schritt macht.' Das hat sie doch schon getan, Vater. Zwei mal sogar, soweit sie das kann. Sie wollte gefunden werden. Sie wusste immer wie sie dir etwas wider besseres Wissen abringt, weißt du."

„Das kannst du nicht vergleichen. Sie ist nicht die selbe Person die du kanntest, Herbert."

„Nein? In wie fern?" fragte Herbert begierig.

„Es ist schwer zu erklären. Es gibt so viele Ähnlichkeiten, aber sie sind nicht die selbe Person. Nimm die Blüten der selben Pflanze: sie sind auch nicht alle gleich, so ähnlich sie scheinen Mögen."

„Ist das alles?" bohrte Herbert weiter.

„Ihr Name ist Sarah Chagal, sie ist die Tochter jüdischer Wirtsleute in einem Tal nicht all zu weit vom Schloss entfernt. Ein eigensinniges, freiheitsliebendes Geschöpf, eine Schönheit mit Augen wie die Sterne, rastlos in seinem Hunger nach Leben. Unerfahren und leichtgläubig wie du es bei einem Mädchen in ihrem Alter erwarten würdest. Aber sie weiß was sie will, sie findet Mittel und Wege, sich zu verschaffen, was sie haben möchte. Schon jetzt wird ihr das beschränkte Leben, voller Vorschriften und Verbote in das ihre Eltern sie einzusperren versuchen, zu eng."

„Was wirst du jetzt tun?" bohrte Herbert weiter. Die Frage worauf Victor eigentlich wartete hing unausgesprochen zwischen ihnen.

Victor seufzte. „Das wollte ich, aber ich habe meine Meinung geändert. Nein, verflucht, ich werde sie nicht dem erstbesten unerfahrenen Lümmel überlassen, der daher kommt! Aber versuche mich zu verstehen, Herbert. Welches Recht habe ich ihr diese zweite Chance zu nehmen?"

„Es klingt für mich als wäre das ihre Entscheidung, Vater. Welches Recht hast du denn, ihr vorzuenthalten was sie haben möchte?"

„Kann ein so junger Mensch abschätzen was es bedeutet ewig zu leben?" wandte Victor zweifelnd ein.

„Wir sind nicht alle gleich. Wenn sie den Mut dazu hat, dann lass sie und nimm das Geschenk an. Du hast mich zwar nicht direkt danach gefragt, aber meinen Segen hast du," entgegnete Herbert mit einem aufmunternden Lächeln.

„So einfach?" fragte Victor verwirrt und überrascht.

„Für mich schon. Wenn sich ein solches Wunder darbietet hinterfragt man es nicht. Man nimmt es an. Meine einzige Bedingung ist diese: ich möchte unseren Familienzuwachs kennen lernen, bevor es so weit ist."

„Das wirst du," versicherte Victor ernst. „Ich werde sie zu unserem alljährlichen Ball einladen, aber nach heute Nacht denke ich, sie wird schon vorher hier sein. Für einen Vampir und einen Menschen gibt es keinen goldenen Mittelweg. Sie werden gegen uns sein. Ihre Familie kann bei der Umwerbung also schlechterdings einbezogen werden."

„Siehst du? Wenn du dir sicher bist, werde ich dir ganz gewiss nicht im Wege stehen."

Nachdem er Herbert uneingeschränkte Zustimmung erhalten hatte, plante Victor noch in der selben Nacht sein weiteres Vorgehen. Koukol sollte am nächsten Tag aufbrechen um Nachschub an Kerzen zu besorgen. Doch das war nur ein Vorwand für seinen eigentlichen, viel wichtigeren Auftrag. „Gib Sarah zu verstehen, das sie heute Abend Besuch erwartet. Halte es einfach Koukol, dann wirst du es schon schaffen. Meine einzige Möglichkeit in diesem Fall bist du, oder ich würde es dir gar nicht aufbürden," hatte der Graf seinem treuen Gehilfen versichert. Obwohl die Tage und Nächte vor dem Ball für Koukol die arbeitsreichsten des ganzen Jahres waren, hatte der Diener beflissen zugestimmt. Victor kraulte den Kopf krauser Haare und die Sache war besiegelt.

Ganz gegen sonstige Gewohnheiten brachte Koukol seinen Herrn am folgenden Abend mit dem Pferdeschlitten zu dem Dorf in dem Sarahs Elternhaus stand. Zum einen weil Victor an diesem Abend bewusst sehr elegant gekleidet war, doch das war nicht der einzige Grund. Er hätte jederzeit selbst hier her reiten können, wenn es sein Wunsch gewesen wäre. An diesem Abend ging es bei den Arrangements allerdings nicht um ihn selbst. Im Ort war der Schnee geräumt und zudem von fielen Füßen zusammen gestampft. Aber Sarah besaß, wie er wusste, keine Schuhe die dafür geeignet wären, das Dorf zu verlassen. Dieser Tage war sie ein wohl gehütetes Kleinod. Ihr listiger Vater machte ihr das ausreißen so schwer wie nur möglich. Koukol würde ein wenig außerhalb des Ortes warten, wo er nicht gesehen wurde. In dicke Winterkleidung gehüllt, erwartete er die Rückkehr des Grafen und ihres voraussichtlichen Gastes. Der Zeitpunkt war sorgfältig gewählt. Die Gaststube war leer, die Einwohner für die Nacht in ihre eigenen Behausungen eingekehrt. Doch Victor kannte Sarahs Gewohnheiten gut genug, um zu wissen, dass sie noch wach sein würde. Wenn alle schliefen, blieb ihr noch eine kleine Weile, in der sie ein wenig tun konnte, was sie wollte, wenn sie mit Umsicht vorging. In ihrem Zimmer war sie allerdings nicht, wie er schnell bemerkte. Im Lauf des Tages hatte es scheinbar eine Dachlawine gegeben und die Schindeln waren nur von einer dünnen Decke Neuschnee bedeckt. Durch einige Ritzen schimmerte Licht. Es musste das Dachfenster zu einem Raum neben ihrem Schlafzimmer sein. Vorsichtig wischte er den Schnee beiseite und entfernte die Frostblumen darunter, genug um hineinspähen zu können. Nun, da er so nahe war, konnte er auch Stimmen hören. „Du bist wirklich sehr nett," sagte die Stimme eines Jünglings. In diesem Moment bückte sich dieser und kam einen Moment lang in Victors schmales Sichtfeld. ‚Der Bursche schon wieder,' stellte er verärgert fest. ‚Muss er denn ständig und überall um sie herum schleichen?' Er schien etwas aufgehoben zu haben. „Ein Schwamm," war denn auch seine nächste unbeholfene Bemerkung.

Sarah schien sich nicht daran zu stören. „Er ist so weich!*7" fuhr sie unbeirrt fort. „Ich liebe ihn." *8

Eine Spannung lag plötzlich in der Luft, die er selbst nur zu gut kannte.

„Ja, das ist ein schöner Schwamm,"*9 säuselte der Jüngling nun atemlos. Was immer sie vor hatte, der arme Teufel war schon jetzt wachs in Sarahs Händen. So viel musste Victor ihr lassen.

„Ich schenk ihn dir, ich hab zwei,"*10 entgegnete Sarah gönnerhaft und überreichte dem überrumpelten den Schwamm. Der Junge begann sich stammelnd zu bedanken. Als er darum bat ihr auch etwas geben zu dürfen wurde Victor allmählich klar, was sie vor hatte. Und tatsächlich: mit vielen mehrdeutigen Worten, redete sie um das herum, was sie von ihm haben wollte, ohne es direkt auszusprechen. Den Burschen versetzte sie damit in ungläubiges Verzücken, weil er annahm sie versuche gerade ihn zu verführen. Victor rollte mit einer abfälligen Grimasse die Augen. Ihm war klar, das sie gerade dabei war, dem unerfahrenen Kerl äußerst geschickt sein Badewasser ab zu schwatzen. Der so Umgarnte Begriff seinen Irrtum allerdings erst, als sie ihn über die Schwelle gestoßen und die Tür hastig hinter ihm geschlossen hatte. Graf von Krolock lachte leise. ‚Gerissen, Sternkind,' dachte er anerkennend. ‚Du hast aus dieser Sache beim Teich gelernt.' Er hörte das Geräusch von Wasser, als sie in den Badezuber stieg. Victor zögerte einen Moment. Wenn er auch nur irgendetwas über heranwachsende Burschen wusste, würde es nicht lange dauern bis er versuchen würde sie in irgendeiner Form zu bespitzeln. Heute Abend hatte Sarah ihm zudem vollends den Kopf verdreht. Jetzt würde er die Art wie sie mit ihm getändelt hatte, um an seiner Stelle in die Wanne zu steigen, gewiss zu wer wusste schon welcher Illusion aufbauschen. Er hörte ihn im Zimmer neben an murmeln. Höchste Zeit den Lümmel auf seinen rechten Platz zu verweisen! Victor hatte keine andere Wahl, entweder er überließ das Feld seinem Kontrahenten oder er musste Sarah wohl oder übel an Ort und Stelle seine Aufwartung machen. Während sie selig im warmen Wasser wortlos vor sich hin sang, legte er die Dachluke zur Gänze frei. Der Zufall kam ihm zu Hilfe, der Vollmond stieg in diesem Augenblick hoch genug, um sein Licht auf ihn zu werfen. Das Fenster lag ihrer Wanne genau gegenüber.

Sieh mich!' war seine stumme Aufforderung. Er hörte sie erschrocken aufkeuchen. Für sie war er nicht mehr als ein dunkler Schemen, doch sie konnte ihn sehen. Allerdings würde sie ihn durch das Fenster nicht hören. Es blieb nur direkt in Gedanken zu ihr zu sprechen und die damit verbundenen Risiken in kauf zu nehmen.

Guten Abend, Sarah, hab vor mir keine Angst.' *11 Er sprach beruhigend mit einschmeichelnder, sanfter Stimme.‚Wir kennen uns gut, du und ich. Ich bin der Engel, nach dem du verlangst. Die Zeit des Wartens ist bald vorüber, Sternkind.' Er spürte ihre jähe Freude die den kurzen Schreck verdrängte. ‚Ich lade dich ein auf mein Schloss. Beim Ball des Jahres tanzen wir durch die Nacht, bis deine Sehnsucht eine Frau aus dir macht,'*12 versprach er.

Sie hörte ihm verzückt und mit Interesse zu. Sie schien der Verbindung zu ihm nach zu spüren. Doch mehr noch, sie war kein teilnahmsloser Beteiligter. Es waren keine klaren, an ihn gerichteten Gedanken. Eher eine wortlose Freude darüber, dass er wieder da war. Ermutigt durch die Tatsache, dass sie weder protestierte noch versuchte, ihn aufzuhalten, schlüpfte er durch die Dachluke. Geräuschlos, glitt er zu Boden, sodass er nur wenige Schritte entfernt vor ihr zum Stehen kam. Einige Kerzen in Wandhaltern erhellten den winzigen Raum, in dem wenig mehr als der Zuber Platz hatte. Auch hier war mit Knoblauch nicht gespart worden. Der Geruch hing schwer in der Luft wie ein aufdringliches Parfum. Damit endete allerdings die Wirkung, die er auf ihn hatte. Eine der beiden Türen war mit Brettern vernagelt, sicher diejenige, die zu Sarahs Zimmer führte.

Es war das erste mal das sie ihn bei Licht sehen konnte. Victor hatte dafür gesorgt, dass er so gut wie möglich aussah. Zu diesem Zweck trug er volle Abendgarderobe im westlichen Stil. Ein freudiges Lächeln erschien auf ihren Lippen und fasziniert folgte sie jeder seiner Bewegungen. Als ihre Augen sich trafen, sah er an ihrem Blick, dass sie ihn tatsächlich wieder erkannte. Auf mehr als nur einer Ebene. Vielleicht zeigte sie deshalb keine Scham darüber seinem Blick so offen preisgegeben zu sein, denn der Schaum auf ihrem Badewasser verbarg sie nur unzureichend vor ihm. Doch Victor hielt den Blick demonstrativ auf ihr Gesicht gerichtet. „Oder willst du lieber, dass alles bleibt so wie es ist?"*13 fragte er eindringlich und sah sie wissend an, während er näher auf sie zu trat. Dabei machte er eine ausladende Geste mit beiden Armen, auf den Raum und den Zustand, in dem er ihn vorgefunden hatte deutend. „Glaubst du das wäre dir genug?"*14 Während er sprach, sah er ihr direkt in die Augen. Sie hatte offensichtlich keine Angst, obwohl er sich gar nicht erst bemühte, zu verbergen was er war. Im Gegenteil, er achtete darauf, dass sie seine Fangzähne sehen konnte, während er sprach. „Willst du immer nur beten, bis du grau und bitter bist?*15 Deine Jugend vergeudet an wen auch immer deine Eltern nach ihrem Gutdünken für dich aussuchen werden?" Während er sprach, ging er gestikulierend in dem kleinen Zimmer hin und her. Immer innerhalb ihres Blickfeldes, stets darauf bedacht, sich langsam genug zu bewegen, sie ja nicht zu erschrecken. Während er zu ihr sprach, wandte er immer wieder betont demonstrativ den Blick von ihr ab. Eine Geste, die mehr als Worte zeigen sollte, dass er nicht beabsichtigte, sie zu begaffen, wie diese Knaben bei ihrer letzten Begegnung. „Glaubst du das wäre dir genug?"*16 Er schüttelte bei der Frage kaum merklich den Kopf, dann hob er einen mahnenden Finger, als ob sie beabsichtigte, einen Einwand vorzubringen. „Wir wissen beide, dass es dir niemals genug wäre. Sie haben dich immer vor Sünde und Gefahr gewarnt. Dabei war alles nur ein großer Schwindel, du hast es immer schon geahnt.*17 Niemand wird dafür belohnt, die Gelegenheiten nicht zu ergreifen, sein Leben nach den eigenen Wünschen und Träumen auszurichten. Es ist nur eine Bestechung, ein Betrug, um dich in einem Käfig gefangen zu halten. Sie wollen dich unwissend halten, damit du auf deine Träume verzichtest, gehorchst und dich in alte Bräuche fügst, die lediglich anderen nützen. Aber ich…" Victor machte eine kurze Pause, blieb vor dem Zuber stehen und sah sie fest an. „Ich kann dir geben was dir fehlt,"*18 versprach er lockend und breitete die Arme aus, sodass der Umhang ihn wie ein paar dunkler Flügel umwallte. „Eine Reise auf den Flügeln der Nacht, in den Rausch der Dunkelheit und all deiner Phantasien."*19 Dann ließ er die Arme Sinken, er beugte sich langsam zu ihr und berührte mit der Rückseite seiner Finger sacht ihre Wange. „Ich kenne all deine Träume und verstehe was du brauchst,"*20 raunte er ihr verschwörerisch zu. „Du kannst deinem Alltag hier entfliehen. Alles, was du dafür tun musst, ist meine Einladung anzunehmen. Sei die Königin auf meinem Mitternachtsball…" Während er sprach, hatte er sich immer weiter zu ihr geneigt. Sarah zog ihn an wie das Licht den Nachtfalter. Er wollte sie – auf mehr als nur eine Art... Wie selbstverständlich neigte sie ihren Hals zur Seite, schon halb der ureigenen Anziehungskraft des Vampirs erlegen. Diese instinktive Einladung war ebenso verlockend wie der Geruch ihres Blutes. Schon folgte er unwillkürlich ihrer Bewegung, ernsthaft in Gefahr, der Versuchung zu erliegen. Doch noch während er die Hand nach ihr ausstreckte, begann der Jüngling im Zimmer nebenan zu schreien. „Professor, Professor! Er ist da drin!" *21

Sarah kauerte sich erschrocken in der Wanne zusammen. Victor reagierte ohne zu zögern. Der Aufruhr würde ihre Eltern auf den Plan rufen. Mit einem Sprung war er zum Fenster hinaus und verbarg sich in der Dunkelheit.

Er hoffte inständig, sein Verschwinden würde ihr das schlimmste ersparen. Aber wieder einmal irrte er sich. Das Gezeter des Jungen sorgten dafür das Buchstäblich der ganzen Haushalt angelaufen kam. Der Wirt Stürzte in das Fremdenzimmer um nach zu sehen, was denn geschehen sei, die Wirtin eilte in Sarahs Kammer und fand sie zu ihrem Entsetzen leer, und der Professor betrat das kleine Badezimmer um sie und den ganzen Raum gründlich zu untersuchen. Dazwischen lief der dumme Junge hysterisch mit einem Bund Knoblauch und einem Kruzifix wedelnd umher. Sie war den Blicken vieler ausgesetzt, die diesen Anblick nicht verdienten, ehe ihr Vater sie aus der Situation rettete, in der ihr ein Badetuch und ihre Kleider über warf und sie ohne Federlesen hinaus trug. In Schimpf und Schande wurde sie zurück in ihr Zimmer gebracht. Während der greise Professor allerhand unzutreffende Theorien aufstellte, suchte Chagal seine Tochter nach Bisswunden ab.

„Jetzt haben wir den Schlamassel. Hab ich dir nicht tausend mal gesagt, du sollst im Zimmer Bleiben?"*22 schalt der Wirt aufgebracht.

Wie nicht anders zu erwarten hielt Sarah eigensinnig dagegen. „Ich wollte doch nur baden!" zischte sie trotzig.

„Du solltest dich dort drinnen nicht mehr blicken lassen, so lange Gäste hier sind!Warum kannst du nicht folgen? Willst du mich meschugge machen?*23 Oh, diesmal ist es genug! Ich will dich gehorchen lehren!"

Ohne auf Sarahs Proteste zu achten warf er sie übers Knie und versetzte ihr eine neuerliche Tracht Prügel.24 Sarah schrie und strampelte. Ihre Mutter war ihr keine große Hilfe. Sie hielt zwar jammernd Sarahs Hand, doch sie sagte kein Wort, um ihren Mann von seiner Tat abzuhalten. Victor biss zornig die Zähne zusammen. Am liebsten wäre er eingeschritten, aber dreihundert Jahre als Vampir warnten ihn davor, eine solche Narretei zu begehen. Er würde ihr damit nicht helfen. Sollte er heute Nacht erneut gesehen werden, würde er alles nur noch schlimmer machen. Außerdem riskierte er einen Lynchmob auf den Plan zu rufen, wenn er sich offen gegen die Wirtsleute stellte. So verhielt er sich widerwillig still, doch er ballte die Hände so fest zusammen, das seine langen Nägel sich tief in seine Handflächen gruben. Victor begrüßte den Schmerz. Er hatte ihn verdient. Alle Strafen die sie nun erdulden musste, hatte er ihr eingebrockt.

Schließlich ließ der Wirt von Sarah ab. Er stellte sie auf die Füße und baute sich drohend vor ihr auf. „Willst du jetzt ein braves Mädchen sein?" *25 knurrte er.

„Ja Papa, bestimmt Papa!"*26 versicherte sie hastig. Was sollte sie auch anderes tun, um der Situation zu entkommen? „Ich versprech's, ich werde nie wieder baden,"*27 versicherte sie schluchzend. Chagal drohte seiner Tochter noch einmal mit dem Zeigefinger, dann scheuchte er seine noch immer Wehklagende Gattin hinaus. „Vergiss es nicht: von Stund' an nie!" fauchte er wütend. „Bis auf weiteres kommst du nicht mehr aus deinem Zimmer, ist das klar? Wehe, wenn du nicht gehorchst, dann sollst du mich kennen lernen!" Dann verließ auch er das Zimmer und schlug die Tür krachend hinter sich zu. Sarah warf sich weinend aufs Bett. Graf von Krolock fühlte sich noch ein wenig schuldiger. ‚Das ist alleine deine Schuld!' schallt er sich selbst. Doch dann schlugen die Gewissensbisse um in kalten Zorn. Nein, es lag einzig an diesem drei mal verfluchten Bengel! Ohne sein Geschrei wäre das alles nicht passiert! Grollte er. Die Gefahr durch ihn mochte durch Sarahs Zimmerarrest einstweilen gebannt sein. Doch das war lediglich ein vorübergehendes Hindernis. Jetzt war keine Zeit, sich mit nutzlosen Schuldgefühlen zu belasten, es galt zu handeln! Er musste diesen Störenfried loswerden. Ein für alle Mal! Dann glitt ein boshaftes, berechnendes Lächeln über sein Gesicht. Nein, wenn man es genau betrachtete, war diese Situation gar nicht so schlecht. Vielleicht sogar vorteilhafter als sein ursprünglicher Plan. Er würde sie alle sich dort drinnen selbst überlassen. Diese hässliche Szene und ihre Konsequenzen würden schwären, wie eine brandige Wunde. Morgen Nacht würde er Koukol mit einem Geschenk zu Sarah schicken. Er würde ihr die Mittel an die Hand geben, um sich selbst zu befreien, beschloss Victor. Sein Angebot war bereits ausgesprochen. Von jetzt an hatte sie einen vollen Tag Zeit, um darüber nachzudenken. Vor dem Hintergrund eines weiteren, heftigen Streits würden die Konsequenzen verblassen. Er kannte sie gut genug, um sicher zu sein, dass sie in der kommenden Nacht bereit sein würde, seinem Ruf zu folgen, ohne sich lange zu besinnen. Damit würde sie sich auf einen Schlag von dieser elenden Familie befreien. War sein Sternkind erst einmal davon gelaufen und tagelang im Schloss verschwunden, würde es kein Zurück mehr geben. Sollten doch alle sie für entehrt und verloren halten! Niemand konnte ahnen, dass er nicht beabsichtigte, sie in Schande zurückzulassen. Doch sie beide würden die Wahrheit kennen. Der Rest der Grafschaft würde es schon noch früh genug erfahren, wenn sie erst einmal seine Gräfin war! Sarah war klug genug, all das zu begreifen. Hatte sie das nicht schon zuvor bewiesen? Nahm sie sein Brautgeschenk an und folgte ihm in die Nacht, würde sie endgültig ihn wählen, mit allem was das einschloss.

Was nun den törichten Jüngling betraf, der würde schon dafür sorgen, dass der greise Professor sich mit ihm auf die Suche nach Sarah begeben würde. Nach heute Nacht würden sie schnell genug die richtigen Schlüsse ziehen, sobald Sarah erst einmal verschwunden war. Die neugierigen Reisenden würden erneut ihre Nasen in fremde Angelegenheiten stecken. Unter den gegebenen Umständen würden ihre Fragen gewiss freundlicher aufgenommen und beantwortet werden. Irgendeiner der Dörfler würde ihnen schon erzählen, was nötig war. Es war lediglich eine Frage der Zeit, bis die beiden im Schloss eintreffen würden. Genau zur rechten Zeit um seinen unsterblichen Untertanen als Mahlzeit zu dienen und ihn selbst damit der Notwenigkeit zu entheben, sich eigens um dessen Beschaffung zu kümmern. Der Bursche war zudem nicht unansehnlich. Vielleicht würde Herbert gefallen an ihm finden. Doch ganz gleich, ob von seinem Sohn umworben oder als Opfer beim alljährlichen Ball, er würde keine Gelegenheit mehr haben, Sarah nachzugehen. Es war ein narrensicherer Plan. Drei Fliegen mit einer Klappe! Von grimmiger Entschlossenheit erfüllt, stahl er sich davon und kehrte zu seinem wartenden Diener zurück.

Früh am folgenden Abend übergab Graf von Krolock Koukol ein Bündel. Eingeschlagen in ein Schultertuch aus rotem Samtbrokat enthielt es ein paar Stiefel im selben Farbton. Doch weder das aufwendige Blumenmuster noch die langen Seidenfransen waren zu sehen. Es schien ein schlichtes, in blutrote Seide gewickeltes Präsent. „Sobald alles ruhig ist, begibst du dich zu Sarah. Sie darf ihr Zimmer gegenwärtig nicht verlassen. Sorge dafür, dass sie auf dich aufmerksam wird. Es wird nicht schwer sein, sie wird gewiss allem Aufmerksamkeit schenken, das Ablenkung verspricht. Übergib es ihr. Wenn sie weiß das du etwas für sie zurückgelassen hast, wird sie einen Weg finden, es sich zu holen. Warte in der Nähe. Es kann eine Weile dauern, aber ich bin mir sicher sie wird kommen. Aber sie darf auf keinen Fall alleine durch den Wald! Wenn sie den anderen in die Hände fällt, ist sie verloren. Beschütze sie mit deinem Leben, Koukol, sie ist mir äußerst wichtig."

„Jawohl, Herr," entgegnete Koukol so gut er es vermochte. Victor schenkte ihm ein flüchtiges Lächeln und kraulte seinen Schopf.

„Sehr gut. Ich wusste, dass ich mich auf dich verlassen kann. Du hast auch gewiss nicht vergessen, ihr Zimmer über Tag ordentlich zu heizen?"

Koukol schüttelte mit einer wegwerfenden Geste den Kopf.

„Ausgezeichnet. Das wäre alles Koukol.

Der Bucklige humpelte davon, um seinen Auftrag zu erfüllen. Doch auch Victor hielt es nicht im Schloss. Er wollte heute Abend in ihrer Nähe sein, um ein wachsames Auge auf den Lauf der Dinge zu haben. Ein schmaler, zunehmender Mond am Himmel spendete ein wenig Licht. Victor kauerte in einem schattigen Winkel des Daches und lauschte. Das Innere des Hauses lag ruhig da. In Sarahs Zimmer brannte noch Licht. Vor einer Weile schon war Koukol hier gewesen. Seiner Anweisung gemäß hatte er es geschafft, ihr unbemerkt ein Zeichen zu geben. Das Bündel hatte er in Sichtweite ihres Fensters abgelegt. Es war lediglich eine Frage der Zeit, bis sie herauskommen würde. Er konnte ihre angespannte Aufregung spüren. Erst als die ununterbrochene Stille verkündete, dass wirklich niemand sich regte, kam sie hervor. In einen Mantel gehüllt, schlüpfte sie geräuschlos zur Tür hinaus. Das Präsent lag vor ihrem Fenster auf dem Vorplatz des Wirtshauses. Sie konnte nur die grobe Richtung und ungefähre Entfernung kennen. Ohne Kerze oder Laterne, die ihre Anwesenheit draußen jedem, der zufällig aus dem Fenster sah, verraten hätte, ging sie zielstrebig darauf zu und fand es scheinbar ohne Mühe. ‚Sie muss die Augen einer Katze haben,' dachte Victor anerkennend. Aber sein Sternkind bekam keine Gelegenheit nachzusehen, was sie erhalten hatte. Gerade in diesem Moment wurde die Haustür erneut geöffnet. Sarah wich vorsichtig zurück, um sich zu verbergen. ‚Sie hat in der Tat die Augen der Nacht,' stellte erbewundernd. Der Bursche, der aus dem Haus gekommen war, bemerkte sie nicht. Er trat näher zu ihrem Fenster und sah hinauf zu dem blassen Lichtschein, der dort zu sehen war.

„Unter diesem Dach lebt der Liebste Mensch der Welt,"*28 seufzte er sehnsüchtig. In der vollkommenen Stille schienen seine Worte fast laut. „Sarah bist du wach!"*29 rief er dann, als habe er allen Mut zusammengerafft. „Komm doch an dein Fenster! Ich steh hier im Mondlicht und wünsch mir, ich wäre bei dir!"*30

Victor fluchte leise. ‚Dieser dreimal verfluchte, tölpelhafte Bengel! Wenn er nicht schnell leise war, wird er gewiss das Haus aufschrecken und alles verderben! Wenn er meine Pläne heute Nacht ruiniert, werde ich ihn zur Strecke bringen und an meine untoten Lakaien verfüttern!'

Sarah erkannte die Gefahr ebenfalls. Er konnte ihren Unmut in ihrer Haltung erkennen, als sie näher an den Jungen herantrat. „Nicht so laut, ich bin ja da!"*31 zischte sie warnend. „Mach bloß keinen Lärm! Sonst hört dich noch Papa!" *32

„Kann es wirklich sein? Du und ich allein?" *33 fragte er entzückt, ohne sich an ihrer Zurechtweisung zu stören.

„Ich hielt es nicht mehr aus, drinnen ersticke ich!"*34 entgegnete Sarah erregt. Wenn sie aber auf einen Zuhörer gehofft hatte, der Anteil an ihrer Misere nahm, wurde sie enttäuscht.

„Ich wollte dich sehen. Ich bin glücklich,"*35 schmeichelte der Jüngling stattdessen.

Victor schüttelte in missbilligender Verblüffung den Kopf. Merkte der Narr nicht, dass er vollkommen an ihr vorbei redete? Er ignorierte, was sie ihm erzählt hatte und ging nicht darauf ein. Hatte er überhaupt bemerkt, dass Sarah seinetwegen Prügel bezogen hatte? Warum bei allen Dämonen der Hölle sollte sie sich da freuen, wenn er ihr erneut hinterher schlich, wie ein unerwünschter, streunender Köter?

„Da draußen ist die Freiheit, dort gibt es ein Land in dem alle Wunder möglich sind!"*36 seufzte Sarah und unterbrach Victors missgestimmten Gedanken. Sie hatte sich von ihrem Verehrer abgewandt und warf nun sehnsüchtige Blicke in die Richtung, in der das Schloss lag. Er konnte ihre Sehnsucht spüren und teilte sie im stillen. ‚Nicht mehr lange, Sternkind,' versicherte er ihr wortlos.

„Keine Mauern soll uns je trennen, es gibt keine Grenze, die wir nicht überwinden!"*37 antwortete der Jüngling in diesem Moment erneut überschwänglich. „Komm mit mir, denn mit dir kann ich bis zu den Sternen gehen! Weit fort von allem was uns trennt…" *38

„… beginnt was man Leben nennt,"*39 seufzte Sarah in diesem Moment. Sie mochte nach außen den Eindruck erwecken, als stimme sie dem Jungen zu, aber die Vorstellungen vor ihrem inneren Auge gingen in eine vollkommen entgegengesetzte Richtung. Gerissen wie sie war, fand sie sofort eine Möglichkeit, die gegenwärtige Situation für sich aus zu nutzen.

„Es ist so romantisch, im Mondlicht zu stehen!"*40 begann sie halb schmeichelnd, halb neckend. „Leider bin ich bereits eingeladen. Aber vielleicht darfst du ein Stück mit mir gehen, wenn du versprichst, mich nicht zu verraten!" bot sie dann huldvoll an, als wäre sie eine Dame von Stand, die einen außerordentlichen Gunstbeweis verschenkte. Aller Verärgerung zum Trotz entlockte es Victor ein schadenfrohes Grinsen. Was hatte sie jetzt wieder vor? Doch der Jüngling war nach der Sache mit dem Badewasser doch ein wenig aus Schaden klug geworden.

„Wo willst du hin?," *42 fragte er nun vorsichtig.

„Das ist ein Geheimnis von mir,"*43 entgegnete Sarah ausweichend.

„Doch wohl nicht durch den Wald!"*44 keuchte ihr Verehrer entsetzt, als er die Richtung erfasste, in die sie immer wieder schaute.

„Wenn du Angst hast, dann bleib eben hier,"*45 zischte Sarah schnippisch.

„Aber es ist dunkel und kalt," versuchte der Jüngling zu argumentieren.

Sarah wischte es jedoch mit einer wegwerfenden Handbewegung bei Seite. „Das macht mir doch nichts aus!"*46 behauptete sie störrisch.

Der Junge war offenbar ebenfalls nicht bereit seinen aufzugeben. „Du wirst dich im Dunkel gewiss verirren, dann erfrierst du im Schnee!"*47 beschwor er sie drängend.

„Ach was, ich weiß schon wohin ich geh!"*48 hielt Sarah lebhaft dagegen. ‚Für eine Diskussion hätte der arme Wicht keinen störrischeren Gegner aussuchen können', dachte Victor.

„Nachts kommen die Wölfe raus!"*49 mahnte der Jüngling in ängstlichem Tonfall.

„Ich langweile mich tot zu Haus!" fauchte Sarah schließlich und funkelte ihren Gegenüber vorwurfsvoll an. Es ärgerte sie ganz offensichtlich, dass er einfach nicht verstehen wollte, was in ihr vorging. Dann veränderte sich ihr Gesichtsausdruck plötzlich, sie setzte eine Miene auf, die wohl mit Erschrecken gemischte Überraschung ausdrücken sollte. „Ach, mir fällt was ein!" keuchte sie in gespieltem Schrecken. „Ich vergaß den Schwamm! Geh bitte rein und hohl ihn mir,"*50 bat sie dann schmeichlerisch. Victor wusste sofort, dass sie ihm etwas vormachte, aber den Jungen hatte sie damit sofort vollkommen in der Hand.

„Wozu brauchst du jetzt einen Schwamm?"*51 fragte er verdutzt. Doch Sarah ließ ihm keine Gelegenheit für weiteren Widerspruch. „Bitte! Geh rauf und hole ihn mir, er ist im Bad!" *52

Tatsächlich ließ sich der arme Tölpel damit abspeisen und ging hinein. Sein Sternkind nutzte den Augenblick, um in aller Eile endlich das Bündel zu öffnen. Sie gab einen leisen Entzückens laut von sich, als sie das Paar roter Wildlederstiefel ins Mondlicht hielt. Dann ließ sie diese sinken und strich zärtlich über die Stickerei des Umschlagtuchs, in dem sie eingewickelt gewesen waren. Dann erhob Sarah sich rasch, um sich auf die Bank vor der Haustüre zu setzen und ihre Schuhe gegen die neuen Stiefel zu tauschen. Dabei hörte Victor sie leise vor sich hin murmeln.

„Darf ich oder nicht? Einerseits wäre es verkehrt, aber ich habe doch schon viel zu viel versäumt. So lange habe ich von so etwas geträumt! Was ist schon dabei? Warum soll ich sie nicht tragen? Schließlich bin ich alt genug!" *53 Sie verharrte einen Moment, doch wie Victor vorausgeahnt hatte, dachte Sarah im Licht der vergangenen Tage nicht lange nach.

„Morgen bin ich wieder brav!"*54 rechtfertigte sie sich vor sich selbst. „Jetzt tue ich was ich will! Ich will was ich fühle!*55 Ich habe solchen Hunger nach Glück und dem Leben, ich will Musik, ich will tanzen und schweben!" 56 Mit einem verzückten Seufzen schlang sie sich das Umschlagtuch um und schien sich zu einer Melodie zu bewegen, die nur sie hören konnte. Die Zeit war gekommen, es war soweit.

Tu es, Sternkind. Komm zu mir! Folge dem Fleisch, das sich nach einer einzigen, perfekten Berührung sehnt, deiner Seele, die auf Erlösung wartet. Du wirst wissen, wenn du es bekommst: es kann nie zu viel sein! Wenn du es willst wird der Tanz nie enden, die Zukunft wird jetzt beginnen,' *57 lockte er. Er konnte seine eigenen Gefühle dabei genauso wenig verbergen wie sie. Sie würde sein Verlangen spüren, das in die gleiche Richtung ging. Wenn so etwas möglich war, wurde dadurch die Versuchung für sie sogar noch größer.

In Gedanken malte Sarah sich die Ballnacht aus. Sie als der begehrte, strahlende Mittelpunkt, die herrschende Schönheit des Festes. Aber noch mehr als das hatte sie die romantische Vorstellung, dass er sie vor allen anderen als sein beanspruchte, niemandem erlaubte, sie ihm lange zu entziehen. Sie träumte davon, am Ballabend in seinen Armen zu liegen, ihn vor aller Augen zu küssen. Er war für ihre Vorstellungen nicht unempfänglich. Sein Herz schlug schneller und er spürte, wie alte Begierden sich in ihm regten.

Auch das wird dann dein Vorrecht sein,' versprach er leidenschaftlich. Eine Woge der Freude über diesen Gedanken war ihre Antwort. Doch dann folgte ängstlicher Zweifel. Sie sank auf den schneebedeckten Boden und hob das Tuch, das er ihr geschenkt hatte, in der Art eines jüdischen Gebetsschals. Sie wiegte sich langsam vor und zurück und murmelte Worte, die er nicht verstehen konnte. Graf von Krolock hatte den Anstand, zu schweigen und ihr sowohl die Zeit als auch den Raum für ein Gebet zu geben, wenn sie das Gefühl hatte, dass sie es brauchte. Eine Reaktion, die ausschließlich ein Zeichen seines Respekts für Sarah war. Als er am wenigsten damit rechnete, ließ sie das Tuch fallen und sprach von Geist zu Geist zu ihm, als hätte sie das schon immer getan. Aber jetzt war der ganze Sonnenschein in ihrer Stimmung verblasst. Er konnte ihre Zweifel wie einen schweren Mantel spüren. 'Ich habe Angst das du mich verlässt wenn ich dir die Wahrheit sage,' gestand sie beklommen.

Niemals!' beteuerte Victor nachdrücklich.

‚Wirst du mir glauben? Ich brauche den Beweis.'*58

Dann erzähl es mir, oder ich werde es nicht können', gab er behutsam zurück. Die Erwiderung kam stockend und ein wenig unzusammenhängend, als sie darum kämpfte, es verständlich auszudrücken. ‚Du denkst, ich fliege hoch wie ein Engel, der heilige Luft atmet… Es gibt so viele Dinge auszuprobieren, so vieles ist mir verwehrt worden. Ich will alles, was du mir bietest, aber dennoch, die Zweifel sind niemals weit fort…'*59

Es gibt keinen Grund, Angst zu haben, Sternenkind,' versicherte Victor beruhigend. ‚Außerdem bist du damit nicht allein. Du denkst, ich stehe über der Welt mit all ihren Sorgen? Du irrst dich. Mein Leben mag dir glänzend wie ein Stern erscheinen, doch die Stürme sind auch niemals weit von mir entfernt.*60 Wir sitzen im selben Boot. Für den Moment tue, was die Vernunft dir nicht erlaubt und frag nicht, ob du es morgen bereuen wirst.*61 Trage mich tief in deinem Herzen und erlaube mir, das Gleiche für dich zu tun. Lass uns in ihren Augen zu weit gehen, es soll uns nicht kümmern! Wie weit ist ‚zu weit'? Den ganzen Weg zu gehen, ist erst der Anfang! Es gibt für uns keinen Weg der zu weit wäre, ich muss sein wo du bist,' *62 beschwor er sie inbrünstig.

Mit geschlossenen Augen schwankte sie unsicher am Rande des emotionalen Abgrunds, unsicher, ob sie den Sprung ins Ungewisse tatsächlich wagte.

„Die Versuchung will, ich soll ihr ganz gehören,"*64 murmelte sie. „Sollten sie mich auch zerstören, ich kann mich nicht dagegen wehren!"*65 Erneut hob sie das Tuch und murmelte für ihn unverständliche Gebete.

Dann gib dich ihr hin,' antwortete er ihr. ‚Quäle dich nicht länger mit Regeln, die die Menschen dir auferlegt haben, die sich selbst nicht daran halten! Nur etwas, das mächtiger ist als wir beide, könnte uns stärker machen, als wir es sind. Deshalb müssen wir unserem Schicksal folgen – ganz gleich, wohin es uns führt.'*66

Sarah zögerte ein letztes Mal. Dann ließ sie das Tuch nicht nur sinken. Sie nahm es ab und betrachtete es einen Moment lang fast fragend. Doch dann war ihre Entscheidung gefallen. Entschlossen richtete sie sich auf und schlang das Schultertuch fest um sich. Gerade als sie den ersten Schritt gehen wollte, öffnete sich über ihr ein Fenster.

„Sarah? Ich kann den Schwamm nicht finden," rief die Stimme des Jünglings. Victor fluchte leise.

„Macht nichts!" rief Sarah erschrocken aus. Jetzt, da sie die Zweifel hinter sich gelassen hatte, reagierte sie ohne zu zögern und eilte davon in die Nacht.

Du wirst es nicht bereuen, Sternkind,' schwor Victor im Stillen. Dann zog er sich vor dem nun einsetzenden Aufruhr zurück. Mit seinem siebten Sinn suchte er nach Koukol und fand ihm am Rande des Ortes.

Sie kommt, Koukol. Sieh zu, dass sie dich nicht verfehlt und bringe sie wohlbehalten ins Schloss. Ich werde euch dort erwarten!' Mit dem Gefühl wortloser Zustimmung seines treuen Gehilfen beendete er die Verbindung und kehrte nach Hause zurück.

Im Schloss angekommen blieb Victor noch genug Zeit seine Kleidung zu wechseln, bevor Koukol mit Sarah das Schloss erreichte. Auf einem Balkon im dritten Stock erwartete er sodann die Ankunft der beiden. Von dort konnte er den gesamten Innenbereich des Schlosses überblicken.

Als Koukol den Pferdeschlitten im Innenhof zum stehen brachte, wandte er sich ab und ging ihnen entgegen.

Er erreichte die Wendeltreppe zur Eingangshalle in dem Moment, in dem Koukol Sarah herein führte. Ihr zu ehren brannten die Fackeln in den Wandhaltern und die Kerzen in den großen, Kerzenständern.

Sie war stehen geblieben und sah sich in dem großen Raum mit seinen hohen Kreuzrippengewölben um.

Einmal war das Schloss zur Verteidigung erbaut worden, aber heute waren die großen Wendeltreppen schmückende Architektur. Die Ausführung nicht mehr wuchtig und massiv, sondern durchbrochenes, filigranes Maßwerk. Die Wände und Gewölbe waren mit einem Muster aus Ranken und Blumen bemalt, die, obgleich nachgedunkelt und verblasst, nichts an ihrer Schönheit eingebüßt hatten. Für ihn und Herbert war es selbstverständlich. Auf Sarah dagegen musste es atemberaubend wirken.

Langsam stieg er die Treppe hinunter und blieb ein paar Stufen über ihr stehen.

„Sei willkommen auf meinem Schloss, Sternkind. Fühl dich hier ganz wie zu Hause." Während er die letzten Stufen herunter kam, sah er sie kurz zusammen zucken. Obwohl er leise gesprochen hatte, verstärkte die weitläufige Halle den Klang seiner Stimme. Doch sobald sie ihn sah, begannen ihre Augen zu strahlen, ohne zu zögern, eilte sie ihm entgegen. Mit dieser Reaktion hatte er nicht gerechnet, dennoch öffnete Victor unwillkürlich seine Arme für sie und empfing ihre stürmische Umarmung. Er zog sie dicht an sich heran und kostete die einfache Freude aus, sie wieder in den Armen zu Gefühl, ihre Arme fest um ihn geschlungen zu fühlen, ihre Finger auf seinem Rücken ausgebreitet.

Seufzend vergrub er sein Gesicht in ihrem Haar und atmete ihren vertrauten Duft ein. Jetzt, da er sie in seinen Armen hielt, wurde ihm bewusst, wie sehr er das vermisst hatte.

„Du bist endlich hier," flüsterte er und spürte, wie sich eine dumpfe, pulsierende Wärme in ihm ausbreitete. Seine Finger fächerten sich auf und begannen, ihren Rücken hinauf und hinunter zu streichen. Sie erschauderte und lehnte sich noch mehr gegen ihn, ihr Herzschlag beschleunigte sich. Damit kam das ungewollte Aufflammen eines weiteren Verlangens, das selbst seine Vorsichtsmaßnahme, heute Nacht auf der Jagd gewesen zu sein, nicht ganz unterdrücken konnte: Die verlockende Sehnsucht nach dem Geschmack ihres Blutes. Die Bedürfnisse des Mannes vermischten sich mit denen des Vampirs, er konnte das eine nicht mehr ohne das andere haben. Er gestattete sich noch einen Moment, das Gefühl zu genießen, sich ihren Duft in diesem Moment einzuprägen, bevor er sie sanft auf Armeslänge schob und auf sie herab lächelte.

„Mein tapferes Sternenkind," raunte er zärtlich. „Ich werde dir keine Gelegenheit geben, zu bereuen, was du heute Abend getan hast, du hast mein Wort." Er ergriff ihre Hand und bedachte ihren Handrücken mit einem innigen Kuss.

„Was passiert jetzt?" fragte sie unsicher.

„Jetzt machen wir es dir bequemer," erwiderte er bestimmt. „Koukol, bringe Tee für Sarah hoch in den Salon im zweiten Stock," rief er über die Schulter zu dem Diener, der in einer unauffälligen Ecke gewartet hatte. Ohne die Antwort abzuwarten, führte er Sarah die Treppe hinauf. Sie folgte ihm bereitwillig über zwei Wendeltreppen in das zweite Geschoss, wo er sie durch die üppig ausgestatteten Korridore in den großen Salon führte. Der weiträumige Raum war leer, der Flügel stand verlassen da, aber die unbedeckte Tastatur verriet, dass Herbert bis vor einiger Zeit hier gewesen sein musste. Die brennenden Kandelaber und das große Feuer im offenen Kamin verliehen dem Raum eine gemütliche Atmosphäre. Einst war es ein herrschaftlicher Ort gewesen, heute jedoch zeigte er deutlich, dass er der übliche Aufenthaltsraum der beiden Bewohner des Schlosses war. Der Flügel war mit unordentlichen Stapeln aus Partituren übersät, und auf einem Tisch in der Nähe des Kamins und den Konsolen in der Nähe stapelten sich eine große Anzahl von Büchern. Auf dem langen Tisch stand immer noch Victors mit Intarsien verziertes Lieblingsschachset. An zwei Seiten waren geschlagene Figuren abgestellt, so dass man den Stand der unvollendeten Partie erkennen konnte. Victor führte die junge Frau zu einem bequemen Sofa in der Nähe des Feuers. Dort angekommen, half er ihr aus dem Mantel und legte ihn beiseite, wobei er mit einem zufriedenen Grinsen beobachtete, wie sie nur widerwillig das Tuch losließ, das er ihr geschenkt hatte.

„Setz dich und nimm dir Zeit, dich aufzuwärmen. Du hast einen langen Weg durch die Kälte hinter dir," bat er höflich. Sarah nahm in der dem Feuer am nächsten gelegene Ecke platz und Victor setzte sich wie selbstverständlich neben sie.

„Du warst der Fremde, der mich vor diesen grässlichen Jugendlichen gerettet hat, nicht wahr?" fragte sie dann unvermittelt. „Deshalb haben Mama und Papa so einen Aufstand darum gemacht. Sie wussten die ganze Zeit, wer du bist und dass du mich willst."

„Du hast recht," gestand er unumwunden ein und schenkte ihr ein anerkennendes Lächeln.

„Natürlich haben sie geglaubt ich verfolge unlautere Absichten, das mag ihre Vorurteile entschuldigen. Ich habe dir damals gesagt, ich bin in dieser Gegend nicht beliebt, das war keine Lüge. Genau genommen habe ich dir eine Unannehmlichkeit erspart um dich in viele weitere hinein zu stürzen und das tut mir leid.

„Das ist nicht wahr! widersprach sie sofort entschieden. „Ohne dich hätten sie mich nie in die Schule gehen lassen. Dort war es lustig. Ich bin mit den anderen Mädchen über die Mauer geklettert. Wir hatten Spaß und haben so viel gesehen," die Worte sprudelten lebhaft hervor und ihr Gesicht strahlte förmlich. „Es hat mir gefallen, Dinge zu lernen. Alles war wie aufregender und nicht so langweilig wie zu Hause!"

„Hat es dir leid getan, wieder hier zu sein?", fragte Victor mit ehrlichem Interesse.

Sarah zögerte einen Moment, ehe sie antwortete. „Am Anfang nicht," sagte sie dann nachdenklich. „Ich hatte das Gefühl, plötzlich wieder viel näher an etwas zu sein, das mir die ganze Zeit gefehlt hat, ohne dass es mir bewusst war. Aber als ich dann gemerkt habe, dass Papa mich jetzt noch mehr einsperrt als früher - da schon." Sie seufzte.

Victor berührte sie sanft am Arm. „Niemand wird dich hier je wieder einsperren," versicherte er ihr eindringlich. „Du kannst dich im Schloss und in den Gärten frei bewegen, aber sei gewarnt, Koukol schafft es gerade die Zugänge Frei zu halten. Du solltest dich also nur in die Gärten begeben, wenn dir der Sinn nach sehr viel unberührtem Schnee steht. Er hatte ernst begonnen, aber seine Stimme hatte bei der Erwähnung Koukols und der Gärten einen neckenden Ton angenommen. Sarah lachte. „Vielen Dank für die Warnung, Herr Graf, das könnte mir mit meinen neuen Stiefeln vielleicht gefallen!"

„Keine Titel Sarah, nicht zwischen uns, ich heiße Victor, das genügt."

Sie strahlte. „Danke", murmelte sie und errötete.

„Dir gefällt mein Geschenk also?", fragte er sanft um ihr aus der Verlegenheit zu helfen. Es wirkte. Sofort hob sie den Kopf und ihre Augen leuchteten
„Oh ja, sehr! Vielen Dank… Victor!"

„Es war mir ein Vergnügen," entgegnete er liebenswürdig und deutete mit einer Kopfbewegung eine kleine Verbeugung an.
„Aber warum gerade ich? Wie hast du mich ausgewählt?" fragte Sarah neugierig.
„Das habe ich nicht," entgegnete Victor ernst. „Zumindest nicht so, wie du es meinst. Ich kannte dich, vor sehr langer Zeit. Du warst mir sehr teuer, und ich war untröstlich über deinen Verlust. Wie ich schon sagte: wir kennen uns gut. Ich habe auf dich gewartet, seit du geboren wurdest."

„Magst du mich nur, wegen... wegen früher?" fragte sie beinahe beklommen
„Nein," beteuerte er bestimmt. „Ich habe dich immer geliebt. Ich kann es nicht erklären, ich weiß ebenso wenig wie du, wie oder warum das überhaupt möglich ist. Aber meine Absichten sind ehrenhaft. Ich werde dich nicht ausnutzen und dann verlassen, um dich der Schande und dem Ruin auszusetzen. Mein Angebot ist aufrichtig. Du wirst hier immer ein Zuhause haben."
„Oh, ich wusste es!" seufzte sie selig. „Du würdest das alles nicht für mich tun, wenn du mir etwas böses wolltest", sagte sie und ergriff seine Hand. Er erwiderte den Druck ihrer Finger bevor er seine mit ihren verschränkte.
„Du bist viel zu nachsichtig, Sarah," tadelte er sie sanft. „Das mindeste, was Du in Anbetracht dessen, was du zu tun gewagt und was du aufgegeben hast erwarten solltest, ist das ich großzügig bin, wenn es darum geht, Dich zu umwerben."
Sie schaute ihn leicht verwundert an, überspielte es dann aber mit einem süßen Lächeln.

Bei allen Sternen, hatte sie denn niemand auf so etwas vorbereitet? Nein, offensichtlich nicht. Trotz all ihrer raffinierten Methoden, die Dinge zu bekommen, die sie wollte, war sie immer noch ein argloses, naives Mädchen. Er hatte sie für weitaus reifer gehalten, als sie tatsächlich war. Aber er empfand kein Bedauern bei der Erkenntnis, stattdessen fühlte er eine Woge heftiger Zuneigung für sie. Zwischen ihnen gab es ein Vertrauen, das aus tiefster Seele kam.

Victor rutschte in die andere Ecke des Sofas und drehte sich leicht zur Seite. Dann gab er ihrer Hand einen sanften Zug. Sie brauchte keine weitere Einladung. Mit einem Seufzer schlang sie ihre Arme um ihn und schmiegte sich an seine Brust. Er genoss ihre Nähe und fragte sich, ob sie für ihn jemals wieder eine Selbstverständlichkeit werden würde, während er mit seinen Fingern sanft über ihren Rücken strich. Nach einer Weile spürte er, wie sie seine sanften Berührungen erwiderte, ihre Hände spreizten sich, der Druck ihrer Finger wurde mit unausgesprochenem Verlangen intensiver. Die Luft war mit einem Mal geladen, und er spürte das Ziehen des Verlangens in seinem Unterleib. Victor lehnte sich in ihre Berührung, seine Hände streichelten besitzergreifend Sarahs Rücken und ihre Flanken. Aber nach drei Jahrhunderten ohne ihre Berührung stillte das den Hunger nach ihr nicht, sondern verstärkte ihn. Er wollte mehr. Eine Hand glitt in ihren Nacken und gab ihr einen energischen Zug, um sie leicht nach hinten zu beugen. Ihre Augen trafen sich für einen Moment. Dann beugte sich Victor vor und küsste sie. Zuerst war es nur eine sanfte, verweilende Berührung. Ein Kuss wich dem nächsten und dem nächsten, und Sarah erwiderte langsam den Kuss und folgte seinen subtilen Hinweisen. Eine Weile lang war es das reine Glück, zu spüren, wie sie unter seinen Berührungen dahin schmolz und im nächsten Moment begierig nach mehr verlangte. Aber selbst so, als er ihre gespaltenen Lippen mit seinen eigenen berührte, lauerte der leise Geschmack von Blut in verlockender Nähe unter ihrer warmen Haut. Ein warnender Schmerz über seinen Eckzähnen mahnte ihn, den Kuss nicht zu weit auszudehnen. Aber es war berauschend, sie klammerte sich inzwischen an ihn, eine Hand in seinem Haar vergraben, die andere in den Stoff an seiner Taille. Manchmal zerrte sie ein wenig, verlangte nach mehr, und die Intensität des Kusses steigerte sich unwillkürlich, trotz seiner guten Vorsätze.
Sein Atem kam jetzt schwer und schnell, er konnte Sarahs rasenden Herzschlag hören, der seinen eigenen widerspiegelte.
Dieser Herzschlag begann ihn wie ein Sirenengesang zu locken, der Geruch ihres Blutes wurde immer deutlicher und mit ihm ein dunkles Verlangen, es zu haben und alles, was es mit sich brachte.
Wie der Blitz schoss die Angst durch seinen Körper. Mit einem heftigen Kopfschütteln löste Victor sich von Sarah und lehnte sich so weit zurück, wie er es unter den gegebenen Umständen konnte. Er biss auf die Innenseite seiner Lippe, bis er Blut schmeckte und begrüßte den Schmerz wie einen alten Freund. Es half, die aufkommende Blutgier zu unterdrücken.
„Was ist los?" fragte Sarah atemlos. „Habe ich etwas falsch gemacht?"
Victor schüttelte den Kopf. „Nein. Aber wir sind zu schnell viel zu weit gegangen," antwortete er und klang dabei genauso außer Atem wie sie selbst.

„Ich dachte, du wolltest es genauso sehr wie ich", in ihrer Stimme lag jetzt ein Hauch von Enttäuschung. Diese Vermutung tat ihr offensichtlich weh.
Sanft legte er seine Hand auf ihre Wange und strich mit seinem Daumen über ihre Haut. „Das tue ich auch, glaub mir," versicherte er tröstend.
„Warum hast du dann aufgehört? Die Männer im Wirtshaus schienen das nie zu wollen, wenn sie einmal damit angefangen hatten..."
Er lachte leise auf, aber sein Lächeln war traurig. „Sie sind menschlich, Sternkind. Ich bin es nicht. Es hat gewisse Nachteile, ein Vampir zu sein." Seine Hand glitt ein wenig tiefer um mit seinem Daumen die Linie ihrer Lippen nach zu zeichnen. „Wir sollten es etwas langsamer angehen, uns daran gewöhnen, uns besser kennenlernen... Wir haben jetzt so viel Zeit, wie wir wollen."
„Aber ich bin bereit für mehr," bohrte sie weiter.

„Dessen bin sicher, aber siehst du, ich bin es nicht", sagte er halb neckisch. Das brachte ihm ein Kichern ein. Aber bevor er ein weiteres Wort sagen konnte, flog die Tür auf und Herbert kam mit einem klappernden Tablett herein. „Der Tee ist fertig!" rief er fröhlich in den Raum hinein. Dann entdeckte er die beiden eng umschlungen auf dem Sofa am Kamin, Sarah halb über seinen Vater drapiert, beide errötet und zerzaust.
„Oh, Entschuldigung, habe ich bei etwas gestört?" Herbert klang ein wenig betreten.
„Nur ein bisschen," erwiderte der Graf ironisch. „Dein Erscheinen ist jetzt nicht so lästig, wie es vielleicht noch vor ein paar Minuten gewesen wäre," ergänzte er dann mit einem selbstzufriedenen Lächeln. Er richtete sich auf und Sarah tat es ihm nach, wenngleich widerwillig.
„Sarah, darf ich dich mit meinem Sohn bekannt machen? Das ist Herbert. Herbert, das ist Sarah."

Der Sohn des Grafen stellte das Tablett hastig auf dem Tisch ab und machte ihr eine angemessene, höfliche Verbeugung.

Dann kam er herüber und hielt ihr charmant seine Hand entgegen. Sarah lächelte und nahm sie ohne zu zögern. „Stets zu Diensten, Fräulein Sarah," murmelte Herbert und deutete den üblichen höflichen Handkuss an, ehe er sie frei gab. „Vater hat mir schon von Ihnen erzählt. Er ist ganz begeistert von Ihnen," berichtete er dann eifrig.

„Wie kommt es eigentlich, das du heute Abend den Butler spielst? Wo ist Koukol, wieso hat er seine Anweisungen nicht befolgt?" fragte Victor seinen Sohn misstrauisch.

„Nun, er hat es versucht Vater, aber es scheint, ihr habt das gar nicht bemerkt," antwortete Herbert belustigt. „Der Arme Kerl hat auf den ersten Blick gemerkt, das er gerade vollkommen unerwünscht wäre und hat sofort die Flucht ergriffen. Ich habe ihn gefunden, wie er unsicher mit seinem Tablett im Korridor herumstand und habe den armen Teufel erlöst. Er war sichtlich erleichtert, als ich ihm sagte, ich würde mich darum kümmern, das der Tee dort hin kommt, wo er gebraucht wird." Herbert schenkte ihnen beiden ein spitzbübisches Lächeln.

„Die Ausrede kam dir wie gerufen, nehme ich an," es war eine Feststellung, keine Frage.

„Also Vater, ich muss doch schon sehr bitten, da habe ich nichts als das Beste für unseren Gast und den armen Koukol im Sinn, und muss mir solche Anschuldigungen anhören!" empörte sich Herbert mit einem Tonfall, der verriet, dass er es nicht ernst meinte.

Victor schnaubte, halb amüsiert, halb missbilligend.

„Sarah, sei gewarnt, du solltest ihm auf gar keinen Fall alles glauben, was er sagt, wenn die Nacht lang ist. Der Schalk sitzt ihm im Nacken."

„Man könnte sagen, ich verwalte den Humor der Familie," entgegnete Herbert mit einem eleganten Verbeugung in Richtung des Grafen.

Victor schnaubte ein wenig abfällig, dann wandte er sich wieder an Sarah. „Ich habe meine Pflicht als Gastgeber vernachlässigt. Gestatte mir, das zu korrigieren. Du möchtest doch sicher eine Tasse Tee?"

„Sehr gerne," entgegne Sarah und errötete ein wenig.

Victor führte sie zu einem freien Stuhl oberhalb des verwaisten Schachbretts. Nachdem er ihr beim Setzen behilflich gewesen war, goss er ihr selbst ein.

„Möchtest du Milch oder Zucker?"

„Keines von beidem, danke," murmelte sie.

Victor reichte ihr die Tasse. Dann setzte er sich neben sie. Herbert ließ sich unaufgefordert ihr gegenüber nieder. Während sie in vorsichtigen Schlucken trank, betrachtete sie das Schachbrett genauer.

„Jemand ist scheinbar gerade mitten in einem Spiel," bemerkte sie dann interessiert.

„Ich habe es bisher geschafft meinem werten Vater Paroli zu bieten," erklärte Herbert ein wenig verlegen. „Er ist der Stratege in der Familie müssen sie wissen, Fräulein Sarah. Also ist es vermutlich nur eine Frage der Zeit bis ich ihm doch noch in die Falle Tappe," antwortete Herbert.

„Heißt das, er gewinnt immer?" fragte Sarah beeindruckt.

„Nun ja, meistens," gestand Herbert. „Man kann sich glücklich schätzen, wenn man ihn in einem Patt festnageln kann, aber wen er gerade eine schlechten Nacht hat, ist schon mal ein Sieg möglich," Herbert grinste. Doch Victor zuckte nur nonchalant die Schultern.

„Wie lange habt ihr an dieser Partie schon gespielt?" fragte sein Sternkind schließlich an ihn gewandt. „Ungefähr drei Nächte, glaube ich. Aber wir verbringen auch nicht die ganze Zeit damit. Vor dem Ball ist Herbert immer sehr beschäftigt, ganz abgesehen davon, das er auch nicht immer Interesse an einer Runde Schach hat."

„An dieser Schon!" warf sein Sohn spitzbübisch ein. „Ich habe diesmal so das Gefühl, ich könnte eine Chance auf den Sieg haben."

Sarah setzte ihre leere Tasse ab und sah nun wieder Herbert an. „Und was beschäftigt Sie so sehr vor dem Ball, Herbert?" fragte sie Neugierig. Victor Lächelte. Herbert hatte es geschafft die Illusion der Jugend aufrecht zu erhalten, so lange sie beide Vampire waren. Sarah fühlte sich in seiner Nähe dadurch scheinbar wohl.

Oder hat sie auch ihn instinktiv wieder erkannt? Fragte er sich im stillen.

„Oh, die üblichen Vorbereitungen, natürlich. Das gehört zu meinem Anteil der Aufgaben, die jeder von uns hier zu erledigen hat. Mein Vater hatte nie eine Besondere Vorliebe für Bälle. Ich dagegen habe einen ausgeprägten Sinn für Ästhetik und die schönen Künste. Vater entledigt es einer ungeliebten Aufgabe und mir macht es Spaß," berichtete Herbert lebhaft.

Sarah wandte sich nun aber Victor zu, ein beinahe banger Ausdruck lag in ihrem Gesicht. „Du magst gar keine Bälle?" fragte sie beinahe enttäuscht.

„Das würde ich so nicht ausdrücken. Früher wusste ich sie mir angenehm zu machen, ich fand es an sich nie unangenehm zu tanzen."

„Er schätzt nur den Anlass nicht," warf Herbert ein. „Es hat mich sehr viel Mühe gekostet ihn dazu zu überreden."

„Was ist denn der Anlass?" wollte Sarah neugierig wissen

Sie sollte die Wahrheit besser früher als später kennen, also antwortete Victor frei heraus.

„Die Anerkennung meiner unsterblichen Untertanen und ihrer Aufnahme in… nennen wir es meinen Hofstaat."

„Aber ich habe hier niemanden außer euch und den Buckligen gesehen, seit ich hier bin," erwiderte sie verwirrt.

„Sie dürfen sich nicht in den oberen Bereichen des Schlosses aufhalten," antwortete Victor und seiner Stimme war anzuhören, das er nicht gerne davon sprach.

„Ich verstehe nicht…" murmelte sie und sah zwischen Vater und Sohn hin und her.

„Vater hatte einen sehr… schweren Anfang als Vampir, der ihn sehr erschüttert hat. Ihm wurde von dem damaligen Anführer dieser Gruppe ein großes Unrecht angetan. Sagen wir, dass wir heute beide Vampire sind und alle Unglücke, die unsere Familie erfuhr, bei ihnen sah er lange deren Ursprung.

Es war schwer ihm vom Gegenteil zu überzeugen und es gab Bedingungen, von denen er nie abgewichen ist."

„Sie leben in den unteren Bereichen des Schlosses und seines Friedhofs," gestand Victor. „Ich bin ein strenger, aber kein grausamer Herr. Einmal im Jahr geben wir einen Ball zu ihren Ehren. Der Gastgeber ist im Grunde Herbert. Ich ziehe es noch immer vor, so wenig Kontakt mit ihnen zu haben, wie möglich."

Sarah nickte verständnisvoll, ihr Gesicht zeigte echtes bedauern und sie ergriff mitfühlend seine Hand und verflocht ihre Finger mit seinen. Er sah sie an und schenkte ihr ein dankbares Lächeln. Dann fügte er nachdenklich hinzu. „Aber abgesehen davon können sie sich im Schloss bei Nacht frei bewegen. Sie sind keine Gefangenen," erklärte er nachdrücklich. Er wollte ihr zeigen, das weder sie noch die anderen Vampire in diesem Schloss eingesperrt waren.

„Was ist meine Rolle auf dem Ball?" fragte sie dann beinahe schüchtern. „Als du mich eingeladen hast, sagtest du ich würde deine Ballkönigin sein. Aber jetzt bin ich mir dessen nicht mehr so sicher." Doch Victor, der ihre Tagträume kannte, kam ihr zu Hilfe.

„Das bist du auch," versicherte er nachdrücklich. „Du bist Ehrengast, mir der liebste Gast von allen." Er hob ihre Hand und küsste sie zärtlich. Das glückliche Leuchten kehrte in ihre Augen zurück.

Noch eine lange Zeit saßen die drei an dem langen Tisch aus Eichenholz zusammen und plauderten zwanglos, wie alte Freunde. Mitternacht lag schon lange zurück, als Sarah begann immer häufiger zu gähnen. Sie unterdrückte es höflich, aber Victor blieb es nicht verborgen.

„Ich denke, es ist an der Zeit, dass ich dir dein Zimmer zeige. Dein Tag war lang, du brauchst Ruhe."

„Das kann ich nicht abstreiten," entgegnete sie ein wenig verlegen und erhob sich.

Victor bot ihr seinen Arm an, und sie hakte sich dankbar bei ihm unter. „Gute Nacht, Herbert. Morgen müssen Sie mir unbedingt dieses Stück vorspielen, von dem Sie mir so vorgeschwärmt haben," bat sie liebenswürdig.

Herbert, der sich gleichfalls erhoben hatte, deutete eine kleine Verbeugung an. „Mit dem größten Vergnügen, Sarah. Ich darf ihnen eine angenehme Nachtruhe wünschen."

Sarah murmelte noch eine Abschiedsfloskel, bevor sie sich von Victor hinaus in den Korridor führen ließ. Es ging zwei Treppen hinauf, mehrere Flure entlang, vorbei an Rüstungen, alten Wappenschilden, Gemälden aller Art, eleganten Möbeln und Teppichen. Es mochte alles ein wenig vernachlässigt sein, aber ihre wandernden Augen verschlangen die Schönheit um sie herum mit hungrigen Blicken, als sie gemeinsam durch das Schloss flanierten.

Beide genossen es Arm in Arm nebeneinander her zu gehen, ohne dabei gestört zu werden. ‚Was wohl ihre Eltern sagen würden, wenn sie wüssten, dass sie das Werben ihres berüchtigten Grafen freudig und huldvoll angenommen hatte?' fragte er sich. Der Gedanke mischte eine beinahe hämische Genugtuung mit Freude. Viel zu schnell, wie es ihm schien, erreichten sie die Tür der für Sarah bestimmten Suite.

„Da wären wir, meine Dame", sagte er mit einer leichten Verbeugung. „Ich werde dich nicht länger aufhalten. Du bist müde, kein Nachtvogel wie ich." Mit einer wehmütigen Geste hob er die Hand und liebkoste zärtlich ihre Wange. „Gute Nacht, Sternkind. Süße Träume. Du magst tagsüber tun, was du willst. Koukol wird sich um deine Bedürfnisse kümmern. Rufe ihn, wann immer du etwas brauchst."

Victor vollführte eine elegante Verbeugung und hätte Sarah dort stehen lassen, wenn sie ihn nicht unterbrochen hätte.

„ Hältst du es für zu kühn von mir, wenn ich dich bitte, mitzukommen und mir noch eine kleine Weile Gesellschaft zu leisten?"

Er richtete sich mit einem Lächeln auf.

„Keines Wegs. Dein Wunsch soll mir Befehl sein," er machte eine Geste in Richtung Tür. „Nach dir, meine Liebe."

Sarah strahlte und trat ein. Der kleine Salon war mit einer Reihe großzügiger Sofas ausgestattet und mit Rosenholztischen, die reich mit Ornamenten aus Perlmutt verziert waren. Die Anrichten und Truhen waren gleich gehalten und fügten sich harmonisch in das Gesamtbild ein. Die Wandteppiche zeigten ein unaufdringliches, hübsches Muster aus Rosen, die in Arrangements und Ranken darüber zu kriechen schienen.

Die Kerzen in den eleganten Kandelabern waren entzündet und in dem großen, offenen Kamin loderte ein kräftiges Feuer.

„Gefällt es dir?" fragte Victor lächelnd, ihrem verzückten Blick folgend.

„Es ist wie für eine Prinzessin!", rief sie erfreut.

Victor lachte. „Nein, für eine Prinzessin wäre es nicht annähernd fein und luxuriös genug. Aber ein würdiger Ort für eine Gräfin, möchte ich meinen," entgegnete er nicht ohne Stolz und ließ sich elegant auf das der Tür am nächsten Gelegene Sofa gleiten. Einen Arm über die Rückenlehne drapiert, schien er das Idealbild entspannter, hochwohlgeborener Eleganz. Doch Sarah bemerkte es nicht, sie betrachtete noch immer bewundernd den Raum. „Ist das...?" begann sie dann zögerlich.

„Vor langer Zeit gehörte es meiner Frau," erklärte Victor ruhig, aber mit einem langsamen, fast unbehaglichen Achselzucken. „Jetzt gehört es dir," setzte er dann rasch hinzu.

„Vielen Dank," entgegnete Sarah errötend.

„Gern geschehen. Es war lange verlassen, doch du erweckst es wieder zum Leben."

Rasch setzte sie sich neben ihn und schmiegte sich mit einem glücklichen Seufzen an ihn. Victor legte den Arm um sie und lehnte sich in die Polster zurück. Für eine Weile genoss er den süßen Moment der Nähe. Er lauschte dem stetigen Geräusch ihres Herzschlags. Er spürte, wie sie sich in seinem Arm immer mehr entspannte, ihre Atemzüge wurden tiefer. Er schüttelte sie sanft an der Schulter. „Komm Sarah. Geh zu Bett, sonst schläfst du gleich hier ein. Du wirst alles, was du brauchst, in dem kleinen Ankleidezimmer neben dem Schlafzimmer finden," versicherte er sanft. Mit festem Griff an der Schulter half er ihr aufzustehen und stützte sie, bis sie ihr Gleichgewicht wiedergefunden hatte. Dann nahm er ihr Gesicht sanft in seine Handflächen.
„Schlaf gut, mein Schatz. Wir sehen uns heute Abend, dann zeige ich dir das Schloss in aller Ruhe," versprach er.
„Das würde mir gefallen," stimmte sie freudig zu.
„Bis heute Abend also, meine Liebe," er beugte sich zu ihr hinunter und gab ihr einen zärtlichen Kuss. Nicht mehr als ein verweilendes Streifen ihres Mundes. Bevor sie mehr tun konnte, als den Druck zu erwidern, zog er sich wieder zurück.

„Ich wünsche dir einen guten Morgen, Sarah. Schlafe wohl." Er nahm ihre Hand und drückte ihr einen letzten Kuss auf die Knöchel, dann ging er leise hinaus und schloss die Tür hinter sich.

Author's Note:

Das Kapitel ist sehr Zitat-lastig. Das lässt sich aber nicht vermeiden, wenn es sich echt anfühlen soll. Siehe Ende der „Author's Note" für Komplette Liste der Quellenangaben

Was die Zeiteinteilung betrifft, habe ich mir hier ein wenig Freiheit gelassen. Wenn man Musical und Film kombiniert ergeben sich Schwierigkeiten. Das heißt das wir hier mehr Tage für die selben Ereignisse brauchen, damit alles logisch zusammen passt.

Ich fürchte, der arme Chagal kommt ein wenig unsympathischer rüber als im Musical. Ich halte mich an dass das, was wir in Film und Musical sehen, der Rest ist Schlussfolgerung.

Die Szenen des Musicals die wir zu sehen bekommen sind anders als auf der Bühne. Wir sehen die Ereignisse hier schließlich durch seine Augen. Aus Lyrics musste Sinnvolle Konversation werden.

Noch dazu wollte ich keine Wiedererzählung bekannter Szenen schreiben, deren Teil Victor nicht ist, die er aber beobachtet. Ich habe mich auf so wenig wie möglich beschränkt. Ausnahme ist Draußen ist Freiheit/ Stärker als wir sind.

Mir hat die Demoversion Braver than we are / The Prayer dabei geholfen, zu Victors Blickwinkel zum einen und auch zu Sarahs Anteil daran zu finden. In ihrem Gedanklichen Dialog ist sehr viel übersetzte und angepasste Lyrics enthalten. Das ist meiner Meinung nach auch notwendig, wenn sich das Wirklich wie das Musical aus anderer Blickrichtung anfühlen soll.

Quellenverweise:

*0: Das Zitat eingangs stammt aus „Gott ist tot „von Michael Kunze, in dem kursiv markierten Absatz beziehe ich mich aber auf Gedankengut von Friedrich Nietzsche. Die Infos dazu sind dem entsprechenden Artikel auf Wikipedia entnommen.

*1: Direktes Zitat aus „Gott ist tot „von Michael Kunze,

*2: Kombiniert ein weiteres direktes Zitat aus „Gott ist tot" mit einem indirekten, sinngemäß übertragenen Zitat aus „Original Sin", der englischen Demo Variante des selben Liedes.

*3: Leicht verändertes „Zitat aus Gott ist tot".

*4 -5 Sinngemäßes übersetztes Zitat aus „Original Sin" der englischen Demo Variante von „Gott ist tot" .

*6 Direktes Zitat aus „Gott ist tot" von Michael Kunze,

*7-10: Direkte Zitate aus "Du bist wirklich sehr nett"

*11-12: Direktes Zitat aus "Einladung zum Ball" der deutschen und übersetztes Zitat der französischen Fassung des Musicals.

*13-16 Direktes Zitat aus "Einladung zum Ball" *17-19 Indirektes Zitat aus "Einladung zum Ball, abgewandelt zwecks zusammenpassendem Dialog.

*20 Sinngemäßes in deutsch übersetztes Zitat aus "Original Sin", englisches Demo Lied,

*21- 27 Direkte Zitate aus "Einladung zum Ball"

*28-40 Direkte Zitate aus Draußen ist Freiheit

*41: Indirektes, da abgewandeltes Zitat aus "Draußen ist Freiheit"

*42-46 Direkte Zitate aus "Draußen ist Freiheit"

*47 Indirektes, da abgewandeltes Zitat aus "Draußen ist Freiheit"

*48-52 Direkte Zitate aus "Die Roten Stiefel/ Stärker als wir sind"

*53 Kombiniert direkte und indirekte, abgewandelte Zitate aus "Die Roten Stiefel/ Stärker als wir sind"

*54-55 Direkte Zitate aus "Die Roten Stiefel/ Stärker als wir sind"

*56 indirektes, abgewandeltes Zitat "Die Roten Stiefel/ Stärker als wir sind"

*57 umfasst und kombiniert mehre indirekte, übersetze und abgewandelte Zitate aus "Braver than we Are/ The Prayer", englisches Demo Lied

*58-60 umfasst und kombiniert mehre indirekte, übersetze und abgewandelte Zitate aus "Braver than we Are/ The Prayer" , englisches Demo Lied

*62 umfasst und kombiniert mehre indirekte, übersetze und abgewandelte Zitate aus "Braver than we Are/ The Prayer", englisches Demo Lied

*61, 64, direktes Zitat aus "Die Roten Stiefel/ Stärker als wir sind"

*62 umfasst und kombiniert mehre indirekte, übersetze und abgewandelte Zitate aus "Braver than we Are/ The Prayer", englisches Demo Lied

*63,65,66 leicht abgewandeltes Zitat aus "Stärker als wir sind"

Alle verwendeten deutschen Zitate Stammen aus dem Libretto von Tanz der Vampire und sind dem Libretto, Edition Butterfly/ PolyGram Songs, 2. Auflage 2002 entnommen.

Die englischen Zitate wurden von Hand aus den englischen Demo Liedern entnommen, zu finden auf