46. Und da war es wieder, dieses Gefühl – TEIL 2
Was zuvor geschah…
Nachdem Jacob gemeinsam mit Jess den Cullens die Nachricht über die Auflösung des Vertrages überbracht hat und er dabei in ein Handgemenge mit Edward verwickelt wurde, muss er sich von seinen Verletzungen erholen. Jess pflegt ihn, doch sie lässt ihn auch wissen, dass es ihrer Meinung nach ohne seine Einmischung keine Eskalation gegeben hätte. …und dass es nicht von Vorteil ist, dass die Cullens nun einen Teil ihres Geheimnisses kennen.
Die Splitter meiner Knochen hatten sich wohl tiefer in mein Fleisch gebohrt, als ich es vermutete. Zumindest war es das, was ich spürte, kurz nachdem ich erwachte. Mir war viel zu heiß und wenn ich danach ging, wie erholt ich mich fühlte, musste ich überhaupt nicht geschlafen haben. Tatsächlich aber schien das Gegenteil der Fall. Draußen war es zwar dunkel, aber soweit ich es erkennen konnte, leckte die Sonne bereits an einigen niedrigen Baumspitzen. Wenn es so früh am Morgen war, waren seit Jess' Abgang rund zehn Stunden vergangen oder sogar mehr.
Mit einem kaum unterdrückten Ächzen stemmte ich mich einarmig von der Matratze hoch und versuchte, meinen verletzten Arm möglichst gar nicht zu bewegen. Beim Aufsetzen bemerkte ich, dass so viel Vorsicht gar nicht nötig war: eine Schlinge lag um meinen Hals, die jeweils meinen Unter- und auch den Oberarm eng am Körper hielt. Wie sie dorthin gekommen war, daran konnte ich mich nicht erinnern. Womöglich hatte ich doch einen weitaus festeren Schlaf…
Auf meinem Weg durch den Flur bewegte ich mich so lautlos wie nur möglich. Falls Jess schlief, wollte ich sie nicht wecken. Allgemein beabsichtigte ich nicht, mich auf eine weitere Belehrung von ihr einzulassen. Wir hatten weitaus wichtigere Dinge zu klären, als uns mit der Frage zu beschäftigen, wie dumm meine Vorgehensweise gewesen war. Oder meine Entscheidung, Edward einfach machen zu lassen. Oder die, Renesmee freizugeben. Obwohl es genau das war, was ich in den jeweiligen Momenten als richtig befunden hatte, war ich mir nicht sicher, wie viel davon aus reiner Überzeugung passiert war. Ich würde heilen, das stand fest. Und ich fühlte mich weniger schäbig mit dem Wissen, dass mir eine gewisse Bestrafung zuteilgeworden war. Und selbst Renesmee vermisste ich nicht. Noch nicht, zumindest. Denn all das war keinen Tag her.
„Wahrscheinlich habe ich mich zu undeutlich ausgedrückt.", überraschte mich Jess, deren Augen im Dunkel leuchteten. Weil ich mich rasch nach ihr umgedreht hatte, um ihre Gestalt am Türrahmen meines alten Zimmers lehnend zu erblicken, streckte ich meine Hand nach der Wand aus, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Ich fühlte mich viel zu schwach.
Jess' Arme waren verschränkt und sie trug weite Kleidung, fast so als hätte sie wirklich geschlafen. Wach und viel zu aufmerksam war sie dennoch, und sie folgte mir auf Schritt und Tritt in die Küche.
„Essen von gestern Abend steht im Kühlschrank."
Selbst von meinen Gedanken konnte sie nicht die Finger lassen. Oder es war einfach offensichtlich, was ich vorhatte – wer wusste das schon so genau. Meinem rumorenden Magen folgend entnahm ich besagte Mahlzeit und setzte mich beim vagen Licht der aufgehenden Sonne an den Esstisch.
Jess wartete einen Moment, dann machte sie kehrt. Sie kam erst wieder, als es bereits heller Tag war, und schaffte es ohne ein Wort, mich zur Reue zu bewegen…zumindest im Rahmen meiner Möglichkeiten.
„Bist du jetzt fertig damit, mich mit stiller Verurteilung zu strafen?", sagte ich und hörte meine Stimme beinahe von den Wänden widerhallen, währenddessen sie mich weiterhin mit ihrem schweren Blick bedachte: „Es ist an der Zeit, dass du mir sagst, was du gesehen hast. Oder gehört." Sie zögerte etwas zu lange und setzte sich schließlich mir gegenüber. Ihre Haut war makellos, ihr Gesicht ließ in keinster Weise vermuten, was hinter der Fassade vor sich ging. War das wirklich ihr Versuch, Reumütigkeit in mir zu wecken, oder hatte sie ein ganz anderes Problem?
„Sie sind schuldig, ohne Zweifel. Oder, einer von ihnen ist es."
Dass der Ton ihrer Stimme aalglatt war wie der Rest ihres Auftretens fiel mir nur am Rande auf. Wesentlich war, dass sie es tatsächlich ausgesprochen hatte. Dass bestätigt war, was ich nie glauben wollte: „Wer?"
„Das weiß ich nicht."
Wenn nichts von alledem gelogen war, dann aber das. Wie sollte sie es nicht wissen? Sie hörte Gedanken, also konnte sie sie auch zuordnen. Und falls irgendjemand in diesem Raum darüber nachgedacht hatte, dann musste ihr wohl klar sein, um wen es sich dabei handelte.
„Du stellst dir das zu einfach vor.", machte sie klar, aber ich reagierte unvermittelt: „Halt' dich aus meinem Kopf raus." Sie machte ein Geräusch, als wäre ich nicht in der Lage, zu beurteilen, ob sie das durfte oder nicht. Oder ob es notwendig war. Fakt war, dass es mich tierisch aufregte.
„Dann sag mir, wie du zu der Annahme kommst. Und wieso ich den vielleicht größten Fehler meines Lebens an einer Annahme festmache."
Meine Forderung schien ausdrücklich genug.
„Ich lese Gedanken, Jacob, da hast du Recht. Aber Gedanken sind kein Roman, kein Artikel in einer Zeitung. Sie fallen nicht Wort für Wort, sind keine ganzen Sätze und überlagern sich. Wenn wir also davon ausgehen, dass ich die Aufgabe habe, unter neun gleichzeitig ungehemmt denkenden Personen die eine herauszufinden, die etwas gedacht hat, dann erscheint mir das als äußerst dreist.", erklärte sie mit einer Ruhe, die ihresgleichen suchte. Ihr Standpunkt war klar, aber meiner auch: „Genau deshalb hast du diese Aufgabe bekommen. Weil ich mir sicher war, dass du sie lösen kannst." Jess lächelte, als freute sie sich über diesen Vertrauensbonus.
„Dann habe ich dich wohl enttäuscht."
Das…war's?
Einen Moment beäugte ich sie misstrauisch, weil ich nicht glauben konnte, dass sie sich für diese Sache vorgeschlagen hatte, nur um sich am Ende damit zu rechtfertigen. Wenn es so kompliziert war, dann konnte ich das nachvollziehen. Aber dann brauchte sie es nicht so darstellen, als wäre sie eine so große Hilfe. Denn dann baute ich meine Handlungen nicht auf Kartenhäusern wie diesem auf.
Sie faltete die Hände: „Ich konnte herausfinden, dass jemand davon weiß. Derjenige kannte Details, die damit in Verbindung standen. Sagen wir…er hatte ein gewisses spürbares Gefühl dabei, als er darüber nachdachte. Ich merkte, dass wir richtig waren – an der richtigen Adresse sozusagen, aber ohne zu wissen, welche Etage oder welche Wohnung. Wer immer es war, wusste, dass ich ihn belauschen würde, und gab sich Mühe, sich zu verbergen. Aber bei einer Sache bin ich mir sicher." Das alles war so schwammig, dass ich förmlich darauf ausrutschte, sobald ich auch nur versuchte, mich dieser Angelegenheit zu nähern. Jess wusste nichts und hatte dennoch dafür gesorgt, dass ich den Vertrag aufkündigen würde. Konnte das ihr Ziel gewesen sein? Wollte sie das? Oder wusste ich schlichtweg nicht mehr, was ich glauben sollte und wo oben und unten war? Es wäre einfach zu sagen, dass sie Schuld trug. Einfacher, als es als die meine anzuerkennen…
„Wer immer es war, hat nicht allein gehandelt – aber allein aus ihrem Clan. Die anderen wissen es nicht. Jemand anderes war beteiligt, jemand, mit dessen Hilfe derjenige sich sicher fühlt."
Das war tatsächlich etwas. Eine hilfreiche Information, mit der zwar nicht ohne weiteres etwas anzufangen war, aber immerhin. Nur sah ich ein Problem dabei: ich hatte sie alle aufgrund des Fehltritts einer Einzelperson verurteilt. Und obwohl es besser so war, den Kreis der Schuldigen eingegrenzt und dafür gesorgt zu haben, dass sie keinen weiteren Schaden (zumindest keinen unbeobachteten) verursachen konnten, dämpfte nichts davon mein Schuldgefühl.
Jess bekam es unweigerlich mit und ergriff meine Hand, diesmal sicher und ernst. Wir sahen uns an: „Du hast das Richtige getan. Wir haben das Richtige getan. Vorerst ist es die sicherste Methode, und vor allem gibt es zumindest einen Ansatzpunkt dafür, dass es nicht grundlos ist. Sam wird derselben Meinung sein – alle werden das. Niemand verurteilt dich. Und wenn ich mich geirrt haben sollte…"
Da war es wieder, das Lächeln.
„Wenn ich mich geirrt haben sollte, dann liegt diese Last allein auf meinen Schultern."
Es bedeutete mir viel, dass sie das sagte, obwohl ich nie zulassen würde, dass man sie dafür verantwortlich machte. Und wie ich sie so ansah, wie ich mein Spiegelbild in ihren klaren Augen betrachtete, bemerkte ich, dass doch nicht alles gut war. Ich bewegte meinen Kopf leicht nach links und rechts, nur um sicher zu gehen. Und als ich mir bewusstwurde, dass ich Recht hatte, ergab das alles einen Sinn. Das Bild von Edward und Jess flammte vor mir auf, die sich für einen kurzen Moment näherkamen als nötig. Vorher war es mir nicht ungewöhnlich vorgekommen. Ich hatte es nicht mitbekommen und auch nicht weiter darüber nachgedacht. Aber Jess war vor ihm zurückgeschreckt, und das nicht ohne Grund: auf ihrer sternengelben Iris war ein Schatten; ein Riss, gleich eines gezackten Blitzes. Er folgte seinem Weg bis hin zur Pupille.
Meine Stimme verfestigte sich augenblicklich: „War er das?"
