Kapitel 52 – Schwarzer Ritter
Leise fiel der erste Schnee Ende November, als Oscar und André aus einer Dorfkirche zurückkehrten. Die Kinder und die anderen auf dem Anwesen der de Jarjayes schliefen bereits. Deshalb half Oscar ihrem Geliebten schnell beim Absatteln der Pferde und wärmte ihre Glieder wenig später im vorgeheizten Kaminzimmer ihres Salons.
Das war ein sehr anstrengender Monat gewesen. Es tauchte nämlich ein außergewöhnlicher Dieb auf. Er brach nur in den Adelshäusern ein und verteilte dann sein Diebesgut unter den Ärmsten der Armen. Um unerkannt zu bleiben, trug er ein schwarzes Kostüm und eine schwarze Maske. Aus diesem Grund wurde er schon bald schwarzer Ritter genannt und Oscar wollte ihn unbedingt dingfest machen. Selbstverständlich erklärte sich André bereit, ihr dabei zu helfen. Nur verschwand er aber fast jeden Abend, ohne zu sagen wohin, und kehrte erst spät nachts nach Hause. Oscar wollte ihn keineswegs verdächtigen, aber die Tatsache, dass ihr Geliebter zum selben Zeitpunkt ging, als die Diebstähle stattfanden, ließ sie nicht in Ruhe. Also musste sie wohl oder übel den Dieb alleine fangen. An einem der Bälle, bei einer Gräfin, hatte sie Glück und traf auf den schwarzen Ritter. Natürlich verfolgte sie ihn durch Paris und dabei kämpfte sie mit ihren eigenen Gefühlen, denn trotz der Maske sah der Dieb ihrem Geliebten sehr ähnlich.
Der schwarze Ritter war aber nicht leicht zu fangen und lockte sie in einer Gasse in eine Falle. Die Gefolgsmänner des Diebes tauchten auf und einer von ihnen schlug sie auf den Kopf. Jedoch konnte Oscar mit einer blutenden Wunde am Kopf fliehen, versteckte sich in einem Haus vor ihren Verfolgern und brach dort zusammen. Als sie mit einem Verband um ihren Kopf und in einem Bett aufwachte, sah sie überrascht Rosalie. Die junge Frau wohnte schon lange nicht mehr bei den Polignacs, sondern bei einer früheren Nachbarin und Oscar war erfreut, sie wieder zu sehen.
Auf ihr elterliches Anwesen kam sie erst abends an und hatte André zur Rede gestellt, wohin er denn alle Abende verschwand und warum er ihr nichts darüber erzählte. André verstand, dass sie ihn verdächtigte, der schwarze Ritter zu sein und brachte sie beim nächsten Mal in eine Dorfkirche. Dort diskutierten die Bürger über die Verhältnisse des Landes und besprachen neue Ideen.
„Du willst mir doch nicht im Ernst erzählen, dass du den schwarzen Ritter für einen Vertreter der neuen Bewegung hältst?", fragte Oscar, nachdem sie ihre Glieder nach dem nächtlichen Ausflug in der Dorfkirche erwärmt hatte. Sie stand am Fenster und sah den fallenden Schneeflocken draußen desinteressiert zu.
„So habe ich das nicht gemeint, Oscar." André dagegen hatte sich auf einem Kanapee bequem gemacht und betrachtete ihren schönen Rücken, ihr offenes Haar und ihre noch immer schlanke Figur. Nur das Becken schien durch die Geburt der Kinder etwas breiter geworden zu sein, aber das störte ihn nicht. Er liebte sie noch immer und daran würde sich nichts ändern. „Ich teile völlig deine Meinung, dass ein Dieb nun mal ein Dieb ist. Trotzdem kannst du es nicht leugnen, dass er die ungeteilte Sympathie der Bevölkerung genießt."
„Das ist mir ganz egal. Ich will alles daran setzten, um ihn zu fassen. Ich werde ihm die Maske vom Gesicht reißen und sehen, wer dahinter steckt." Oscar drehte sich um und schaute ihm direkt ins Gesicht. Ihr stechender Blick erinnerte André an ein Donnergrollen. Auch ihre Stimme klang fest und entschlossen. „Ob du mir dabei hilfst, ist deine Sache. Ich kann dich dazu nicht zwingen."
André stand vom Kanapee auf und kam zu ihr. „Als ob ich dich alleine lassen werde." Das konnte seine Geliebte vergessen! „Nach allem, was er dir angetan hat, werde ich erst recht nicht mehr von deiner Seite weichen." Er strich leicht über den rauen Verband um ihren Kopf, schob ihr Haar sachte hinters Ohr und schenkte ihr einen zarten Kuss auf die Schläfe. Den anderen Arm legte er um ihre Hüfte und zog ihren Körper etwas an sich. „Ich will doch meine geliebte Frau und die Mutter meiner Kinder nicht verlieren."
„Ich danke dir, Geliebter." Oscar lehnte sich an ihn und genoss diese angenehme Zweisamkeit. Sein Körper strahlte immer diese beruhigende Wirkung aus, die auf sie überging und sie zumindest in seinen Armen all die Probleme und Sorgen vergessen ließ.
Mit dem Einbruch des Winters hörte aber auch der Schwarze Ritter mit den Diebstählen auf. So, als hätte er beschlossen, eine Winterpause einzulegen. Aber der Winter war doch gerade die härteste und schlimmste Jahreszeit für die Menschen! Besonders die ärmsten Bürger, die kein Dach über den Kopf und nichts zu essen hatten, litten darunter! Oder starben gar durch Erfrieren und Hunger.
Trotzdem war Oscar bei allen Bällen, die in Adelshäusern zu diesem Zeitpunkt stattfanden, immer anwesend und André begleitete sie selbstverständlich. Und jedes Mal kehrten sie ohne geringsten Erfolg nach Hause zurück. Vielleicht sollten sie auch eine Pause anlegen und abwarten, bis der schwarze Ritter erneut zuschlug?
General de Jarjayes war da aber einer anderen Meinung. „Oscar soll diesem gemeinen Dieb auf jeden Fall auf der Spur bleiben."
„Sie soll sich lieber Zuhause ausruhen und sich von der Kopfverletzung erholen.", widersprach Emilie de Jarjayes leicht besorgt ihren Mann. Das war einer dieser seltenen Abende, als sich die gesamte Familie de Jarjayes auf dem Anwesen einfand und ihren dienstfreien Tag zusammen verbrachte. In dem großen Salon saßen sie alle beisammen und genossen den warmen Tee. Sogar André und die Findelkinder durften dabei sein. Sie tranken eine heiße Schokolade und hörten den Gesprächen der Erwachsenen zu, ohne sich dabei einzumischen. Was für brave und gehorsame Kinder! Sie wuchsen sehr schnell und waren sehr gut erzogen. So, als wären sie wirklich ein Teil dieser Familie. Emilie schmunzelte angetan. Im Gegensatz zu ihrer Tochter oder ihrem Gemahl hatte sie nicht das Vergnügen, die drei Findelkinder oft zu sehen. Als Hofdame und Kammerfrau ihrer Majestät verbrachte sie mehr Zeit in Versailles. Das war ihre Pflicht, ständig an der Seite der Königin zu sein und deswegen freute sie sich umso mehr, wenn sie ein oder zwei freie Tage bekam und die Zeit Zuhause mit ihrer Familie verbringen durfte. „Vielleicht hat dieser schwarze Ritter gänzlich aufgehört, als Oscar ihm entkommen war. Denn seitdem hört man nichts mehr von ihm.", kam Emilie auf das Thema zurück und entriss ihren Blick von den Kindern.
„Oscar hat schon Schlimmeres überstanden." Reynier winkte mit der Hand ab. Seine Gemahlin machte sich unnötige Sorgen – ähnlich wie die Haushälterin Sophie. Beide Frauen sollten sich lieber um ihre eigenen Sachen kümmern. Er hatte Oscar doch nicht umsonst wie einen Mann erziehen lassen, ihr das kämpfen beigebracht und aus ihr einen hartherzigen Soldaten gemacht! Wobei hartherzig war sie schon lange nicht mehr und daran waren nur André und die Liebe schuld. Der beste Beweis dafür, dass er, ihr Vater und Erzeuger, in ihr diese weichen, weiblichen Gefühle nicht auslöschen konnte, befand sich gerade in seinem Salon. François, Augustin und Marguerite waren zwar artige Kinder, aber das änderte nichts an der Tatsache, dass ein großes Geheimnis um sie herrschte. Bis auf Augustin wusste weder François noch Marguerite, dass Oscar und André ihre wahren Eltern waren. Aber irgendwann würde die Wahrheit ans Licht kommen und dann würde Reynier gerne das Gesicht seiner Tochter sehen. Besonders wenn sie über Augustin alles erfahren würde und warum ihr Vater ihn als Fechtpartner und Spielkamerad für François angestellt hatte. Allerdings gehörte das jetzt nicht hier her. Der General schob schnell seine hinterlistigen Gedanken beiseite und fügte zu seiner Frau hinzu, um bei dem Thema weiter zu bleiben: „Graf de Girodel vertritt Oscar in Versailles sehr gut. Also passiert schon nichts, mach Dir keine Sorgen, meine liebe Emilie. Ich habe sie nicht umsonst wie einen Mann erzogen und ihr alles für das Leben eines Soldaten beigebracht."
François horchte auf, sobald der Name seines Patenonkels fiel. „Geht es Monsieur Girodel gut? Er hat uns lange nicht mehr besucht."
„Dein Patenonkel hat als Oscars Vertretung viel zu tun.", äußerte sich knapp der General und schaute zu Augustin. Der Junge hatte sich in all den Jahren sehr gut entwickelt und meisterte seine Aufgabe mit Bravour. Wenn die Wahrheit irgendwann ans Licht kommen würde, würde er den Jungen bei sich behalten und ihn zu einem besseren Soldaten erziehen als Oscar. Zumal Augustin sein Enkel war, er hat ihn gefunden, ihn sozusagen großgezogen und somit hatte er mehr Rechte auf den Jungen als die eigenen Eltern. Reynier behielt seinen strengen Blick, aber seine Mundwinkel zogen sich trotzdem leicht nach oben. „Gab es Veränderungen während meiner Abwesenheit?" Besser gesagt, gab es etwas Wichtiges, worüber der Großvater mit seinem Enkelsohn unter vier Augen reden sollte?
Augustin verstand. Sein Großvater wollte sicherlich über alles wissen, was seine Eltern zusammen machten. Aber das konnte er vergessen! „Bis auf die Sache mit dem schwarzen Ritter gibt es keine Veränderungen und auch nichts Neues." Dabei hob und senkte er seine Schulter. Es gab zwar viele Neuigkeiten zu erzählen, aber er würde doch seine Eltern nicht mehr verraten - das hatte er sich einstmalig geschworen und daran würde er sich halten.
