Liebe, Lüge, Wahrheit
Kapitel 68 – Graf de Girodel
Eine Woche...
Seit einer Woche war André spurlos verschwunden und bis auf sein Gewehr und die blutbefleckte Uniform wurde nichts mehr weiter von ihm gefunden... Nicht einmal sein Leichnam – so, als hätte er sich in Luft aufgelöst. Wo war er? Was war mit ihm passiert? Und vor allem, war er noch am Leben?
Diese Fragen stellten sich nicht nur Oscar und ihre Kinder, sondern auch Sophie, Graf de Girodel, Madame de Jarjayes und ihr Gemahl, der General. Oscar hatte keine andere Wahl, als ihnen über das Verschwinden von André mitzuteilen. Am härtesten hatte es Sophie und Madame de Jarjayes getroffen. Beide Frauen betteten jeden Tag für das Leben des jungen Mannes und dass er bald zurückkehrte. Vor allem Sophie, die seit letzter Woche mehr Tränen vergoss als in ihrem ganzen Leben. Jetzt weinte sie nicht, aber in ihrem Gesicht zeichnete sich Trauer und Bitterkeit um ihren Enkel. Schweigend schenkte sie Wein in zwei Gläser ein und hörte dem Gespräch zwischen General de Jarjayes und Graf de Girodel aufmerksam zu. Vielleicht gab es Neuigkeiten über André?
Leider hatte Reynier für sie keine Neuigkeiten über ihren verschollenen Enkel. Zusammen mit Graf de Girodel saß er in seinem Kontor auf seinem Anwesen und besprach mit ihm, wie es weiter gehen sollte. Etwa vor einer Woche war André spurlos verschwunden und die tägliche Suche brachte kein Ergebnis. General de Jarjayes hieß zwar die geheime Liebesbeziehung zwischen seiner Tochter und André nicht gut, aber in der Tiefe seines Inneres mochte er André und ihm tat die alte Haushälterin leid, weil ihr Enkel schon so lange nicht auffindbar war. Sophie war eine treue Seele, sehr pflichtbewusst und diente dem Hause der de Jarjayes schon seit vielen Jahrzehnten. „Danke Sophie, du kannst gehen und schick zu mir Oscar, François und Augustin, wenn sie da sind." Seit dem Verschwinden von André, kam Oscar jeden Abend mit ihren Söhnen auf das elterliche Anwesen und war nicht ansprechbar. Sie schloss sich in ihrem Zimmer ein, wollte niemanden sehen und am nächsten Tag ging sie in die Kaserne, ohne ein Wort zu verlieren. Das war einerseits verständlich, immerhin kannte sie André seit ihrer Kindheit, aber andererseits vernachlässigte sie dadurch ihre Pflichten eines Offiziers und das durfte nicht sein.
General de Jarjayes nahm sein Glas, trank etwas Wein und wartete, bis Sophie sein Kontor verließ. So konnte es nicht weiter gehen. Neben der erfolglosen Suche nach André, geschah noch etwas, weshalb er sich Sorgen machte: Einige Soldaten in der Kaserne hatten tatsächlich eine Beschwerde über ihren neuen Befehlshaber an den König geschrieben! Das gefiel weder seiner Majestät, noch dem General. Das war noch ein Grund, weshalb Reynier den Grafen de Girodel heute zu sich nach Hause auf Glas Wein einlud. „Oscar muss heiraten.", offenbarte er, nachdem er sein geleertes Glas auf dem Tisch abstellte.
Victor verschluckte sich beinahe an seinem Wein und hustete in seine Hand. „Was sagtet Ihr?", fand er wieder seine Stimme, nachdem der Husten abebbte.
„Ihr habt mich schon verstanden, Graf." Reynier ging ans Fenster, legte hinter sich seine Hände aufeinander und stierte lustlos nach draußen. Das letzte Gespräch mit Oscar und später mit Augustin ging ihm nicht aus dem Kopf. Augustin hatte zwar widersprochen, dass Oscar ein Kind von André erwarten konnte, aber daran zweifelte er noch bis heute. „André kann womöglich schon tot sein und die Kinder brauchen einen Vater. Wenn Oscar wirklich schwanger ist, dann wird ihr Bauch bald wachsen und ihr Geheimnis somit auffliegen. Aber wenn sie in Kürze heiratet, können wir das Kind dem Ehemann zuschieben."
Victor erschrak und ihn umfasste ein unwohles Gefühl. General de Jarjayes wollte seine Tochter verheiraten? Nur weil sie womöglich wieder ein Kind von André erwartete? Und wenn das nicht stimmte und André irgendwann doch noch zurückkommen würde? Dann würde der General das Leben von Lady Oscar noch mehr zerstören! Zum wiederholten Mal verfluchte Victor innerlich den General und fragte gleichzeitig banges Herzens: „Und habt Ihr schon einen Bräutigam in Aussicht?"
„Ja." Reynier drehte sich am Fenster um und durchbohrte den Grafen mit seinem eisigen Blick. „Ich dachte an Euch, Graf de Girodel. Ihr seid doch der Patenonkel von François, der Erzieher von Augustin und Ihr mögt meine Tochter. Ihr dient Oscar schon viele Jahre treu und hütet ihr Geheimnis. Ihr seid ihr in Rang und Titel ebenbürtig und es wäre von daher eine kleine Liebesaffäre zwischen euch nicht ausgeschlossen. Deswegen können wir behaupten, dass ihr das Kind vor der Hochzeit gezeugt habt und aus diesem Grund tritt ihr in den Ehebund ein."
Er sollte Lady Oscar heiraten? Wie oft hatte er schon davon geträumt und jetzt sollte es wahr werden? Das war sehr verlockend und Victor fehlte mit einem Mal die Sprache. Heimtückisches Glücksgefühl breitete sich in ihm aus. Zugegeben, ihm tat André und was ihm widerfuhr schon leid, aber der General konnte auch recht haben. Wenn André wirklich tot war, dann wäre er in der Tat die perfekte Partie für Lady Oscar. Sie würde ihr strengstes Geheimnis nicht mehr bewahren müssen, weil ihre Kinder dann ihn Vater nennen könnten und er liebte sie noch immer...
Die Tür zu dem Kontor des Generals ging auf und die Zwillinge kamen herein. Das brachte Victor aus seinen Gedanken zurück in die Wirklichkeit. General de Jarjayes betrachtete seine zwei Enkel, die vor ihm stramm wie Soldaten standen, mit ernster Miene. „Wo ist Oscar?", wollte er von ihnen wissen.
„Mutter wird gleich nachkommen.", sagte François.
Victor nutzte die Anwesenheit der Knaben sogleich aus. „General de Jarjayes, ich nehme Euer Angebot an.", erläuterte er beinahe euphorisch und legte sich dabei seine rechte Hand ans Herz. „Ich möchte Eure Tochter, Oscar François de Jarjayes heiraten und ihre Kinder somit adoptieren."
Graf de Girodel wollte ihre Mutter heiraten, kreiste es augenblicklich in den Köpfen von den Zwillingen und plötzlich kam ihnen Graf der Girodel wie ein gemeiner Eindringling vor. Warum tat er das? Er wusste doch genau, dass ihre Mutter niemanden außer ihren Vater heiraten würde! Oder machte er das, weil ihr Vater verschwunden war und er sich deshalb verpflichtet fühlte, dessen Platz einzunehmen? Aber das wäre doch falsch! Weder François noch Augustin glaubten daran, dass ihr Vater tot sein könnte. „Nein, Onkel Victor!", mischte sich François deshalb als erster ein. „Ihr dürft sie nicht heiraten!"
„Still!", befahl der General missbilligend. Einerseits konnte er die Reaktion des Jungen verstehen, aber andererseits... „Das hast du nicht zu entscheiden!"
„Ihr auch nicht!", warf Augustin ihm eiskalt vor und spannte seine Muskeln an – ähnlich wie beim letzten Gespräch zwischen ihm und seinem Großvater. „Sie ist ein freier Mensch und nicht Euer Spielzeug!"
„Schweig! In diesem habe ich das Sagen!", donnerte der General im barschen Ton und sah danach aus, als würde er auf den blonden Jungen mit dem trotzigen Blick aus den blaugrünen Augen einprügeln wollen. „Ich bin ihr Vater, sie hat mir zu gehorchen und egal, ob ihr es wollt oder nicht, ich stimme dieser Ehe zu!"
Um die angespannte Situation etwas zu mildern und die Zwillinge etwas zu beruhigen, schob sich Graf de Girodel ins Blickfeld des Generals. „Habt Dank, General, Ihr macht mich glücklich. Ich werde selbstverständlich die Patenschaft oder gar die Vaterschaft für die Findelkinder mit Freude übernehmen, sofern Lady Oscar das auch wünscht."
„Das wird sie, macht Euch darüber keine Sorgen, Graf." Reynier milderte sein Gesichtsausdruck und schien sich zu beruhigen.
Die Zwillinge dagegen wurden zorniger. „Niemals!", knurrte François in Richtung von Graf de Girodel mit belegter Stimme. „Ich werde Euch niemals Vater nennen!"
Victor spürte eine gewisse Abneigung ihm gegenüber von den Zwillingen und das schmerzte ihm. „Aber, François, ich bin doch schon dein Patenonkel."
„Ab jetzt nicht mehr! Ich hasse Euch, weil Ihr mir meinen Vater wegnimmt!" François traten beinahe die Tränen in den Augen. „Ihr hättet meine Mutter fragen sollen, ob sie Euch überhaupt heiraten will!"
Das beschäftigte also den Jungen, dachte Victor und hoffte mit dem nächsten Satz ihn milder zu stimmen. „Du hast recht, François, ich hätte Lady Oscar fragen sollen. Deswegen, wenn es General de Jarjayes erlaubt, werde ich warten bis sie zurückkommt."
„Ihr dürft warten, Graf.", meinte Reynier knapp und fixierte die beiden Knaben mit einem strengen Blick, der keine Widerrede mehr duldete. „Ob ihr wollt oder nicht, ihr müsst euch damit abfinden. Ich reite jetzt nach Versailles und erbete die Erlaubnis bei seiner Majestät."
„Das ist ungerecht...", murmelte François mit belegter Stimme. „Warum muss man den König um Erlaubnis bitten? Er fragt doch auch nicht, wenn er jemanden heiraten will!"
„Schluss jetzt, ich will keine Wort mehr darüber hören! Jetzt geht und macht euch woanders nützlich!", donnerte Reynier. Es reichte! Die zwei Knaben brachten ihn noch in Rage, wenn es so weiter gehen würde! Wenigstens Augustin hielt seinen Mund, im Gegensatz zu François! Wo blieb nur Oscar? Warum dauerte es so lange?
Mit dieser Widerspenstigkeit der Zwillinge hatte auch Girodel nicht gerechnet. Er dachte wohl, sie würden seine Entscheidung akzeptieren und versuchte seine Beweggründe den beiden deutlicher zu erklären. „So ist das gesetzlich vorgeschrieben und das muss man befolgen. Lady Oscar und ich sind gleichen Standes, wir gehören dem Adel an und André dagegen ist ein Bürgerlicher. Zumal sich doch jemand um euch kümmern muss, weil er weg ist. Deswegen wird ihr niemals gestattet werden, ihn zu heiraten. Zudem noch liebe ich sie."
Das war es also, leuchtete es Augustin ein. Deswegen hatte sein Erzieher all die Jahre geschwiegen und das Lügenspiel mitgemacht! Jetzt nutzte er das Verschwinden seines Vaters aus, um die Liebe zu seiner Mutter zu beweisen, indem er sie heiratete! Das glich einem Verrat! Augustin fühlte sich bitter enttäuscht und wütend auf den Menschen, dem er am meisten vertraut hatte. „Oscar François liebt Euch aber nicht!", spie er erzürnt und wünschte sich, er wäre Graf de Girodel und seinem Großvater niemals begegnet. „Wenn Ihr sie wirklich geliebt hättet, Graf, dann würdet Ihr sie niemals zwingen, Euch zu heiraten! Im Gegenteil, Ihr würdet ihr bei der Suche nach André helfen! Was Ihr macht, ist Selbstsucht und Ihr denkt nicht an ihre Gefühle, sondern nur an Eure eigenen!" Augustin schnaufte pausenlos, sein Herz hämmerte wild und der Drang, von hier wegzulaufen, nahm ihn ein. Er packte den Arm seines Bruders und zerrte ihn zur Tür. „Komm, François, wir gehen!"
„Ja, Augustin..." François warf einen bitterbösen Blick auf seinen Patenonkel, von dem er ebenfalls sehr enttäuscht war, und folgte Augustin.
In dem langem Korridor ließ Augustin den Arm seines Bruders los und beschleunigte seinen Schritt. Er rannte beinahe. Ihm kam eine Idee und er wollte sie so schnell wie möglich in die Tat umsetzen – noch bevor sein Großvater ihm zuvorkam. François rannte ihm nach. „Wo gehen wir hin?"
„Nach Versailles!", erklärte Augustin außer Puste, aber blieb kein einziges Mal stehen. „Ich will den König bitten, keine Erlaubnis für die Heirat unsere Mutter mit Graf de Girodel zu geben! Dann will ich unseren Vater finden! Denn nur so wird unser Großvater von seinen Heiratsplänen ablassen! Ich glaube nicht, dass unser Vater tot ist, niemals!"
Ja, das war eine sehr gute Idee, dachte François und schöpfte Hoffnung. „Ich werde dich überall begleiten, Augustin! Zu zweit werden wir bestimmt mehr bewirken können."
Sie erreichten das Ende des langen Ganges und blieben an der Treppe abrupt stehen. Oscar kam gerade ihnen entgegen, die Treppe hoch und als sie die zwei sah, blieb sie stehen. „Wo wollt ihr hin?"
„Nach Versailles.", sagte Augustin und schluckte hart. Seine Mutter sah erschöpft und kraftlos aus. Dunkle Augenringe deuteten auf schlaflose Nächte und Ruhelosigkeit hin.
„Was wollt ihr dort?", wunderte sich Oscar. Ihre sonst so helle und manchmal herrische Stimme klang nicht mehr wie ein Flüstern. Sie sprach zwar zu den beiden Knaben, aber in Gedanken war sie bei André und wo sie nach ihm noch suchen konnte. Seit seines Verschwindens hatte sie jeden Tag ganz Paris nach ihm durchforstet – erfolglos. Aber aufgeben würde sie niemals und wenn es sein sollte, würde sie ihr ganzes Leben nach ihrem André suchen...
Auf ihre Frage, die sie schon vergessen hatte, schaute Augustin zu François. „Sag du es ihr. Sie hat das Recht es zu erfahren."
Oscar wurde mit einem Mal hellhörig. „Was soll ich erfahren?" Hatten sie etwa André gefunden, war der erste Gedanke in ihrem Kopf und ihr Herz begann schneller zu schlagen.
„Mutter… Graf de Girodel ist gerade bei unserem Großvater im Kontor..." François schluckte, um seine Stimmbänder zu ordnen und suchte nach passenden Worten. Er ahnte, dass die Neuigkeit seine Mutter hart treffen würde, aber Augustin hatte recht, sie musste es erfahren... „Graf de Girodel will dich heiraten und Großvater hat seinem Antrag zugestimmt..."
„Wie bitte?" Oscar ließ die zwei Knaben stehen und rannte eilends die Treppe hoch. Das musste bestimmt ein Missverständnis sein! Ja, François und Augustin hatten etwas falsch verstanden, redete sie sich auf dem Weg im langen Gang ein. Girodel würde so etwas niemals tun! Er war ihr Untergebener und er wusste genau, dass sie nur André heiraten würde! Oscar erreichte die Tür und platzte ins Kontor ihres Vaters rein. „Ist das wahr, Graf de Girodel?! Habt Ihr meinen Vater um meine Hand gebeten?"
Victor war von ihrem plötzlichen Erscheinen überrascht und obwohl er die eisige Kälte in ihren Augen las, bewahrte er Ruhe und sagte ehrlich: „Ja, Lady Oscar, das ist wahr."
Oscar ignorierte ihren Vater, steuerte aufgebracht auf Girodel zu und verpasste ihm eine schallende Ohrfeige. „Wir konntet Ihr?!"
Ich liebe Euch, lag es Victor auf der Zunge, aber er konnte es nicht aussprechen. Wut und Verachtung standen im erzürnten Gesicht von Oscar geschrieben und das schnitt ihm das Herz in tausenden Stücke.
„Antwortet!" Oscar holte erneut mit ihrer Hand aus, aber ihr nächster Schlag wurde abgefangen.
General de Jarjayes packte ihren Arm mit eisernem Griff und schob sie gewaltig von Graf de Girodel weg. „Reiß dich zusammen, Oscar! Das war meine Entscheidung und du wirst Graf de Girodel heiraten, ob du willst oder nicht!" Es sei denn, du erzählt mir endlich die Wahrheit über dich und André. Den letzten Satz sprach Reynier natürlich nicht aus und ließ den Arm seiner Tochter los.
„Lieber würde ich sterben!", fauchte Oscar, drehte sich um wollte das Kontor ihres Vaters verlassen, als Sophie sich an der Tür zeigte. „Lady Oscar, General de Jarjayes, Graf de Girodel, verzeiht die Störung...", entschuldigte sich die alte Haushälterin mit leicht zitternder Stimme.
„Was ist, Sophie?", fragten Reynier und Oscar fast im Chor und Sophie erzählte ihnen ihre Sorge: „François und Augustin verließen gerade das Anwesen und sagten nicht wohin. Das ist nicht ihre Art und ich mache mir Sorgen, nicht das etwas passiert. Draußen ist es schon fast dunkel."
„Mir sagten sie, sie wollten nach Versailles.", erinnerte sich Oscar und versuchte dabei ihren Zorn auf Graf de Girodel und ihren Vater vorerst zu dämpfen.
„Sind sie denn verrückt geworden?", empörte sich Victor im nächsten Augenblick und vergaß sogar kurz die Ohrfeige von Oscar. „Die Soldaten des königlichen Garderegiments haben ausdrückliche Anweisungen: nach Einbruch der Dunkelheit und ohne Genehmigung niemanden mehr durch die Tore passieren lassen! Wer aber trotzdem versucht einzudringen, auf denjenigen wird notfalls geschossen!"
„Wenn ihnen etwas geschieht, werde ich Euch dafür verantwortlich machen, Girodel!" Oscar packte noch größere Wut auf ihren Untergebenen und sie rannte unverzüglich hinaus.
General de Jarjayes hielt sie nicht auf. „Ihr nach!", befahl er dem Grafen und Victor folgte dann mit ihm zusammen Oscar. Hoffentlich würde den Zwillingen nichts geschehen...
Draußen verschwand die Sonne gänzlich hinter dem Horizont und die anbrechende Nacht breitete sich aus. Oscar, Victor und Reynier trieben ihre Pferde und kurz vor den Toren von Versailles hörten sie einen Gewehrschuss. „François!", schrie die Stimme von Augustin panisch und die drei Reiter stießen heftiger in die Seiten der Tiere. Schemenhaft sahen sie zwei Reiter auf den Pferden und zwei Soldaten am Tor. Ein Reiter krümmte sich im Sattel und neigte zur Seite. Der zweite Reiter fing ihn mit schreckensbleicher Miene von der Seite auf und gab ihm Stütze. „Nein, François, nein!"
Ein Soldat hielt noch immer das Gewehr auf einen der Reiter gerichtet und bellte aus voller Kehle: „Jetzt verschwindet von hier!"
In diesem Moment kamen drei Reiter an und zügelten bei den Zwillingen ihre Pferde. „Feuer einstellen!", befahl Graf de Girodel und sah bangen Herzens zu den Zwillingen. Augustin stützte gerade seinen Bruder im Sattel. François hielt sich mit einem schmerzlichen Stöhnen die blutende Wunde an der linken Brusthälfte. Es war nicht zu erkennen, ob er an der Schulter oder an der Brust getroffen war. Das Blut verteilte sich bereits über die gesamte Körperhälfte auf der linken Seite.
„Nein, bitte nicht!", hörte Victor Oscars Ausruf und sah, wie sie von ihrem Pferd hinter François auf den Sattel überstieg.
„Er wurde in der Brust getroffen...", flüsterte Augustin aus Angst und Sorge um seinen Bruder. Ihm schmerzte es selbst im Bereich der Schulter sehr und er hoffte, dass François nicht ins Herz getroffen wurde.
General de Jarjayes wendete schon sein Pferd. „Ich hole Doktor Lassone und ihr bringt ihn auf das Anwesen.", befahl er seiner Tochter und seinem Enkel und galoppierte davon. Hoffentlich war François nicht lebensbedrohlich getroffen und würde leben!
François erfasste bereits die schwärzliche Ohnmacht und er spürte nur, wie er in den Armen seiner Mutter bewusstlos wurde. „Halte durch, wir bringen dich gleich nach Hause." Oscar hielt ihren Sohn mit einem Arm an sich, mit dem anderen dirigierte sie das Pferd und ritt geschwind zu dem elterlichen Anwesen zurück. Hoffentlich würde ihr Vater mit dem Arzt noch rechtzeitig zurückkommen! Darauf hoffte auch Augustin sehr. Mechanisch griff er nach den Zügeln des Pferdes seiner Mutter und ritt ihr schnell nach. Neben der Angst und Sorge um seinen Bruder, zerrissen ihn auch noch gewisse Schuldgefühle. Es war ein Fehler, François nach Versailles mitzunehmen und jetzt bezahlte er dafür...
„Betet, dass der Junge überlebt! Denn ihr habt gerade mein Patenkind angeschossen!", bellte Girodel seine Soldaten am Tor an und ritt Oscar, François und Augustin nach.
Oscar hörte den Galopp der anderen Pferde hinter sich, aber beachtete ihn nicht. Sie ahnte, wer das sein könnte und vergaß es schnell im Augenblick ihrer zerrissenen Gefühlen und der Hilflosigkeit. Zuerst ihr verschollener Geliebter und jetzt auch noch ihr kleiner Sonnenschein! Warum passierte ihr das nur? Tränen des Schmerzes und der Wut traten ihr in die Augen und schnürten ihr die Kehle zu. Wie sollte es nur weiter gehen? Warum musste Augustin ihren François in diese Gefahr bringen? Törichter Junge! Das war fast genauso wie damals, als er mit François den schwarzen Ritter gespielt hatte! Es schien, als würde Augustin ihrem Sohn nur Unglück bringen. Vielleicht hatte Graf von Fersen Recht und Augustin war in Wirklichkeit gar kein guter Junge? Wäre das möglich, dass Augustin ihnen allen etwas vorspielte und ein braves Kind mimte, um auf diese Weise dem Haus der de Jarjayes zu schaden? Aber aus welchem Grund? André war doch nicht vom Adel und dass François ihr Sohn war, wusste ja niemand! Oder hatte François seinem einzigen Freund und Spielgefährten Augustin doch noch die Wahrheit anvertraut? Die Gefühle und Gedanken von Oscar überschlugen sich, während sie ihr Pferd immer schneller antrieb und sich den ohnmächtigen François an die Brust drückte.
