Kapitel 55 – Besuch
„Was soll das heißen, sie hat auf unbestimmte Zeit Urlaub genommen?", empörte sich General de Jarjayes, als Graf de Girodel ihm die nicht gerade erfreuliche Nachricht in sein Kontor in Versailles brachte. Sein Gesicht bedeckte sich langsam mit roter Farbe des Zorns und sein messerscharfer Blick erinnerte an einen Sturm, der gleich aufkommen würde. Aber nein, Reynier wusste sich zu beherrschen und seinen Missmut nicht an den Boten der schlechten Kunde auszulassen.
Graf de Girodel hatte mit der schlechten Laune des Generals gerechnet und versuchte sie zu ignorieren. Zugegeben, er hätte die Nachricht von Lady Oscar, die sie ihm gerade durch einen Boten zustellen ließ, nicht weiter sagen brauchen, aber ein Urlaub auf unbestimmte Zeit musste schon gemeldet werden. „Der Bote meinte, André wurde vom schwarzen Ritter am Auge verletzt, als Eure Tochter ihn verhaften wollte und Euer Familienarzt sagt, dass André sein Auge schonen muss, bis es verheilt ist."
Reynier konnte seine Rage kaum noch zügeln. Das gab es doch nicht! Seine Tochter hatte schon genug Schande über seine Familie gebracht, indem sie eine beispiellose Affäre mit einem Diener betrieb und auch noch drei Kinder von ihm hatte! Was ging nur in diesem Kind vor?! Waren ihr ihre Pflichten gegenüber dem Königshaus nicht von Bedeutung? Wie unerhört! „Oscar soll lieber den schwarzen Ritter jagen und nicht die Zeit mit André vergeuden!" Das hatte ihm gerade noch gefehlt! „Reitet sofort auf mein Anwesen und bringt in Erfahrung, was dort genau passiert ist. Augustin wird Euch bestimmt alles erzählen. Und vergewissert Euch, dass sie kein nächstes Kind erwartet!"
„Jawohl, General." Girodel knirschte mit den Zähnen und es widerstrebte ihn auf das Anwesen der de Jarjayes zu reiten. Sein Herz würde sich beim Anblick von Lady Oscar noch mehr quälen und das alles, weil er aus Liebe zu ihr(,) die Wahrheit über Augustin verbergen musste. Aber das war ein Befehl des Generals und wohl oder übel musste er ihn befolgen.
Doktor Lasonne verabschiedete sich von seinem Patienten, dem es wesentlich besser ging als gestern und vorgestern. André konnte heute sogar sein Bett verlassen und obwohl er wegen dem Verband etwas Schwierigkeiten bei der Orientierung hatte, machte er gute Fortschritte. Zum Glück hatte der schwarze Ritter ihm nur den Wangenknochen und die Augenbraue aufgeschlitzt, aber das Auge selbst nicht getroffen - das hatte der Doktor bei der heutigen Untersuchung festgestellt. André sah auf dem linken Auge durch die Schmerzen der Wunde zwar noch etwas verschwommen, aber er war nicht blind geworden und solange er den ärztlichen Rat brav befolgte, konnte es nur noch besser werden. André würde nur eine schmale Narbe auf seiner Wange als eine Erinnerung an diesen Unfall beibehalten, aber Hauptsache ihm selbst ging es besser und er konnte damit leben. „Wenn Ihr weiter meine Anordnungen befolgt, dann kann Euer Wunde schneller heilen und Ihr werdet keinen Verband mehr tragen brauchen.", beendete Doktor Lasonne. Er hatte André die Wunde gereinigt, den Verband gewechselt und dabei zufrieden festgestellt, dass es keine Vereiterung oder andere Merkmale der Verschlechterung gab.
„Ich danke Euch, Herr Doktor." André atmete erleichtert auf. Der Verband drückte zwar etwas auf das Auge und die Wunde brannte durch die aufgetragene Salbe, aber Hauptsache, er wurde nicht blind. André stand vom Behandlungsstuhl auf und geleitete den Arzt zur Tür. Der Arzt verabschiedete sich von seinem Patienten und von Lady Oscar und war dann fort. André schloss die Tür und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Am Fenster stand Oscar mit verschränkten Armen vor der Brust und sah ihn mit ihren schönen Augen an. Sie war bis spät in die Nacht bei ihm gewesen und war sogar auf seiner Bettkante eingeschlafen. Jetzt bewegte sie ihre Füße und blieb direkt vor ihm stehen. Vorsichtig strich sie über den rauen Stoff des Verbandes und lehnte sich dann an ihren Geliebten. „Ich schwöre dir, sobald du gesund bist, werde ich den schwarzen Ritter jagen und wenn ich ihn gefangen habe, dann wird er für alles bezahlen."
Das schmeichelte André und er legte seine Arme um den schmalen Körper seiner Geliebten. Er wollte nicht, dass sie jeden Tag nur an Rache dachte und sich keine Ruhe gönnte. „Wie wäre es, wenn du dich ausruhst? Du hast fast die ganze Nacht nicht geschlafen.", sagte er in ihr Haar und hauchte einen Kuss darauf.
Oscar musste ihm Recht geben, sie musste sich ausruhen. Aber wie konnte sie an Schlaf denken, wenn ihr André sie brauchte? Sie hatte ihm doch versprochen, bis zu seiner Genesung bei ihm zu bleiben! „Das ist richtig, aber ich will nur noch bei dir sein."
André wollte das auch, aber ebenso wollte er, dass seine Oscar sich ausruhte. Sie sah schon sehr müde aus und als Bestätigung gähnte sie in sein Hemd. „Dann komme ich zu dir mit und wache über deinen Schlaf.", fand er eine Alternative.
Oscar schob sich von ihm und schaute zu ihm auf. „Jetzt gleich?"
„Warum auch nicht?" André lächelte sie an. „Ich bin doch nicht ans Bett angekettet."
„Also gut, gehen wir." Oscar schmunzelte und schenkte ihm einen Kuss, bevor sie beide das Zimmer gemeinsam verließen.
In ihrem Schlafzimmer legte sich Oscar angezogen in ihr Bett, drehte sich auf die Seite und beobachtete mit einem kleinen Lächeln auf ihren Lippen, was ihr Geliebter machte. André deckte Oscar mit der Decke zu, nahm sich einen Stuhl und setzte sich an das Kopfende. Wie fürsorglich er doch war! Oscar fasste sogleich seine Hand und schloss die Augen. Es dauerte nicht lange, bis sie einschlief. Vorsichtig entfernte André seine Hand aus der ihren, schenkte ihr einen Kuss auf die Wange und verließ ihr Schlafzimmer. Seine Großmutter kam in den Salon und André kam ihr entgegen. „Oscar schläft.", flüsterte er.
„Oh." Sophie warf einen Blick ins Schlafzimmer und ging wieder zurück zur Tür. „Dann sollten wir sie schlafen lassen. Sie kommt in letzter Zeit kaum noch zu Ruhe."
„Das stimmt." André folgte ihr aus den Gemächern von Oscar. „Deswegen werde ich darauf achten, dass sie ausreichend Ruhe bekommt."
„Im Prinzip ist es auch deine Aufgabe, André." Sophie verlangsamte ihren Schritt und schaute ihren Enkel von der Seite an. Das war jetzt die beste Gelegenheit, mit ihm ein paar ernste Worte zu wechseln. „Aber ich weiß, dass du es aus einem anderen Grund machst."
Ihre Aussage verwunderte André etwas und machte ihn gleichzeitig neugierig. „Aus welchem Grund?"
Sie erreichten das Ende vom langen Gang und Sophie blieb an der Treppe stehen. „Denkst du, ich weiß nicht, dass du mehr für Lady Oscar empfindest als Freundschaft? Wie oft habe ich schon deine Blicke zu ihr gesehen? Blicke voller Zuneigung und Liebe..."
Wie hatte seine Großmutter das nur bemerkt, fragte sich André. Er war doch stets vorsichtig und hatte Oscar nur dann schöne Augen gemacht, sie geküsst und mit ihr Stunden der Liebe genossen, wenn er mit ihr alleine war! Oder hatte seine Großmutter ihn und Oscar unterschwellig beobachtet? Nein, das konnte nicht sein, weil sie dann anders reagiert hätte. Sie wäre äußerst wütend geworden und hätte ihn schon längst mit ihrem Nudelholz geschlagen. Er musste unbedingt eine Ausrede finden, um seine Großmutter milde zu stimmen und sie von ihren Gedanken abzulenken. „Ich weiß nicht, wovon Ihr redet, Großmutter( )...", log er in seiner Not.
„Doch, das weißt du! Du willst es nur nicht zugeben!" Sophie war empört und ließ ihn nicht ausreden. Wie wagte er ihr noch zu widersprechen?! Sie sah ihm seine Gefühle im Gesicht an! „Ich kann dir nur einen Rat geben, hör auf damit! Das ist für dich und für sie besser!" Sophie ging die Treppe herunter und André folgt ihr bis in die Küche, aber betrat sie nicht. Er schmunzelte, als er Marguerite dort am Tisch sah. Seine Tochter rührte mit einer Schöpfkelle in einem Topf und ein Küchenmädchen gab Gewürze rein. Dabei erklärte sie dem Kind, wie viel und was noch alles an Zutaten in den Topf kam. Marguerite stellte Fragen und lächelte dabei.
Sophie lobte Marguerite beim Betreten der Küche stolz und die blauen Augen des Mädchens leuchteten entzückt. Seine Tochter erfüllte André zwar auch mit Stolz, aber die Worte von seiner Großmutter saßen so tief in ihm, dass er an nichts anderes mehr denken konnte. Deswegen nahm er den Weg in den Garten und beobachtete lieber am Brunnen, wie sein Sohn François und dessen Freund sich im Fechten übten. Oscar hatte ihm gestern die Unterhaltung zwischen ihr und Augustin erzählt und dass sie ihm den Ausritt auf ihrem weißen Pferd vergeben hatte. André war froh über diesen Ausgang, denn er hätte das Gleiche getan. Danach gab sie noch zu, dass sie vor hatte, den Jungen irgendwann zu adoptieren und auch da war André erfreut. Er mochte Augustin genauso sehr wie seinen Sohn François. Nach dem Gespräch mit Oscar war der Junge wieder er selbst und benahm sich, als wäre nichts passiert. Also waren wenigstens die Kinder wieder glücklich und das hatte André und Oscar gleichermaßen beruhigt.
Raschelnde Schritte hinter seinem Rücken rissen ihn aus den Gedanken und er drehte sich um. Ein nobler Offizier blieb auf einer Armlänge vor ihm stehen und obwohl seine Mundwinkel sich leicht nach oben zogen, zeigte der ernste Blick keine Freude. Auch André war nicht gerade erfreut über diesen Besuch, aber er begrüßte ihn trotzdem. „Seid gegrüßt, Graf de Girodel. Wenn Ihr zu Oscar wollt, dann ist es ein wenig unpassend, weil sie schläft."
„Ich weiß." Victor grüßte André mit einem Nicken und musterte den großen Verband auf seiner linken Gesichtshälfte. Hatte er Schmerzen? Wie ging er damit um, dass er ein Auge verloren hatte? Und warum blieb Lady Oscar noch immer mit ihm zusammen? Liebte sie ihn etwa noch immer oder tat sie das wegen den Kindern? „Deine Großmutter hat mich schon darüber informiert und deshalb komme ich hierher, um meine Patenkinder zu sehen.", beendete Victor. Dass ihn General de Jarjayes beauftragt hatte, verschwieg er, weil es André nichts anging. Er entriss seinen Blick von ihm und schaute lieber François und Augustin beim Fechten zu. Die beiden Knaben waren anscheinend so sehr in ihrer Kampfübung vertieft, dass sie seine Anwesenheit nicht bemerkten. Victor seufzte. „Je größer François und Augustin werden, desto mehr sehen sie wie Zwillingsbrüder aus. Findest du nicht?"
„Das ist nicht nur mir, sondern allen seit Jahren aufgefallen." André fragte sich insgeheim, was Graf de Girodel mit seiner Frage bezwecken wollte. Innerlich jedoch tauchte Unruhe in ihm auf. Die Besuche des Grafen behagten André schon immer nicht und hinterließ ein mulmiges Gefühl in ihm. André zeigte das nur nicht und fügte nur knapp hinzu: „Augustin gehört jetzt zu uns und wir sind für ihn eine Familie." Dann drehte er sich um – er wollte nicht mehr länger bei dem Graf bleiben. „Ihr entschuldigt mich, ich schaue, ob Oscar wach ist."
„Du brauchst Lady Oscar nicht wecken, weil ich dann gleich wieder gehen werde.", sagte Girodel ganz beiläufig und nahm nicht mehr wahr, wie André sich verabschiedete und ins Haus ging. In seinem Kopf geisterte eine Frage herum und machte ihn stutzig: Hatte Augustin seinen Eltern etwa die Wahrheit über seine Herkunft gesagt? Aber gleich darauf versuchte er sich mit der Antwort zu beruhigen, dass Augustin es nicht getan hatte. Er musste unbedingt mit dem Jungen unter vier Augen reden! Victor ging auf die beiden Knaben zu und die zwei bemerkten ihn endlich. Sofort brachen sie die Fechtübung ab und kamen ihm schnell entgegen.
„Onkel Victor!", begrüßte François seinen Patenonkel freudestrahlend. „Schön Euch wieder zu sehen! Ihr habt uns schon lange nicht mehr besucht."
Augustin dagegen bekam ein mulmiges Gefühl und schaute ernst drein. „Ich freue mich auch, Euch zu sehen."
„Die Freude ist ganz meinerseits und ich entschuldige mich für meine lange Abwesenheit. Die Pflichten in Versailles und als Stellvertretender von Lady Oscar haben mich von einem Besuch bei euch abgehalten.", erklärte Victor und schenkte den beiden Brüder ein Lächeln.
„Ich verstehe." François fand es zwar schade, aber erwiderte das Lächeln und freute sich über diesen einen Besuch. „Wollt Ihr mit Augustin und mir etwas fechten?"
„Nein, ich muss dann wieder nach Versailles zurück. Ich bin hier nur um zu sehen, wie es euch geht." Victor tat es etwas leid, François abzulehnen, aber seine Zeit war knapp bemessen und General de Jarjaes wartete bestimmt schon ungeduldig auf seinen Bericht. Er schaute Augustin an. „Aber bevor ich gehe, muss ich noch mit dir reden. Es geht um General de Jarjayes."
Augustin nickte zustimmend. Er verstand, dass Graf Girodel womöglich für General de Jarjayes etwas wissen wollte. „Wir können im Garten einen Spaziergang machen."
„Das ist eine gute Idee.", sagte Victor und schaute zu François. „Entschuldige uns für einen kurzen Moment."
„In Ordnung." François verabschiedete sich von Girodel und schaute den beiden verwundert nach. Warum wollten sie ohne ihn gehen? Was gab es Wichtiges zwischen Augustin und seinem Patenonkel zu besprechen, dass er nicht dabei sein durfte? Vielleicht sollte er ihnen folgen, um seine Neugier zu besänftigen?
