Kapitel 60 – Für Anna
In die Vergangenheit zurückzukehren und sich dabei die alten Wunden aufzureißen war nicht einfach. Aber Jean hatte das Recht zu erfahren, was in dem Dorf mit den Menschen passiert war, nachdem ihn General de Jarjayes und Graf de Girodel geholt hatten. Und vielleicht würden sich dadurch das plagende Herz, das schlechte Gewissen und die quälende Seele beruhigen. Melisende wartete, bis alle am Tisch ihre Plätze eingenommen hatten und begann mit der Erzählung:
Das war ein sehr heißer Tag im Sommer 1781, als ein nobler Offizier und ein wohlhabender General in das Dorf kamen und den sechsjährigen Jungen einfach so mitnahmen. Anna hatte noch viele Tage danach viele Tränen vergossen und nach ihrem Freund gesucht. Seitdem hoffte und wartete sie auf seine Rückkehr. Alain, ihr Vater, konnte nicht ewig in dem Dorf bleiben und seine Tochter beruhigen. Er musste zurück nach Paris, denn er war ein Soldat, hatte Verpflichtungen und seine dienstfreien Tage neigten sich dem Ende zu. Zumal er sich auch um seine Mutter und seine Schwester, die gerade mal ein Jahr älter als Anna war, kümmerte. An jenem Tag, als Jean abgeholt wurde, half er den Dorfbewohnern auf den Feldern und als er von seiner Arbeit zurück in das Wirtshaus kam, fand er eine weinende Anna und eine verstörte Frau des Wirtes vor. Es hatte eine Weile gedauert, bis sie erklären konnten, was passiert war. Armand und Georges, die Söhne des Wirtes und seiner Frau, konnten nur das erzählen, was im Stall vorgefallen war. Hamo, der Wirt, konnte nichts dagegen unternehmen, denn Jean war nicht sein Kind und gehörte nicht hierher. Jedoch ging ab diesem Tag alles bergab in seiner Familie und er verfluchte den Jungen, dessen Eltern und die, die ihn abgeholt hatten. Adaliz, seine Frau, bekam Alpträume und sah die Einbildung von Girodel um jede Ecke des Hauses, auf den Feldern und sogar in ihren Träumen. Am Ende litt sie unter Verfolgungswahn, wurde verrückt und verstarb an ihren Ängsten vor dem noblen Offizier, der sie einst bedroht hatte. Seitdem schworen sich ihre Söhne ihre Mutter zu rächen, indem sie diesen Graf de Girodel, Jean und seine Eltern töten würden. Einmal, als Hamo mit seinen Söhnen geschäftlich nach Paris fuhr, trafen seine Söhne auf Jean und dessen Zwillingsbruder. Sie waren so nahe an ihrem Ziel und hätten ihre Rachegelüste befriedigen können und die zwei getötet, wenn nicht deren Vater dazwischen gekommen wäre. Sie kannten den Namen des Mannes nicht, aber das war äußerst demütigend und sie schworen sich zum wiederholten Mal, die gesamte Familie von Jean auszulöschen. Ein Jahr später starb der Wirt bei einem Arbeitsunfall und Armand übernahm das Wirtshaus. Georges ging nach Paris und wurde mit Hilfe von Alain als Soldat in der Kaserne angestellt. Dann lernte er die Schwester von Alain kennen und wollte sie verführen. Alain hatte ihn durchschaut und verletzte ihn mit einem Dolch an der Wange. Das sollte als eine Mahnung dienen und Georges trug seitdem eine Narbe im Gesicht wie ein Mahnmal.
Letztes Jahr war die Ernte sehr mager ausgefallen, sodass es nicht einmal für die Steuerabgabe ausgereicht hatte. Wenn nicht der schwarze Ritter gewesen wäre, dann wären sie bestimmt alle verhungert. Der schwarze Ritter hatte ihnen ein Teil seines Diebesgutes hinterlassen und die Dorfbewohner konnten wenigstens Saatgut, Mehl und Kartoffeln davon kaufen. Vor zwei Wochen wollte die Mutter von Anne die Felder bestellen und geriet unter den Pflug. Die Verletzungen waren zu tief und sie überlebte nicht einmal einen Tag.
An dieser Stelle beendete Melisende ihre Erzählung, bekreuzigte sich für die arme Seele und hielt eine kurze Schweigeminute. Augustin und François schluckten derweilen einen bitteren Kloß herunter und außer: „Es tut uns sehr leid...", konnten sie nichts mehr sagen, denn sie kannten die Ausmaße der Armut und Hungersnot nicht. Sogar Augustin, der eigentlich als Kind solch ein Elend miterlebt hatte, hatte keine Ahnung, wie schlimm es nach seinem Fortgang es hier geworden war.
„Wenn der schwarze Ritter wieder kommen würde, dann würde es bestimmt etwas besser sein.", sagte Anna, als hätte sie seine Gedanken gelesen.
Alain schüttelte den Kopf. „Er wird nicht mehr kommen. Ich hörte heute nämlich in der Kaserne, dass er von dem Kommandanten des königlichen Garderegiments gefangen genommen wurde." Er sah dabei die zwei Knaben eindringlich an. „Stimmt das?"
Anna sah auch zu ihnen. „Ist es wahr? Bitte, Jean, sag es uns! Der schwarze Ritter ist unsere letzte Hoffnung! Wenn ihm etwas zustößt, werden die Menschen wieder leiden und an Hunger und Krankheit sterben! Bitte, sag uns, dass es ihm gut geht!"
Augustin schluckte hart. Plötzlich schämte er sich, dass er dem schwarzen Ritter ein Auge ausstechen wollte. Aber er hatte doch nicht gewusst, was dieser Mann für die armen Menschen bedeutete. Jetzt hatte er es erfahren und verstand seinen Vater, als dieser seine Mutter überredet hatte, ihn freizulassen.
„Er ist wieder frei.", sagte François an seiner Stelle. Er spürte, dass es seinem Bruder unwohl war, drüber zu sprechen und ahnte weshalb. Wie gut, dass Augustin dem schwarzen Ritter kein Auge ausgestochen hatte, sonst hätte er auch noch Schuldgefühle bekommen und das wünschte François seinem Bruder nicht.
Anna erstrahlte mit dem neuem Hoffnungsschimmer. „Ist es wahr?"
„Ja.", bestätigte Augustin und zerstörte ihr die Hoffnung mit den nächsten Worten: „Aber er wird niemals mehr stehlen." Das tat ihm selbst leid, aber er musste es ihr einfach sagen, denn lügen wollte er nicht mehr. Zumindest nicht hier, wo die Wahrheit sowieso jeder kannte.
„Das heißt, er wird nie mehr uns helfen?" Der freudige Funke der Hoffnung in Annas Augen erstarb und wechselte in Bestürzung.
„Ich weiß es nicht..." Augustin wusste wirklich keine Antwort darauf. Er konnte nicht länger in die Augen seiner Freundin sehen und senkte seinen Blick.
Alain merkte das und wurde skeptisch. „Ist der schwarze Ritter weggelaufen, oder wurde er freigelassen?"
„Unsere Mutter hatte ihn freigelassen und ihn heute höchstpersönlich nach Paris begleitet.", meinte François und schaute seinen Bruder von der Seite an. Er kam sich wie in einem Gericht vor, wo der Angeklagte Augustin war. Hoffentlich würden sie bald gehen können und sein Bruder würde sich dann besser fühlen.
Augustin spürte die Sorge von François und hob wieder seinen Blick. Nein, er würde sich nicht wie ein Angeklagter im Gerichtssaal behandeln lassen! Soweit er sich erinnern konnte, zählte Alain zu einem guten Menschen und hatte ihn immer vor Armand und Georges beschützt. Warum sollte er dann vor ihm etwas verheimlichen? „Dann haben wir dich mit einer Frau gesehen und weil du mir sehr bekannt vorkamst, haben wir dich bis hierher verfolgt.", fügte Augustin seine Erklärung hinzu.
Also hatten sie ihn auch mit Constance gesehen, vermutete Alain und wollte etwas sagen, als die Tür aufging und Armand unverhofft an der Türschwelle stand. „Melisende, ich habe zwei Pferde draußen gesehen und wollte wissen, wer die Gäste sind." Armand musste jetzt Anfang zwanzig Jahre alt sein, schätzte Augustin und stand auf. François machte es ihm gleich, denn auch er ahnte, wer der junge Mann war. Er erinnerte sich noch deutlich an den Vorfall in Paris und ihm sträubten sich die Nackenhaare. Auch Armand erkannte die Zwei, sein Gesicht verfinsterte sich und sein mörderischer Blick erdolchte Augustin. „Du?"
„Es wird besser, wenn ihr jetzt geht.", empfahl Alain den beiden Zwillingsbrüdern. Als erfahrener Soldat witterte er, dass hier ein Kampf stattfinden würde und das wollte er vermeiden.
„Eine gute Idee.", meinte François und Augustin nickte ihm einvernehmlich zu. Auch wenn es Augustin in den Fingern kribbelte, Armand den Vorfall in Paris heimzuzahlen, beherrschte er sich und setzte langsam seine Füße in Bewegung.
Anna sprang schnell hoch und holte die Brüder ein. „Kommst du wieder, Jean?" Sie konnte es nicht ertragen, dass er wie damals ohne Abschied ging und die alten Erinnerungen an die seelische Qual ohne ihn rissen die unsichtbaren Wunden in ihr auf.
„Ja.", versprach Augustin, ohne sie anzusehen und ging mit François achtsam zu Tür. Nach allem, was er gehört hatte, würde er Anna nicht mehr bei diesem Mistkerl lassen! Er würde ihr helfen. Er wusste zwar noch nicht wie, aber es würde ihm sicherlich etwas einfallen.
Armand versperrte ihnen jedoch den Weg, griff Augustin am Kragen und zog ihn zu sich. „So einfach kommst du mir nicht davon, Freundchen!"
„Lass sie gehen, sonst bekommst du es mit mir zu tun!", knurrte Alain von seinem Platz am Tisch aus bedrohlich. „Vergiss nicht, was ich zu dir gesagt habe, als du meine Kleine belästigt hast!"
„In Ordnung, Alain." Armand wollte nicht so enden wie sein Bruder und verabschiedete Augustin mit einer Drohung: „Diesmal lass ich dich gehen, aber du sollst noch wissen: Ich werde deine Familie töten und du wirst zusehen, wie jeder Einzelne von ihnen stirbt. Zuerst diesen Grafen, dann deinen Bruder, deine Eltern und anschließend dich! Jetzt verschwinde!" Er warf Augustin nach draußen, dann stieß er auch François hinter ihm her und machte die Tür zu.
„Nicht bevor ich dich getötet habe!", knurrte Augustin in Richtung der geschlossenen Tür. Er und François stiegen frustriert auf ihre Pferde und verließen im schnellen Galopp das Dorf. Auf das Anwesen der de Jarjayes kamen sie bei Einbruch der Dunkelheit an. Es war gerade Abendbrotzeit und alle saßen schon am Tisch in Oscars Salon. Bei dem Anblick auf die üppigen Speisen, wie mit Äpfeln gebackenes Hähnchen, mit Hackfleisch gefüllte Teigtaschen, Pasteten und gedünstetes Gemüse als Beilage, wurde Augustin schlecht. Als Kind musste er sich von Insekten und Abfall ernähren, um zu überleben und Anna tat es bestimmt noch immer...
„Wo ward ihr?", wollte Oscar wissen und stellte ihr Glas mit Wein auf dem Tisch ab.
„Wir haben uns schon Sorgen gemacht.", fügte André hinzu und deutete den beiden mit seinem Kinn an, sich auf zwei freie Plätze neben Margueritte hinzusetzen.
François und Augustin schleppten sich widerwillig zum Tisch, setzten sich hin, aber aßen nichts. Augustin, weil ihm dieses Elend im Dorf und wie es Anna erging noch immer vor den Augen stand. Und François, weil er sich genauso wie sein Bruder fühlte. „Wir haben keinen Appetit.", entschuldigte er sich und senkte seinen Blick auf die Tischkante. Auch er konnte die Speisen nicht ansehen und ihm drehte sich der Magen um.
André bekam das Gefühl, dass den beiden etwas widerfahren war, worüber sie nicht reden wollten. Aber er würde später seinen Sohn und dessen Freund darüber ausfragen. Jetzt sollten sie etwas essen. André zauberte deswegen ein Lächeln und versuchte sie scherzhaft aufzumuntern. „Wenn ihr nichts esst, dann wird meine Großmutter böse sein."
„Das stimmt.", bekräftigte Oscar die Aussage von ihrem André. Auch sie hatte die betrübten Gesichter der beiden Knaben bemerkt und wollte wissen, was passiert war. Aber nicht jetzt. Zuerst sollten sie essen. Sie waren fast den ganzen Tag ausgeritten und mussten ganz bestimmt verhungert sein! „Ihr wollt doch nicht die Kochkunst von Sophie beleidigen, oder? Sie hat sich doch so viel Mühe gemacht und Marguerite hat ihr dabei geholfen..."
„Das ist mir egal!" Augustin ließ sie nicht weiter reden. Er wusste, dass sein Verhalten falsch war, aber er war wütend und das hitzige Temperament, das er von seiner Mutter geerbt hatte, brodelte in ihm wie in einem heißen Kessel. „Ich will nichts außer trockenes Brot und Wasser!", schleuderte er aufgebracht seinen Eltern ins Gesicht, stand auf und rannte auf sein Zimmer.
Oscar und André waren baff. So viel Zorn hatten sie bei Augustin noch nicht gesehen. Nicht einmal damals in Paris, als er und François in einer Gasse von zwei Knaben verprügelt wurden. Oscar kam als erste aus ihrer Starre zu sich. „Was ist geschehen?", verlangte sie streng von ihrem Sohn eine Erklärung. Dass sie sich dabei genauso aufgewühlt fühlte, wie Augustin zuvor, ignorierte sie. Im Gegensatz zu ihm, konnte sie ihre Gefühle gut verbergen.
François überlegte kurz und erfand eine Ausrede, die seinen Bruder nicht verriet und die auch der Wahrheit entsprach. „Wir sind heute an einem Dorf vorbeigeritten und haben dort sehr arme Menschen gesehen. Sie hatten nichts zu essen, weil die Ernte im letzten Herbst sehr schlecht ausgefallen war und ein Mädchen in unserem Alter hatte nicht einmal etwas zum Anziehen. Sie hatte einen Kartoffelsack getragen, um ihre Blöße zu verstecken und das hat uns sehr mitgenommen, besonders Augustin. Der schwarze Ritter war deren letzte Hoffnung, aber er ist weg und wird ihnen nie mehr helfen können." François hob seinen Blick und schaute seine Mutter eindringlich an. „Warum haben wir alles und sie nichts? Das ist ungerecht!" Er konnte nicht mehr. Er spürte, dass Augustin ihn jetzt dringend brauchte und stand von seinem Platz auf. „Kann ich auch nur trockenes Brot und Wasser haben?"
Oscar und André tauschten einen entsetzten Blick miteinander aus. Der schwarze Ritter! Das einfache Volk verehrte diesen Dieb wie einen Heiligen und Oscar erinnerte sich an die Worte von André mit einem mulmigen Gefühl. „...ich finde, du solltest den schwarzen Ritter nicht dem Richter ausliefern... er ist doch auf der Seite des Volkes, nicht des Adels. Wir können nichts tun, um den Bauern zu helfen, aber er kann und wird für sie etwas unternehmen..." hatte ihr Geliebter gesagt und damit Recht behalten. Oscar schluckte einen dicken Kloß herunter, auch ihr verging der Appetit. „Wenn es euch dann besser geht, dann könnt ihr trockenes Brot und Wasser bekommen.", meinte sie zu ihrem Sohn und François verließ ihren Salon mit einem „Danke".
Marguerite wunderte sich über das Verhalten von Augustin und François. Etwas stimmte mit ihnen nicht und sie fühlte sich auf einmal fehl am Platz. „Darf ich ihnen Brot und Wasser bringen?", bat sie aus diesem Grund ihre Zieheltern.
„Ja, das kannst du machen und danach gehst du ins Bett.", meinte André und wartete, bis seine Tochter aufstand und zu ihnen kam, um sich das Küsschen abzuholen.
Marguerite erreichte sie und stellte sich zwischen ihnen. „Gute Nacht, Papa."
André beugte sich zu ihr vor und gab ihr einen Kuss auf die Wange. „Gute Nacht, Schatz." Mit den Worten stellte er ihr seine Wange bereit.
Marguerite hauchte einen Kuss auf die Wange ihres Adoptivvaters und drehte sich um. „Gute Nacht, Mama."
Dasselbe Ritual passierte auch bei ihrer Adoptivmutter. Oscar schenkte ihr einen Kuss mit den Worten: „Gute Nacht, Liebes.", auf die Wage und nachdem ihre Tochter ihr auch einen Kuss geschenkt hatte, wartete sie, bis sie den Salon verließ. Dann vergrub sie ihren Kopf in den Händen. „Ich weiß nicht, wie lange ich das alles noch aushalte..." Sie meinte nicht nur die Sache mit dem schwarzen Ritter und dem Verhalten von Augustin und François, sondern auch die Tatsache, dass Marguerite noch immer nicht wusste, wer ihre wirklichen Eltern waren.
André fühlte mit ihr mit und ihm schmerzte das Herz, seine Geliebte so leidend und geplagt zu sehen. Er legte tröstend einen Arm um ihre Schultern und zog sie sachte an sich. „Wir werden das schon schaffen... Gemeinsam werden wir alle Schwierigkeiten bestehen."
„Ich weiß..." Oscar lehnte sich dankbar an ihn, spürte die vertraute Wärme der Geborgenheit seines Körpers und fühlte sich etwas besser. „Ich bin dankbar, dass es uns gibt und dass wir zusammen sind. Ohne dich und deine Liebe wäre ich schon längst verloren. Ich liebe dich aus tiefstem Herzen, mein André, mein Mann und der Vater meiner Kinder..."
„Das kann ich nur zurückgeben." André küsste ihren Scheitel und atmete den frischen Duft ihres weichen Haares. „Ich liebe dich und unsere Kinder mehr als mein Leben. Ihr seid mein Leben und ich werde für euch alles tun."
Oscar hob den Kopf von seiner Brust und schaute ihm tief in die Augen. In seinen grünen Augen las sie wie immer diese aufrichtige und reine Liebe, die er ihr schon seit mehr als dreizehn Jahren bedingungslos schenkte. „Küss mich und bleibe heute Nacht bei mir...", flüsterte Oscar atemlos und André erfüllte ihr den Wunsch mit Hingabe und all seiner Liebe.
Marguerite brachte ein altes Brot und einen Krug mit Wasser auf einem Tablett in das Zimmer von François und Augustin. Die zwei waren aber nicht da. Bestimmt befanden sie sich im Stall, vermutete Marguerite, stellte das beladene Tablett auf dem Tisch ab und ging in ihr Zimmer. Das war nichts Neues, dass ihre Adoptivbrüder manchmal bis spät in der Nacht die Zeit im Stall verbrachten und sie machte sich deswegen keine Gedanken darüber. Wenn François und Augustin zurück sein würden, dann würden sie das Brot und Wasser schon bemerken und essen. Das beruhigte sie und deshalb machte sie sich keine Sorgen wegen den beiden.
Augustin füllte derweilen einen Sack mit Korn in der Vorratskammer, während François eine Kerze hielt und sich nervös umschaute. „Meinst du, ob das eine gute Idee ist? Vielleicht sollen wir lieber unsere Eltern fragen..." Er verstand zwar die Beweggründe seines Bruders, Anna zu helfen, aber er machte sich auch große Sorgen um ihn. Augustin hatte auf ihn in ihrem gemeinsamen Zimmer gewartet und dann ihn hierher geschleppt. Dabei erklärte er ihm sein Vorhaben. Augustin hatte vor, morgen wieder in das Dorf zu reiten und Anna etwas Korn, Saatgut und Brot mitzubringen. Aber nicht das beunruhigte François, sondern die Tatsache, dass sie stahlen.
„Es wird niemand etwas davon merken.", flüsterte Augustin selbstsicher und schnürte den kleinen Sack zu.
Vielleicht hatte sein Bruder recht, dachte François. Diese Vorratskammer war voll und es würde ganz sicher nicht auffalten, wenn etwas fehlte. Dieser Gedanke beruhigte François.
Am nächsten Tag standen die Brüder bei Sonnenaufgang auf, nahmen den gefühlten Sack mit Korn, stibitzen in der Küche ein Laib Brot und ritten unbemerkt von dem Anwesen der de Jarjayes. Für den Anfang hatte es gut funktioniert und Augustin plante schon auf dem Weg zu dem Dorf, was er beim nächsten Mal mitnehmen konnte.
Anna traute ihren Augen nicht, als die Zwillingsbrüder einen gefüllten Sack mit Korn vor ihren Füßen stellten und ihr einen Laib Brot reichten. Sie freute sich, die beiden zu sehen, aber... „Ich danke euch von Herzen, aber ich kann das nicht annehmen..."
Augustin war enttäuscht und wirkte auf einmal bestürzt. Warum lehnte Anna das ab? Sie brauchte das doch dringend, stand in seinem Gesicht geschrieben. François spürte, dass sein Bruder gekränkt war und fand eine Lösung. „Und wenn du das für die Dorfbewohner annimmst? Weißt du, Anna, Augustin hat sich gestern viele Gedanken darüber gemacht, wie er dir helfen kann und weil du immer nett zu ihm warst."
Anna bildete sich ein, gewisse Vorwürfe in der Stimme von François vernommen zu haben und schämte sich. Jean wollte sicherlich nur etwas Gutes tun und sie nahm die Geschenke aus diesem Grund doch an. Dabei zauberte sie ein Lächeln. „Das ist eine gute Idee, François. Das Korn können wir als Saatgut verwenden und das Brot teile ich mit Melisende und meinem Vater."
Augustin fühlte sich sogleich besser und erwiderte ihr das Lächeln, aber sagte nichts. François dagegen fiel auf, dass Anna alleine war. „Wo sind eigentlich dein Vater und Melisende?"
„Sie sind mit Armand und den anderen Dorfbewohnern auf dem Feld. Die Felder müssen ja bestellt werden. Und ich kümmere mich um das Wirtshaus – für den Fall, dass Reisende vorbeikommen und als Gast bleiben wollen.", erklärte Anna, kam näher zu den Zwillingsbrüdern und hauchte zuerst Augustin und dann François einen Kuss auf die Wange. „Ich danke euch von Herzen für eure Geschenke und dass ihr zurückgekommen seid." Ihr Blick ruhte dabei nur auf Augustin, ihre Wangen glühten und in ihrem Körper breitete sich eine Wärme aus, die sie bisher nie verspürt hatte. Vielleicht waren sie für einander bestimmt, kam ihr der Gedanke durch den Kopf und ihr Herz schlug schneller.
„Und wir werden wiederkommen." Augustin bekam auch rote Wangen und erinnerte sich an ähnliche Küsse von Anna aus ihrer Kindheit. Sie hatte schon immer einen Bruder in ihm gesehen und es hat sich nichts daran geändert. Es war ein angenehmes Gefühl zu wissen, dass seine Freundin noch immer so war wie sie früher war.
„Genau, wir kommen wieder und bringen noch mehrere Sachen mit.", bekräftigte François die Worte seines Bruders und beobachtete diesen herzerweichenden Blickwechsel zwischen Augustin und Anna gerührt. Das war ein angenehmes Gefühl und bescherte den Wunsch, dies noch einmal tun zu wollen...
