Kapitel 53 – Getroffen
Die erste Schneeschmelze begann etwa Mitte März und mit ihr kehrte auch der schwarze Ritter zurück. Ähnlich wie die Natur, die den ganzen Winter im Schlaf verbracht hatte und jetzt langsam aufwachte. Die Bäume zogen langsam ihr grünes Kleid an, die ersten Blumen sprossen aus der Erde, die Tage wurden länger und die Bauern begannen mit der harten Arbeit auf den Feldern. Die Erde musste bestellt werden und das Saatgut gesät. Von der Ernte jedoch würden sie kaum etwas abbekommen. Alles ging als Steuer an den Königshof und es blieb manchen von ihnen nicht einmal trockenes Brot und Kartoffelschalen zum Essen übrig.
Auch in der Stadt herrschte Hungersnot und Elend. Viele Bürger, vor allem die Obdachlosen, kranken und schwachen Menschen und Kinder, überlebten den eiskalten Winter aus diesem Grund nicht. Der (schwarzer) schwarze Ritter kam von daher für die armen Menschen wie ein erlösender Engel zurück – für die Adligen dagegen wie eine Heuschreckenplage.
Obwohl Oscar die Beweggründe des schwarzen Ritters verstand, war er aber in ihren Augen ein Dieb und ein Dieb musste bestraft werden. Sie kam sogar auf die Idee, einen Lockvogel zu spielen, um ihn besser fangen zu können. Wenn nämlich der schwarze Ritter erfuhr, dass es einen Konkurrenten gab, dann würde er sich schneller zeigen oder sie würde auf diese Weise ihm eher begegnen, als wenn sie ihm weiterhin nachjagte. Im Winter hatte Oscar für ihn und für sich ein schwarzes Kostüm nähen lassen und jetzt kam die Zeit, ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen. An einem Abend zog sie das Kostüm an, nahm den Verband vom Kopf ab und band sich die schwarze Maske vor dem großen Spiegel in ihrem Zimmer um.
„Deine Haare passen nicht dazu." André hatte auch bereits sein schwarzes Kostüm angezogen und musterte seine Geliebte von Kopf bis Fuß. Dabei sah er ein paar Fehler in ihrem Vorhaben, die er ihr auch aufzählte. „Deine Idee, sich zu verkleiden, um den Lockvogel zu spielen, gefällt mir sehr gut. Allerdings, eine Kleinigkeit hast du noch vergessen. Du bist einfach zu schmal, um wie ein Mann zu wirken. Ich wäre besser dafür geeignet." Mit anderen Worten, er würde mehr wie ein schwarzer Ritter aussehen als Oscar. „Probieren wir es mal." Er zückte seinen Dolch und schnitt seinen langen Zopf ab.
Oscar weitete die Augen. Das war nicht sein Ernst, oder? Was hatte er mit seinem schönen Haar gemacht? Aber zeitgleich musste sie ihm recht geben: Er wäre ein idealer schwarzer Ritter und würde besser in dessen Rolle passen als sie.
André kam zu ihr näher heran und fuhr sich mit der Hand durch sein kurzes Haar. Es war ein seltsames Gefühl, seinen langen Zopf nicht mehr zu haben, aber für seine Oscar würde er alles tun. Zumal es ihre Worte waren, dass er dem Dieb ähnlich sah. „Wie sehe ich aus, verglichen mit dem echten? Du hast ihn doch schon mal gesehen."
Oscar schluckte hart. Sie musste erst einmal die Tatsache verarbeiten, wie ähnlich ihr André diesem gemeinen Dieb sah! Zumindest äußerlich und in diesem Kostüm. Wie genau der schwarze Ritter tatsächlich aussah, konnte sie jedoch nicht sagen. „Ich weiß nicht, es war ja Nacht."
„Dann lass uns gehen." André küsste sie innig. „Welches Haus soll ich als erstes ausrauben?", scherzte er nach dem kurzen, aber leidenschaftlichen Kuss.
„André, vergiss nicht, das machen wir nicht zum Spaß!" Oscar schob ihn empörend von sich, aber lachte selbst und begann ihr Kostüm auszuziehen. „Kannst du draußen warten? Ich will mich nur umziehen."
André seufzte leicht enttäuscht, aber verließ ihr Schlafzimmer und wartete im Salon auf sie. Er hätte sie gerne beim Umziehen beobachtet, oder ihr womöglich dabei geholfen und sie vielleicht auch noch verführt, aber es war reine Vorsicht und das verstand er sehr gut. Auf dem Anwesen der de Jarjayes schlief noch niemand um diese Zeit und deshalb waren solche Liebeleien sehr gefährlich.
Oscar kam schon bald in ihrer roten Uniform in den Salon und just in dem Moment klopfte jemand an der Tür. Gut, dass sie und André gerade keine unanständigen Sachen gemacht hatten. Sie tauschten miteinander einen schelmischen Blick und nach einem „Herein" von Oscar, kamen zwei Knaben und ein Mädchen in den Salon herein. Beim Anblick von André öffneten sich bei allen drei staunend die Münder. „Bist du das, Vater?", fragte François.
„Ja, das bin ich." André präsentierte ein wenig sein Kostüm vor den Kindern und schmunzelte. „Was sagt ihr drei dazu?"
„Du siehst sehr schön darin aus!", sagte Marguerite mit leuchtenden Augen und wurde gleich stutzig. „Aber wo ist dein langes Haar?"
Ich habe mein Haar abgeschnitten, um den schwarzen Ritter besser spielen zu können und weil er kurzes Haar hat.", erklärte André lächelnd und Marguerite erwiderte das Lächeln. Sie wusste, dass das Haar wieder wachsen würde und nahm deshalb das abgeschnittene Haar ihres Ziehvaters nicht so tragisch.
„Ich habe den echten schwarzen Ritter nie gesehen, aber du siehst gut darin aus.", meinte François und Augustin fügte gleich nach ihm die skeptische Frage hinzu: „Ihr wollt wirklich darin Raubzüge machen und die Beute an die Armen verteilen? Genauso wie der echte schwarze Ritter das macht?"
„Natürlich nicht.", mischte sich Oscar ein. „Die Beute werden wir hierher bringen, um sie später zurückzubringen." Sie sah zu André. „Jetzt komm, sonst kommen wir zu spät."
André stimmte ihr zu und verließ mit ihr zusammen den Salon. Die drei Kinder folgten ihnen bis zu der großen Treppe und Augustin zog dabei eine fragende Miene. „Seit wann kommt man zu spät auf einen Raubzug?"
„Ich weiß es nicht." François zuckte mit den Schultern und ihm kam sogleich eine Vermutung durch den Kopf. „Aber vielleicht meinte Mutter das wegen dem echten schwarzen Ritter, um ihn rechtzeitig zu erwischen."
„Vermutlich hast du recht." Augustin ging neben seinem Zwillingsbruder die Treppe herunter und versank in Gedanken. Es war eine gute Idee, den schwarzen Ritter zu spielen und somit den echten Dieb fangen zu können. Aber es barg auch Gefahren. Was war, wenn anstelle des echten schwarzen Ritters sein Vater bei einem der Raubzüge erwischt und verhaftet werden würde? Schon alleine die Vorstellung darüber behagte Augustin nicht.
Am Fuß der Treppe wartete auf sie Marguerite. Sie war eigentlich zusammen mit ihren Zieheltern gegangen. Aber weil die Kinder das Haus bei Einbruch der Dunkelheit nicht mehr ohne erwachsene Begleitung verlassen durften, blieb das Mädchen bei der Treppe. Diese Regel hatte Sophie wegen den Einbrüchen des schwarzen Ritters erdacht und verriegelte alle Türen und Fenstern des Anwesens wie in einer Festung, sobald es draußen dunkler wurde. „Spielen wir „Schwarzer Ritter"?", fragte Marguerite, als die beiden Knaben sie erreichten.
Augustin und François grinsten. Das war eine sehr gute Idee! François machte schon Anstalten, loszurennen. „Kommt, wir fragen Madame Sophie, ob vom schwarzen Stoff noch etwas übrig geblieben ist. Vielleicht kann dann eine der Dienstmädchen etwas schnell daraus nähen?!"
Die Kinder wurden erhört. Von dem schwarzen Stoff, welchen Oscar für die Kostüme des schwarzen Ritters im Winter bestellt hatte, waren noch genug Reste übriggeblieben, um daraus drei Umhänge und Masken zu nähen. Die Kinder sollten auch etwas Spaß haben können. Also beauftragte Sophie eines der Dienstmädchen und schon bald konnten François und Augustin ihre neue Garderobe ausprobieren. Zwar sahen die Kostüme nicht so getreu wie von André und Oscar aus, aber zum Spielen für zwei Burschen und ein Mädchen reichte es vollkommen aus. Die Jungen sahen gleich aus, nur Marguerite konnte man von der Körpergröße von ihnen unterscheiden. Gleich am ersten Nachmittag nach der Anfertigung und während die Sonne unterging, spielten sie im Hof mit Freude den schwarzen Ritter. Dabei merkten sie nicht, dass sie beobachtet wurden.
Oscar sah ihnen beim Tee trinken aus dem Fenster ihres Salons zu. „Zum Glück spielen sie das nur.", meinte sie mit gemischten Gefühlen. Jeden Abend jagten André und sie dem schwarzen Ritter nach, raubten die Adelshäuser aus und hatten bereits nach einer Woche eine große Menge an Diebesgut angehäuft, aber der schwarze Ritter hatte sich noch immer nicht gezeigt.
„In der Tat." André stand dicht hinter ihr und massierte ihr sanft die Schultern. „Aber alle drei sind zu schmal, zu klein und zu jung, um wie ein echter schwarzer Ritter zu wirken. Ich bleibe wohl der einzige, der am besten dafür geeignet ist." Zur Bestätigung ging er zu der Kommode, wo sie ihr Diebesgut aufbewahrten und pfiff durch die Zähne. Schmuck, Edelsteine, Goldstücke und kostbare Gegenstände blendeten ihn beinahe durch ihren Glanz. „Sieh dir das an, Oscar! Ich glaube, ich bin eine Naturbegabung. Sogar besser als der Echte."
Oscar drehte sich nicht einmal um. Wozu? Alles, was André und sie erbeutet hatten, interessierte sie nicht. Ihr einziges Ziel war es, den Dieb zu fangen und ihn dingfest zu machen. „Vergiss nicht, die Sachen gehören nicht uns. Wir werde alles hübsch zurück geben, sobald wir den schwarzen Ritter geschnappt haben. Ein Ritter sollte sich auch ritterlich verhalten."
„Geht klar." André machte die Kommode wieder zu und in dem Moment flatterte eine Krähe in das Fenster und wieder nach draußen. Oscar erschrak und ließ die Tasse mit dem Tee fallen. André war sofort bei ihr. Um die zerbrochene Tasse und die Pfütze vom Tee am Boden würde er sich später kümmern. „Hast du dich verletzt?", fragte er sorgenvoll seine Geliebte.
„Nein, nein, alles in Ordnung." Oscar starrte nur auf die Scherben auf dem Boden. „Ich fühle mich heute Abend nicht wohl. Es sind die Schatten dunkler Vorahnungen, aber ich kann sie nicht beschreiben."
„Übertreibst du da nicht etwas?", meinte André und von draußen erscholl ein entsetzlicher Schrei von Marguerite. „Hilfe! François ist verletzt!"
Oscar und André schauten sofort aus dem Fenster. François kniete am Boden und bedeckte sein Gesicht. Augustin war bei ihm und versuchte zu helfen, aber wurde zurückgeschoben. Marguerite eilte ins Haus, um Hilfe zu holen. Oscar und André sahen sich das nicht länger mit an und eilten in den Hof. „Was ist passiert?", fragten sie im Chor.
André kniete sogleich bei François, um sein Gesicht anzusehen und Oscar packte Augustin wütend bei den Armen. Sie sah seinen reuevollen Blick und wieder stiegen die altbekannten Schuldgefühle in ihr hoch. Sich mit diesen Empfindungen auseinanderzusetzen war aber nicht der richtige Moment. Dieser Junge hatte ihren Sohn verletzt und musste dafür bestraft werden! Dass er der Schuldige war, daran bestand kein Zweifel. Denn als sie ihn an den Armen fasste, hörte sie von ihm ein entschuldigendes: „Ich wollte das nicht!"
Für Oscar reichte das aber nicht aus. Der mütterliche Schutzinstinkt um ihr Kind stieg in ihr hoch. „Was hast du getan?!", fuhr sie Augustin an und ihre Finger krallten sich fester in seine Arme.
Augustin schluckte hart, aber senkte nicht den Blick und erstattete leicht stotternd Bericht. „Wir haben gefochten, François konnte meinem Hieb nicht ausweichen und ich habe sein Auge getroffen. Es tut mir so leid, ich schwöre es!" Seine Arme schmerzten, aber noch mehr schmerzte ihm das Herz. Er wollte François wirklich nicht verletzen, das war ein Unfall, aber seine Eltern schienen ihm nicht zu glauben. Besonders seine Mutter, deren wütender und eindringlicher Blick ihn in kleine Stücke riss. Jetzt würde sie ihn sicherlich nicht mehr im Haus dulden und nach Paris zu Graf de Girodel zurück schicken. Vielleicht sollte er es ihr sagen, dass er ihr Sohn war?
„Oscar, es ist alles in Ordnung.", sagte André, der gerade das Auge seines Sohnes beschaut hatte. „Er hat nicht einmal einen Kratzer." Oberhalb der Braue zierte eine schmale, rote Linie die Haut, die nicht einmal blutete.
Oscar atmete auf. „Ihr zieht euch sofort um und hört auf mit dem schwarzen Ritter!", ordnete sie die Kinder an und ließ von Augustin ab. „Wir reden später!", sagte sie zu ihm und wandte sich zu André. „Komm, wir müssen uns noch umziehen!"
Im Hof versammelten sich die Bediensteten. Oscar schickte jemanden nach Doktor Lasonne und als dieser eintraf, brach sie mit André zum nächsten Raubzug auf. Diesmal stellte sich ihnen der echte schwarzer Ritter. Er hatte sie mitten im Wald abgepasst, als sie mit ihrem Diebesgut auf ihre Pferde steigen wollten. Sofort zog er sein Schwert und stürzte auf André.
André konnte ihm gerade noch rechtzeitig ausweichen und sein Schwert ziehen. Oscar dachte dabei an die Szene mit den Kindern, während der echte schwarze Ritter mit André kämpfte. Sie zog ihre Pistole, aber konnte nicht schießen – beide Männer sahen gleich aus. Dann schrie jemand von ihnen vor Schmerzen, ließ seinen Degen fallen und bedeckte sein Auge. „André!" Oscar hat ihren Geliebten schon an der Stimme erkannt, warf die Pistole auf die Erde und eilte zu ihm – ungeachtet darauf, dass der echte schwarzer Ritter die Situation ausnutzte und flüchtete.
„Mein Auge!", japste André und zwischen seinen Fingern sickerte das rote Blut.
Augustin hatte ein miserables Gefühl und wollte am liebsten seine Wut und seinen seelischen Schmerz rausschreien. Aber stattdessen verließ er sein Zimmer den ganzen Abend nicht und verschmähte sogar das Abendessen. François brachte ihm eine Tasse heiße Schokolade und stellte sie auf den Tisch, der zwischen ihren Betten stand. „Trink wenigstens das." Ihm und seinem Auge ging es gut. Doktor Lasonne hatte ihn untersucht und keine Verletzung festgestellt. Es war nur ein Moment des Schreckens, hatte er erklärt und dann das Anwesen verlassen. Nun, François war schon immer ein besonderer Patient mit Schmerzen, die nicht wirklich existierten.
Augustin saß mit angezogenen Knien auf seinem Bett und schüttelte mit dem Kopf. „Sie wird mich nicht mehr mögen."
François verstand, wen er meinte und spürte dieselben Gefühle der Schuld und Wut wie Augustin. Sein Freund tat ihm von Herzen leid und er versuchte ihn aufzumuntern. „Das glaube ich nicht. Mir ist doch nichts passiert und beim nächsten Mal werde ich mehr auf die Deckung beim Fechten achten."
Auch da schüttelte Augustin verneinend den Kopf. „Wenn ich noch hier sein darf..."
„Sag doch nicht so etwas!" François erschrak. „Was soll ich denn ohne dich tun? Du bist wie ein Bruder für mich, den ich nicht habe! Ich will dich nicht verlieren."
„Hör zu, François..." Augustin schaute intensiv zu ihm und es war ihm in diesem Moment egal, dass er sein Geheimnis offenbaren wollte. Wozu weiter schweigen, wenn alles sowieso vorbei war? Nach dem Gespräch mit seiner Mutter würde er François ganz bestimmt nie wieder sehen dürfen. Wir sind Brüder, Zwillingsbrüder, lag es Augustin auf der Zunge und er hätte das auch gesagt, wenn laute Stimmen außerhalb des Zimmers sie beide nicht aufhorchen ließen. Sofort eilten sie hinaus und ihnen gefror das Blut vor Schreck. Ein paar von den Bediensteten halfen André auf sein Zimmer, seine rechte Gesichtshälfte war blutüberströmt und Oscar brüllte das ganze Haus zusammen, dass jemand einen Arzt holen sollte.
„Ich mache das!" Augustin filzte zum Stall. Andrés Pferd wurde abgesattelt, Oscars dagegen noch nicht. Er griff nach dessen Zügel.
„Wo willst du hin?", fragte einer der Stallknechte baff.
„Ich muss einen Arzt holen!"
„Du kannst wieder ins Haus gehen und Lady Oscar sagen, dass zwei Burschen schon unterwegs sind.", meinte der Stallknecht, aber wurde nicht einmal wahrgenommen.
Augustin schüttelte mit Kopf und schob seinen Fuß in den Steigbügel. „Ihre Pferde sind nicht schnell genug!"
„Runter von diesem Pferd und nimm ein anderes!", rief der Stallknecht, aber ohne den geringsten Erfolg.
„Kein Pferd ist schneller!" Augustin stieß in die Seiten des Pferdes seiner Mutter und galoppierte davon.
