Alexandra hasste Hausarrest. Der passierte ihr mit beunruhigender Regelmäßigkeit, besonders in letzter Zeit, und ihre Eltern waren immer strenger geworden, was die Bedingungen anging, die sie ihr stellten. Kein Fernsehen, kein Rausgehen (nicht einmal in den Garten), kein Besuch von Brian. Sie durfte so ziemlich nur lesen.

Was natürlich nicht bedeutete, dass das alles war, was sie tun würde. Hausarrest war nicht besonders effektiv, wenn man Alexandra allein und unbeaufsichtigt im Haus ließ.

Ihre Mutter gab manchmal zu, dass sie ein wenig besorgt war, Alexandra im Sommer allein zu Hause zu lassen. Sie war erst elf, und obwohl sie für ihr Alter ziemlich schlau und einfallsreich war, war sie auch viel zu schlau, und ihr Verantwortungsbewusstsein war bei weitem nicht so frühreif. Aber ihre Eltern hatten keine große Wahl. Ihre Mutter war Krankenschwester und ihr Stiefvater Polizist, und obwohl sie versuchten, ihre Arbeitszeiten so zu arrangieren, dass immer einer von ihnen zu Hause war, wenn Alexandra nicht in der Schule war, klappte das einfach nicht immer. (Alexandra vermutete, dass Archie sich nicht einmal wirklich bemühte, seinen Zeitplan zu ändern, wenn ihre Mutter Tagschicht hatte.) Weder ihre Mutter noch Archie hatten Verwandte in der Stadt, die auf Alexandra aufpassen konnten. Als sie jünger war, ging sie in eine Kita oder zu einem Babysitter, aber sie war aus drei Kitas der Stadt rausgeschmissen worden, und nicht sehr viele Babysitter wollten noch auf sie aufpassen. Das ganze Geschrei ihrer Mutter hatte Alexandra nicht gerade bereitwilliger gemacht, Anordnungen zu befolgen oder sich von Orten fernzuhalten, an denen sie nicht sein sollte (und von denen es hieß, sie habe eine fast übernatürliche Fähigkeit, dorthin zu gelangen), und außerdem konnten einige der Dinge, die den Babysittern passiert waren, die sie nicht mochte, unmöglich ihre Schuld gewesen sein.

Also hatten ihre Eltern Alexandra ab diesem Sommer erlaubt, widerstrebend und mit großen Bedenken, alleine zu Hause zu bleiben. Ihre Mutter rief mindestens dreimal am Tag an, und wenn Archie nicht am Schreibtisch saß, kam er ab und zu mit seinem Streifenwagen vorbei, um sich ein Sandwich zu machen und sicherzustellen, dass Alexandra keinen Ärger machte. Meistens benahm sie sich – wenn Archie da war.

Natürlich konnte sie zu Brian nach Hause gehen, und das tat sie auch oft. Ihre Eltern unterstützten sie dabei, da sie es mochten, dass Brians Mutter normalerweise ein Auge auf sie hatte. Aber Mrs. Seabury tolerierte Alexandra kaum, da sie sie als lästig und Unruhestifterin empfand. Sie war höflich genug, wenn die Freundin ihres Sohnes zu Besuch kam, aber es war klar, dass sie nicht vorhatte, sich freiwillig als Alexandras inoffizielle Babysitterin zu melden, und hatte angefangen, Brian davon abzuhalten, sie zum Abendessen einzuladen.

Da Alexandra Hausarrest hatte, durfte sie Brian eigentlich gar nicht besuchen, und sie wusste, dass ihre Mutter sie häufig anrufen würde, um sich zu vergewissern, dass sie das Haus nicht verlassen hatte. Sie verbrachte eine Stunde damit, An Encyclopedia of Spirits, Sprites and Fairies noch einmal zu lesen, machte sich ein Erdnussbutter-Marmeladen-Sandwich (ihre Mutter bereitete ihr selten Mittagessen zu, und Alexandra machte sich ihr Mittagessen seit ihrem siebten Lebensjahr selber), ging ans Telefon, als ihre Mutter anrief und versicherte ihr, dass sie noch zu Hause sei und nicht fernsah, und ging dann fernsehen.

Sie sollte eigentlich nicht fernsehen können, da Archie den Fernseher und seinen Ständer aus dem Wohnzimmer in das Elternschlafzimmer gerollt hatte. Sie trauten ihr nicht zu, ihn nicht einzuschalten, nur weil es ihr verboten worden war. Aber verschlossene Türen hatten Alexandra seit mindestens zwei Jahren nicht aufgehalten, also ging sie, sobald sie aufgelegt hatte, zur Schlafzimmertür ihrer Eltern und stellte sich davor. Sie dachte eine Minute nach und sagte dann:

Hausarrest langweilt, da kann ich nichts für,

Lass mich nun herein, öffne diese Tür!"

Während sie diesen Reim mit etwas schnörkeliger Gestikulation ihrer Arme garnierte, klickte das Schloss und die Tür schwang auf.

Sie war sich nicht sicher, ob sie wirklich einen Zauberspruch erfinden musste, da sie manchmal zauberte, ohne überhaupt etwas zu sagen. Aber sie hatte sich selbst davon überzeugt, dass Zauberei besser funktionierte, wenn sie von einem Reim begleitet wurde, und (laut den anderen Regeln, die sie selber für sich aufgestellt hatte) war es Schummeln, denselben Reim zweimal zu verwenden, also musste sie sich jedes Mal einen neuen ausdenken.

Das Schlafzimmer ihrer Eltern war nie wirklich ordentlich. Auf dem Nachttisch lagen Papiere, die ihre Mutter und ihr Stiefvater beide von der Arbeit mitgebracht hatten, und auf dem Boden lagen Schuhe und Kleingeld. Der Bademantel ihrer Mutter, die Kleinanzeigen und eine Zeitschrift über Mitarbeiter des Gesundheitswesens lagen auf dem ungemachten Bett, und Alexandra bemerkte mit verächtlichem Naserümpfen, dass Archies Unterwäsche wieder nicht im Wäschekorb in der Ecke gelandet war. Sie ignorierte das, sprang auf das Kingsize-Bett, schob den Bademantel, die Kleinanzeigen und die Zeitschrift beiseite, schnappte sich die Fernbedienung vom Nachttisch und lehnte sich zurück, um Zeichentrickfilme und eine dieser albernen Talkshows anzuschauen, in denen Erwachsene sich eine Stunde lang anschreien, wer ein Baby bekommen hatte und ob die Eltern heiraten oder verheiratet bleiben würden oder so etwas in der Art. Alexandra verstand nicht ganz, was damit zusammenhing, sie fand es nicht so interessant, aber die Babys taten ihr immer leid.

Als sie ausgestreckt auf dem Bett lag und einem weiteren Paar beim Anschreien zuhörte, war Alexandra froh, dass Archie und ihre Mutter sich nicht so anschrien. Alexandra war wie einige der Kinder in der Show: Sie wusste nicht, wer ihr Vater war. Archie Green war nur ihr Stiefvater. Er hatte angefangen, mit Claudia Quick auszugehen, als Alexandra etwa vier Jahre alt war, und heiratete sie zwei Jahre später. Also sollte sie ihn eigentlich als ihren Vater betrachten, aber das tat sie nicht, und obwohl sie in Bezug auf Beziehungen zwischen Erwachsenen immer noch naiv war, hatte sie ein ziemlich differenziertes Verständnis ihrer Rolle in Archies Leben. Er hatte ihre Mutter geheiratet, und Alexandra war das Gepäck, das sie mitgebracht hatte. Sie machte ihm nicht einmal Vorwürfe, besonders, da sie ihn nie Papa genannt hatte. Er war immer „Archie".

Auch ihre Mutter war nicht besonders großzügig mit ihrer Zuneigung. Alexandra wusste zwar, dass ihre Mutter sie liebte, auf eine abgelenkte, losgelöste Art, aber sie arbeitete so hart und ihr Leben als alleinerziehende Mutter war so schwer gewesen, bevor sie Archie traf, dass sie es anscheinend nie ganz verwunden hatte. Es war ein Glück, dass Alexandra so unabhängig und selbständig war. Ihre Ausbrüche von Initiative konnten erschreckende Folgen haben, aber wenn sie jemals unter der gutgemeinten Vernachlässigung ihrer Eltern litt, war sie sich dessen nicht bewusst.

Das Einzige, was sie ihrer Mutter wirklich übelnahm, war, dass die sich weigerte, ihr von ihrem Vater zu erzählen. Alexandra wusste, dass Frauen, die Kinder von Männern bekamen, mit denen sie nicht verheiratet waren, manchmal schlecht behandelt wurden. Das verstand sie, weil sie die Schimpfwörter gehört hatte, die Frauen in diesen Talkshows abbekamen. Aber soweit sie es beurteilen konnte, wurde ihre Mutter wie jede andere behandelt, sogar in einer Kleinstadt wie Larkin Mills, und es hatte Archie schließlich nicht davon abgehalten, sie zu heiraten. Vielleicht war Claudia Quicks Leben als unverheiratete Mutter der Grund gewesen, warum sie überhaupt von Chicago nach Larkin Mills gezogen war; Alexandra war zu jung gewesen, um sich daran zu erinnern. Aber alles, was Alexandra über ihren Vater wusste, war, dass ihre Mutter ihn verlassen hatte, als sie noch ein Baby war. Und dieses Wissen (das ihre Mutter einmal preisgegeben hatte, als Alexandra sechs war) war sehr wahrscheinlich der Grund, warum sie keine Bindung zu Archie aufbauen konnte. In ihren Gedanken hatte sie irgendwo da draußen noch einen Vater.

Natürlich hatte sie ihre Mutter ausgefragt. Alexandra hatte gefragt, ob ihr Vater ein schlechter Mensch war, ob er sie misshandelt hatte, ob er viel trank oder ob er andere Frauen traf. (Das war, bevor sie überhaupt wirklich verstand, was das bedeutete; sie hatte in jungen Jahren zu viel aus Fernsehtalkshows gelernt.) Claudia schüttelte bei all diesen Fragen nur den Kopf und sagte Alexandra, dass sie und ihr Vater nicht zusammengehörten und es ihnen ohne ihn besser ginge.

Es waren die schmerzlicheren Fragen, die ihre Mutter in launisches Schweigen versetzten, als wollte sie Alexandra dafür bestrafen, dass sie es wagte, neugierig wegen ihrem Vater zu sein. „Vermisst er mich nicht?", hatte sie einmal gefragt. „Denkst du nicht, dass er mich kennenlernen möchte?"

Und insgeheim fragte sie sich, ob er überhaupt wusste, dass sie existierte. Sie war sich jedoch ziemlich sicher, dass er es gewusst haben musste, da ihre Mutter zugegeben hatte, dass Alexandra bereits geboren war, als sie ihn verließ.

Die Talkshow ging zu Ende und Alexandra war wieder gelangweilt. Wie so oft lenkte die Langeweile ihre Gedanken in gefährliche Richtungen, und sie dachte an den Kleiderschrank ihrer Mutter, in dem sie das goldene Armband gefunden hatte. Es war ihr wie ein schönes, wenn auch eher schlichtes Schmuckstück vorgekommen, und Alexandra hatte sich gefragt, warum ihre Mutter es ganz unten in ihrem Kleiderschrank vergraben hatte. Vielleicht war es ein Geschenk ihres Vaters gewesen? Sie hatte keine Beweise dafür, und es war ebenso wahrscheinlich, dass es einfach verlegt und, außer Sichtweite, vergessen worden war, aber das war der Grund, warum sie es genommen hatte.

Natürlich hätte sie überhaupt nicht im Kleiderschrank ihrer Mutter sein sollen, genauso wie sie jetzt nicht im Schlafzimmer ihrer Eltern vor dem Fernseher stehen sollte. Aber nachdem sie aufgestanden war, um vorsichtig aus dem Fenster zu schauen, falls Archie zum Mittagessen vorbeikommen könnte (sie dachte, er arbeitete diese Woche im Revier, aber sie war sich nicht sicher), schlich sie zurück in das große Schlafzimmer und öffnete dann erneut die Schranktür.

Der Kleiderschrank war größtenteils mit den Kleidern ihrer Mutter gefüllt, viele davon hatte sie seit Jahren nicht mehr getragen. Außerdem waren da alte Pflegehandbücher, Weihnachtsschmuck (und hier versteckte Alexandras Mutter jedes Jahr ihre Weihnachtsgeschenke, weshalb Alexandra immer im Voraus wusste, was sie bekommen würde), ein altes Paar Tennisschläger, ein Handy, das nicht funktionierte, und unter einer Decke und einem Schlafsack die Schachtel mit dem Highschool-Jahrbuch ihrer Mutter. In dieser Schachtel hatte Alexandra das Armband gefunden, und nun fragte sie sich, während sie ihrer unbewiesenen, aber faszinierenden Theorie nachging, dass ihre Mutter das Armband einst von ihrem Vater bekommen hatte, ob das Jahrbuch ihrer Mutter vielleicht weitere Hinweise enthielt. Vielleicht waren ihre Mutter und ihr Vater während der Highschool ein Paar gewesen!

Nachdem Alexandra die Decke und den Schlafsack herausgeholt hatte, sowie den kleinen perlenbesetzten Beutel auf der Schachtel, zog sie das Jahrbuch heraus. Auf dem Umschlag stand „Andrew Donelson High School, 1992". Sie öffnete das Buch und begann darin zu suchen.

Sie konnte ihre Mutter ziemlich leicht finden. Claudia Quick war – drei Jahre vor Alexandras Geburt – ein hübsches Mädchen mit blonden Locken gewesen, ganz anders als das glatte schwarze Haar ihrer Tochter. Alexandra erfuhr, dass Claudia Flöte gespielt hatte, Mitglied in der Spanisch-AG war und auf der Ehrenliste des Schulinspektors stand. Ob sie am Abschlussball teilgenommen hatte oder nicht, konnte Alexandra nicht feststellen, da sie auf den Abschlussballfotos keine Bilder ihrer Mutter fand. Tatsächlich zeigte keines der drei Fotos, die Alexandra von ihrer Mutter im Jahrbuch fand, sie mit einem Jungen. Sie begann zu lesen, was die Freundinnen und Freunde ihrer Mutter auf die Innenseiten und auf die Seiten des Jahrbuchs geschrieben hatten. Katie P. hatte geschrieben: „Claudia, viel Glück!" Sarah hatte geschrieben: „Ich werde Bio mit dir nie vergessen! Finger weg von Fröschen! Hahahah!" Matt (oder vielleicht „Mark"; seine Handschrift war wirklich mies) schrieb etwas darüber, dass Claudia eine wirklich coole Person sei, alles Gute usw. Alexandra kniff die Augen zusammen, als sie diese Unterschrift sah, und untersuchte tatsächlich alles, was aussah, als wäre es von einem Jungen geschrieben worden, mit besonderer Aufmerksamkeit, aber abgesehen von ein paar, die sie „Süße" oder „Baby" nannten, schien ihre Mutter niemanden dazu inspiriert zu haben, ihr seine Liebe zu gestehen oder über ihre gemeinsamen Zukunftspläne zu schreiben.

Frustriert schlug sie das Jahrbuch zu und warf es zurück in die Schachtel. Dadurch fiel der Perlenbeutel vom Rand der Schachtel, wo er gelegen hatte, und ein kleines goldenes Medaillon fiel auf den Boden des Schranks.

Alexandra starrte darauf und formte mit dem Mund ein stummes, überraschtes kleines „O". Warum hatte sie diesen Beutel vorher bloß ignoriert? Sie hob ihn auf und schüttelte ihn aus, aber das Einzige, was sonst noch herauskam, war eine Kaugummiverpackung, ein paar Pennys und ein kleines Stück Papier, das sich als der Bibliotheksausweis ihrer Mutter aus Chicago herausstellte, datiert 1989.

Sie packte all diese Dinge vorsichtig zurück in den Beutel, nahm dann das Medaillon und betrachtete es. Es war aus strahlendem Gold, wenn auch ein wenig staubig, und hing an einer feinen Goldkette. Alexandra rieb es an ihrem Hemd ab und untersuchte es dann auf einen Verschluss oder eine andere Möglichkeit, es zu öffnen. Sie konnte eine Naht entlang der Kante und ein winziges Scharnier auf derselben Seite wie die Halterung sehen, an der die Kette befestigt war, aber keinen Verriegelungsmechanismus. Also versuchte sie vorsichtig, es auseinanderzuziehen, aber es ließ sich nicht öffnen. Dann versuchte sie es nicht mehr so vorsichtig, und dann hebelte sie mit den Fingern daran herum, plötzlich frustriert, dass dieses neue, mysteriöse Stück aus der Vergangenheit ihrer Mutter ihr den Zugang zu seinen Geheimnissen verwehrte. Sie hörte erst auf, als sie fürchtete, es zu beschädigen.

Draußen schlug eine Autotür zu, und Alexandra zuckte zusammen. Hastig verstaute sie alles wieder in und auf der Schachtel im Schrank, bis auf das Medaillon, das sie in ihre Tasche steckte. Sie eilte aus dem Schlafzimmer ihrer Eltern und hoffte, dass sie nicht zu viele Beweise dafür hinterlassen hatte, dass sie dort gewesen war, und hatte gerade die Schlafzimmertür geschlossen, als Archie durch die Haustür kam.

Er trug seine graue Uniform der Polizei von Larkin Mills, und als er sich nach dem Schließen der Haustür umdrehte, war sein Gesicht ein wenig rot, also musste er draußen gewesen sein, bevor er zuhause anhielt. Wahrscheinlich hatte er Leuten Strafzettel ausgestellt, obwohl er manchmal tatsächlich Leute verfolgen und verhaften musste, meistens in Old Larkin. Er wischte sich die Stirn und betrachtete Alexandra misstrauisch. Als er sich umgedreht hatte, war sie mitten im Wohnzimmer und tat ihr Bestes, unschuldig auszusehen und überhaupt nicht, als wäre sie gerade vor zwei Sekunden im Elternschlafzimmer gewesen.

„Was hast du heut Morgen gemacht?", fragte er schroff.

„Nur gelesen", antwortete sie.

Archie war nie wirklich gemein zu Alexandra, und ab und zu nahm er sie zum Angeln mit oder fuhr sie in seinem Streifenwagen herum, in einem unbeholfenen Versuch, väterlicher zu sein. Alexandra war sich sicher, dass solche Gesten immer auf Drängen ihrer Mutter geschahen. Er kaufte ihr pflichtbewusst Geburtstagsgeschenke, er war kooperativ, wenn sie Erlaubnisformulare für Ausflüge brauchte, die von einem Elternteil unterschrieben waren, und er hatte ihr nie den Hintern verhaut, obwohl sie ziemlich sicher war, dass er das mehr als einmal gewollt hatte. Aber sie hörte häufig, wie Archie sie gegenüber seinen Freunden und Kollegen als „Claudias Tochter" bezeichnete, und das fasste ihre Beziehung ungefähr zusammen. Claudias Tochter.

„Ah-hah", sagte Archie, als wüsste er, dass sie etwas im Schilde führte. Er ging ins Schlafzimmer, und Alexandra musste ihre ganze Selbstbeherrschung aufbringen, um lässig zu bleiben und sich nicht durch einen Blick auf die Tür zu verraten – die sie, wie sie entsetzt feststellte, nicht hinter sich abgeschlossen hatte. Oh, wie sehr wünschte sie sich, sie könnte sie auf magische Weise wieder verschließen! Aber selbst wenn sie es täte, würde Archie das Klicken bemerken. Obwohl es ihm vielleicht schwerfallen würde, ihr tatsächlich etwas vorzuwerfen, nur weil die Tür ein komisches Geräusch machte, würde er sein Schlafzimmer sicherlich gründlich inspizieren.

Doch auf halbem Weg zur Schlafzimmertür änderte er offenbar seine Meinung, warf seine Dienstkappe auf das Sofa und ging in die Küche, um sich eine Limo aus dem Kühlschrank zu holen.

„Denk dran, kein Fernsehen, kein Computer, kein Spielen draußen, und du darfst weder Brian noch sonst einen deiner Freunde zu Besuch einladen", rief er aus der Küche und öffnete die Getränkedose.

„Ich weiß", antwortete sie etwas gereizt. Es war ja nicht so, als hätten er und ihre Mutter ihre Einschränkungen nicht schon zillionenmal durchgegangen.

„Achte auf deinen Ton", sagte er, kam zurück ins Wohnzimmer und nahm seine Kappe. Mit Mühe sah Alexandra ihn nur an, anstatt die Augen zu verdrehen. Plötzlich fragte sie sich, ob Archie irgendetwas über ihren Vater wusste. Sie hatte nie wirklich die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass ihre Mutter ihm vielleicht mehr über ihren Vater erzählt haben könnte als ihr.

Er neigte einen Moment lang den Kopf, als versuchte er, Alexandras seltsamen, nachdenklichen Gesichtsausdruck zu entziffern. Sie für ihren Teil wusste, dass sie ihn nicht jetzt fragen würde, wenn sie ihn jemals nach ihrem Vater fragen würde. Er war schon genervt von ihr und sie war auch ziemlich genervt von ihm.

„Also, ich bin nur vorbeigekommen, um nach dir zu sehen", sagte er, setzte mit einer Hand seine Kappe wieder auf und führte mit der anderen die Dose an seine Lippen. Nachdem er noch einen Schluck genommen hatte, sagte er: „Ich bin heute mit dem Streifenwagen unterwegs, aber du kannst mich oder deine Mutter unter den üblichen Nummern erreichen, wenn es ein Notfall ist –"

„Ich weiß", sagte Alexandra, noch genervter. Sie wollte wirklich, dass er ging, damit sie sich wieder dem Medaillon widmen konnte. Sie biss sich auf die Zunge, um nichts mehr zu sagen oder das Gesicht zu verziehen, und Archie kniff die Augen zusammen, grunzte und ging zur Tür hinaus.


Alexandra schaute aus dem Vorderfenster und wartete, bis Archie tatsächlich mit seinem Streifenwagen weggefahren war, bevor sie ins Schlafzimmer ihrer Eltern zurückkehrte und ihr Bestes tat, um den Schrank und das Bett wieder so aussehen zu lassen wie vor ihrem Besuch. Dann schloss sie die Tür sorgfältig hinter sich ab, ging nach oben in ihr Schlafzimmer und holte das Medaillon heraus. Wieder einmal widersetzte es sich all ihren Versuchen, es zu öffnen. Sie fand eine Nagelfeile und versuchte, sie vorsichtig in den Spalt am Rand des Medaillons zu stecken, konnte es aber nicht einmal ein kleines Stück aufhebeln. Einen Moment lang überlegte sie, es aufzubrechen. Und dann kam ihr eine andere Möglichkeit in den Sinn.

Sie hielt es vor sich und ließ es an der Kette baumeln, während sie sich einen passenden Reim ausdachte. Dann holte sie tief Luft und sagte:

Medaillon, was verbirgt sich in dir,

öffne dich jetzt und zeige es mir."

Und mit einem winzigen Klick öffnete es sich.

Sie war sich nicht sicher, warum sie erwartet hatte, dass es nicht funktionieren würde, aber ein Schauer der Aufregung durchfuhr sie. Fast zitternd hielt sie das Medaillon mit beiden Händen und schaute hinein.

Darin war ein kleines Foto von einem gutaussehenden, dunkelhaarigen Mann mit Schnurrbart und Spitzbart. Er sah älter aus als ihre Mutter, aber nicht so unelegant in die mittleren Jahre hinabgestolpert wie sie und Archie. Seine Augen waren strahlend und sein Gesichtsausdruck wachsam. Er sah weise und selbstbewusst aus. Vielleicht sogar ein wenig arrogant. Alexandra starrte auf das Bild und studierte die Gesichtszüge des Mannes, seine Augen, sein Haar, alles an ihm.

„Bist du mein Vater?", fragte sie sich laut.

Und der Mann auf dem Bild zwinkerte ihr zu.

Sie ließ das Medaillon fast fallen. Ihre Finger zitterten ein wenig, als sie es umklammerte und das Bild erneut betrachtete.

Es war nicht offensichtlich, weil das Bild so klein war, aber der Mann auf dem Foto bewegte sich definitiv. Er verschränkte die Arme und neigte den Kopf, um Alexandra gebieterisch, aber mit einem kleinen Lächeln anzusehen, und als sie das Medaillon hin und her drehte, runzelte er leicht die Stirn, während seine Augen ihr folgten.

„Wer bist du?", fragte sie laut. Aber der Mann antwortete nicht, sondern beobachtete sie weiterhin.

„Ich sehe, dass du dich bewegst!", sagte sie ein wenig wütend. „Wer bist du? Antworte mir!"

Er schüttelte nur den Kopf und wackelte mit dem erhobenen Zeigefinger. Sein selbstgefälliger Gesichtsausdruck machte sie wütend; sie konnte ihn fast „Ts! Ts!" sagen hören.

Alexandra ließ das Medaillon fallen, bis es am Ende der Kette baumelte, und drehte es mit der anderen Hand herum. Dann packte sie es und drehte das Bild wieder zu sich. Der Mann hatte die Arme nach beiden Seiten ausgestreckt und schien sich gegen die Ränder seines Bildes zu stützen. Als das Medaillon aufhörte, sich zu bewegen, nahm er wieder seine vorherige Pose mit verschränkten Armen ein. Auch sein Gesichtsausdruck normalisierte sich wieder, obwohl Alexandra fand, dass er ein wenig verärgert aussah.

Alexandra beobachtete den Mann lange. Sonst tat er nichts. Er bewegte sich ein wenig, drehte manchmal den Kopf und zwinkerte ihr wieder zu, aber er schien nicht wirklich eine große Bandbreite an Reaktionen zu zeigen.

Abrupt klappte sie das Medaillon zu. Sie starrte es an und fragte sich, ob der Mann jetzt in der Dunkelheit umherspähte oder wütend aussah. Dann wollte sie es wieder öffnen, aber selbst nachdem sie mehrere verschiedene Reime ausprobiert hatte, blieb das Medaillon geschlossen.


An diesem Abend musste sie sich eine weitere Runde Nörgeleien ihrer Mutter anhören, die müde und hungrig aus dem Krankenhaus nach Hause kam, wo sie arbeitete, was wie üblich Mikrowellengerichte bedeutete. Archie stocherte niedergeschlagen in dem ehemals tiefgekühlten Hackbraten und den Kartoffeln herum, und während Claudia vor Wut auf Alexandra rauchte, steuerte er gelegentlich etwas bei wie „Weißt du nicht, dass Leute in diesem Teich ertrunken sind?" oder „Du musst uns endlich beweisen, dass wir dir genug vertrauen können, um dich allein zu lassen". Alexandra wollte schnauben und darauf hinweisen, dass sie eigentlich keine andere Wahl hatten, es sei denn, einer von ihnen würde aufhören zu arbeiten, aber dann wäre das Thema vielleicht darauf umgeschwenkt, warum sie keine bezahlbare Betreuung mehr für sie finden konnten. Sie persönlich dachte, dass ihre Mutter wütender darüber war, dass Mrs. Seabury sie noch weniger Zeit mit Brian und Bonnie verbringen lassen würde, als über die Möglichkeit, dass Alexandra ertrunken sein könnte.

Ihre Hand glitt in ihre Tasche und drehte das Medaillon immer wieder um. Sie dachte an den Mann auf dem Bild und daran, wie ihre Mutter in den Besitz des Bildes gekommen war, und sie brannte darauf, danach zu fragen, aber wieder einmal konnte sie nicht sagen, was sie sagen wollte, ohne sich noch mehr Ärger einzuhandeln. Doch als das unaufhörliche Nörgeln ihrer Mutter weiterging und ihr Stiefvater mit einer quälenden Passivität allem zustimmte, was sie sagte, ging Alexandras Geduld (und Zurückhaltung) zu Ende.

„Hatte mein Vater schwarzes Haar?", fragte sie plötzlich.

Claudia und Archie Green wurden beide sehr still. Alexandra beobachtete ihre Reaktionen aufmerksam. Dann knallte ihre Mutter ihre Tasse auf den Tisch und stand auf. „Wenn du glaubst, dass es eine clevere neue Taktik ist, Ärger zu vermeiden, irrelevante Fragen zu unpassenden Zeiten zu stellen, solltest du es dir besser noch einmal überlegen!" Sie sah ihren Mann an. „Ich bin müde. Ich gehe ins Bett. Macht ihr den Abwasch, ja?" Und sie drehte sich um und ging müde in ihr Schlafzimmer.

Archie sah Alexandra nur an und schüttelte den Kopf. „Warum tust du das? Warum kannst du nicht ein bisschen Rücksicht auf deine Mutter und mich nehmen? Wir arbeiten lange, damit du zu Hause bleiben und den ganzen Tag spielen kannst." Er stand vom Tisch auf. „Und du bist alt genug, um die Spülmaschine einzuräumen, also kannst du dich um das Geschirr kümmern."

Nachdem Alexandra die schmutzigen Teller in die Spülmaschine geräumt hatte, konnte sie den Fernseher im Schlafzimmer ihrer Eltern hören. Archie sah wahrscheinlich fern, während ihre Mutter im Bett neben ihm schlief. Oder vielleicht war sie noch wach. Vielleicht sprachen sie über sie. Vielleicht fragten sie sich, woher Alexandra die Idee hatte, zu fragen, ob ihr Vater schwarze Haare hatte. Das ergab natürlich Sinn, da sie schwarze Haare hatte und ihre Mutter blond war, aber der Zeitpunkt ihrer Frage war vielleicht verdächtig, und vielleicht führte das dazu, dass ihre Mutter in einer Tasche in ihrem Schrank nach einem Medaillon suchte. Aber das war das, was ihre Mutter ein „schlechtes Gewissen" nennen würde, das an ihr nagte, obwohl Alexandra sich überhaupt nicht schuldig fühlte. Sie hatte das Recht, etwas über ihren Vater zu erfahren. Ihre Mutter hatte kein Recht, Dinge vor ihr zu verbergen.

Sie zog das Medaillon heraus und ging langsam die Treppe hinauf, ließ es an der Kette baumeln und wirbeln. Ihre Mutter stürmte nicht aus ihrem Schlafzimmer, um Alexandra zu beschuldigen, in ihrem Schrank herumzuschnüffeln, oder um zu fragen, wo ihr Medaillon war. Wie konnte ihre Mutter von einem Medaillon mit einem sich bewegenden Foto wissen und es nie erwähnen? Oder vielleicht hatte es sich für Claudia nie bewegt. Vielleicht hatte Alexandras Mutter es noch nicht einmal öffnen können. Alexandra hatte mehr Fragen als je zuvor und eines wusste sie mit Sicherheit. Das Medaillon sah aus, als wäre es aus Gold, genau wie das Armband, das sie ebenfalls in der Schachtel gefunden hatte. Sie musste das Armband finden.


Ihre Mutter und ihr Stiefvater waren am nächsten Morgen mürrisch, zueinander und auch zu Alexandra. Sie fragte sich, ob sie sich gestritten hatten, vielleicht wegen ihres Vaters, vielleicht wegen der Frage, die sie gestellt hatte, und sie fühlte sich ein wenig schuldig. Aber nur ein wenig. Ihre Gefühle für Archie erreichten nicht das Niveau aktiver Abneigung, aber sie wusste, dass sie nicht traurig sein würde, wenn ihre Mutter ihn jemals verlassen würde, nicht wirklich.

Archie erinnerte sie erneut daran, dass sie das Haus nicht verlassen dürfe, und sagte dann dummerweise seiner Frau in Alexandras Beisein, dass er den ganzen Tag den Schreibtisch besetzen müsste, weil Sergeant Ridenour sich krank gemeldet hatte. Sie unterdrückte ein Grinsen, als ihre Mutter ihre Sachen zusammenpackte, ihre grüne Krankenschwesteruniform anzog und Alexandra einen letzten, gehetzten Blick zuwarf. „Bitte sei brav, Alexandra", seufzte sie und beugte sich dann, sehr zur Überraschung ihrer Tochter, vor, um ihr einen Kuss auf die Wange zu geben, bevor sie zur Tür hinausging.

Alexandra wartete eine Stunde, nachdem Archie und ihre Mutter gegangen waren, und schaltete dann den Computer ein (den sie eigentlich nie benutzen sollte, wenn ihre Eltern nicht zu Hause waren, auch wenn sie keinen Hausarrest hatte, was sie aber häufig tat). Sie konnte Brians Haus anrufen, aber wahrscheinlich würde seine Mutter ans Telefon gehen, und Mrs. Seabury würde Alexandras Mutter später vielleicht erzählen, dass Alexandra angerufen hatte. Also hoffte sie, dass Brian vielleicht online war, was er oft war, wenn er nicht gerade mit ihr draußen herumlief.

Als der Computer hochfuhr, sah Alexandra einen vertrauten Bildschirm, auf dem stand:

Digitaler Babysitter: Kinder vor Computern schützen und umgekehrt!

Bitte geben Sie das Passwort ein:

Archie hatte die Software installiert, als sie den Computer gekauft hatten, weil er glaubte, sie würde Alexandra davon abhalten, den Computer zu benutzen, wenn sie nicht zu Hause waren. Und das hätte sie vielleicht auch getan, wenn er nicht das Geburtsdatum ihrer Mutter als Passwort verwendet hätte. Alexandra gab die Zahlenfolge ein und drückte die Eingabetaste.

Passwort falsch. Bitte geben Sie das Passwort ein:

Sie runzelte die Stirn und versuchte es erneut, bekam aber dieselbe Antwort. Offenbar hatte Archie das Passwort geändert.

Sie knackte mit den Fingerknöcheln und machte sich an die Arbeit. Sie gab Archies Geburtsdatum, ihr Geburtsdatum, den zweiten Vornamen ihrer Mutter, Archies zweiten Vornamen, ihren zweiten Vornamen, ihre Sozialversicherungsnummern, ihre Telefonnummern und alle anderen persönlichen Informationen ein, die Alexandra einfielen. Sie versuchte, verschiedene Möglichkeiten umzukehren und zu kombinieren, und musste schließlich zugeben, dass Archie tatsächlich ein Passwort gewählt hatte, das sie nicht so leicht erraten konnte.

Sie starrte den Computer an, als ob er schuld wäre. Es gab noch eine letzte Möglichkeit, obwohl sie sie noch nie zuvor mit einem Computer ausprobiert hatte. Aber war das nicht einfach nur eine andere Art von Schloss? Sie schloss die Augen und dachte einen Moment nach, dann sagte sie:

Ich muss chatten, also logg mich ein.

Gib mir das Passwort, dann kann ich rein!"

Der Computerbildschirm wurde blau, und dann ratterte, zischte und starb die Maschine ab. Alexandra starrte verblüfft.

Der Computer ließ sich nicht neu starten, obwohl er jedes Mal zu zittern schien, wenn sie ihre Hände auf den Netzschalter oder die Tastatur legte.

Frustriert stöhnend stapfte sie ein wenig durch das Haus und versuchte, sich eine andere Möglichkeit auszudenken, Brian zu kontaktieren, ohne seine Mutter zu beachten, und kam dann auf die naheliegende Idee – sie würde einfach zu seinem Haus gehen. Mit etwas Glück würden er oder Bonnie sie draußen sehen, wenn sie nur vermeiden konnte, von Mrs. Seabury entdeckt zu werden.

Sie packte genug Mittagessen für alle drei ein (Sandwiches, Chips, Kekse und zuckerhaltige Orangengetränke, die als Fruchtsaft getarnt waren) und wartete dann noch ein wenig auf den Anruf, den ihre Mutter machen würde. Als Claudia aus dem Krankenhaus anrief, sagte Alexandra, sie sei gelangweilt und würde ein Nickerchen machen.

„Du könntest deine Zeit mit Lesen verbringen", schlug ihre Mutter vor.

„Als ob ich sonst etwas zu tun hätte!", antwortete Alexandra. „Kann ich wenigstens mit Brian telefonieren?"

„Nein, wenn du mit ihm redest, hast du ihn bald überredet, vorbeizukommen, und du hast Hausarrest. Vielleicht hilft dir etwas Langeweile dabei, dich zu zügeln und nicht mehr alles zu tun, was dir in den Sinn kommt, ohne über die Folgen nachzudenken. Ich muss los, da ist ein Patient, der – oh, verdammt!" Und Mrs. Green legte auf.

Fragen kann ja nicht schaden, dachte Alexandra und schlich zur Hintertür hinaus, nur für den Fall, dass einer ihrer neugierigen Nachbarn zusah.


Die Seaburys wohnten in einem Haus die Straße hinunter, das dem der Quicks sehr ähnlich war, außer dass Mrs. Seabury den ganzen Tag zu Hause blieb (Mr. Seabury leitete ein Lagerhaus für die Verteilung von Mineralwasser) und stolz auf ihren Rasen und Garten war. Die Vorderseite ihres Hauses sah viel schöner aus als der unkrautüberwucherte Rasen vor Alexandras Haus, der froh sein konnte, wenn er zweimal im Sommer gemäht wurde.

Alexandra konnte Mrs. Seabury auf ihrer Veranda mit einem Nachbarn sprechen sehen, also duckte sie sich hinter ein paar Büsche, die sie verbargen, bis sie den Garten hinter dem Haus der Seaburys erreichte. Sie brauchte nur einen Moment, um über den kleinen Maschendrahtzaun zu springen. Brians Garten hinter dem Haus war nicht ganz so gepflegt wie der davor, da er für die Nachbarn nicht so gut sichtbar war. Es gab ein kleines Plastikplanschbecken, in dem sie und Brian gespielt hatten, als sie jünger waren. Jetzt benutzte es nur noch Bonnie, aber keiner von beiden war jetzt hier.

Anders als Alexandras Schlafzimmer war Brians im Erdgeschoss. Alexandra schlich über den Hof zum Fenster seines Zimmers und klopfte leicht daran. Nach ein paar Augenblicken zog Brian die Jalousien hoch, um darunter hervorzuschauen. Er sah überrascht aus (wenn auch nicht sehr), Alexandra draußen zu sehen.

„Mach das Fenster auf!", flüsterte sie laut. Brian sah über seine Schulter und schob mit etwas, das wie ein Seufzer klang, das Fenster hoch, so dass nur noch ein Sichtschutz zwischen ihnen war.

„Hast du keinen Hausarrest bekommen?", fragte er.

„Doch, aber ich muss mein Armband finden", sagte sie, als ob Hausarrest keine Bedeutung haben würde. Sie hielt ihr nacktes Handgelenk hoch. „Du weißt schon, das goldene, das ich dir gezeigt habe –"

„Das du aus dem Schrank von deiner Mutter genommen hast", sagte er und in seiner Stimme schwang ein leicht missbilligender Unterton mit. Aber Alexandra bemerkte es entweder nicht oder tat so, als ob es nicht so wäre.

„Ja. Jedenfalls muss ich es irgendwo am Teich verloren haben. Ich hoffe, es ist nicht runtergefallen, als ich durch Old Larkin zurückkam –" Sie stockte einen Moment, dachte über diese schreckliche Möglichkeit nach, wohl wissend, dass sie es in diesem Fall mit ziemlicher Sicherheit nie wieder sehen würde. „Also, kannst du mitkommen und mir bei der Suche helfen?"

Brian starrte sie an. „Du hast gerade Hausarrest bekommen und willst ihn ignorieren und dahin zurückkehren?"

„Ich muss dieses Armband unbedingt finden." Sie senkte ihre Stimme wieder zu einem Flüstern. „Ich glaube, es könnte meinem Vater gehört haben."

Brians Gesichtsausdruck war ernst, als er sie ansah. Alexandra sprach nicht viel mit ihm über ihren Vater, aber er wusste, dass sie schon lange davon besessen war, mehr über ihn zu erfahren.

„Es sieht nicht wie ein Männerarmband aus", sagte er.

Sie verdrehte die Augen. „Ich meine, ich glaube, mein Vater hat es vielleicht meiner Mutter gegeben. Kommst du mit oder nicht?"

„Aber du hast Hausarrest!"

„Na ja, du hast doch keinen, oder?"

„Ich werde Hausarrest kriegen, wenn ich mit dir zum Old Larkin Pond zurückgehe! Meine Eltern haben mich angeschrien, weil ich mit dir dorthin gegangen bin und Bonnie mitgenommen habe. Du hättest nicht nach Einbruch der Dunkelheit dort bleiben sollen. Es hätte etwas passieren können!" Sein Ton war anklagend und Alexandra war verärgert, dass er so sehr wie ihre Mutter klang.

Es hätte etwas passieren können!", ahmte sie ihn mit hoher, sarkastischer Stimme nach. „Nun, es ist nichts passiert, außer dass ich mein Armband verloren habe."

Alexandra log ihre Mutter und ihren Stiefvater unbesorgt an, aber dies war wahrscheinlich das erste Mal, dass sie Brian offen belogen hatte. Obwohl sie sich deswegen ein wenig schuldig fühlte, hatte seine Abneigung, sie zu begleiten, jeden Gedanken daran verdrängt, ihm von den Rotkappen zu erzählen. Sie wollte ihr Armband zurück und sie brauchte Hilfe, es zu finden, und das war alles, was zählte. Erst später würde sie es bereuen.

Brian wirkte immer noch unbeeindruckt, also setzte sie all ihre Überzeugungskraft ein. Sie beugte sich näher, bis ihr Gesicht fast den Sichtschutz berührte, und warf Brian ihren ernsthaftesten Blick zu. „Ich brauche wirklich deine Hilfe. Es könnte irgendwo zwischen hier und dem Teich sein, und ich… ich möchte nichts verlieren, das von meinem Vater stammen könnte. Biiiitte?"

Brian wirkte immer noch widerstrebend, aber Alexandra konnte sehen, wie sein missbilligender Gesichtsausdruck ins Wanken geriet, und wusste, dass sie bereits gewonnen hatte. „Wenn ich meiner Mutter sage, dass ich nach draußen gehe, muss ich Bonnie wieder mitnehmen", sagte er. „Und wenn sie rauskriegt, dass ich mit dir irgendwo hingegangen bin, besonders nach Old Larkin oder zum Teich, dann krieg' ich Hausarrest!"

„Dann erzähl es ihr nicht", sagte Alexandra ungeduldig. Brian sollte mitkommen, und sie interessierte sich nicht für die Einzelheiten, wie er das mit seiner Mutter ausgehandelt hatte. Sie ignorierte die Schuld und Bedenken in seinen Augen und hielt die Tasche hoch, die sie gepackt hatte. „Ich hab schon Mittagessen für uns."

Brians Schultern sackten ein wenig zusammen. „Okay, okay", murmelte er. „Bonnie und ich sind gleich unten im Park an der Ecke. Wir treffen uns dort. Pass auf, dass meine Mutter dich nicht sieht …" Aber Alexandra winkte bereits, als sie über den Zaun um Brians Garten sprang und die Straße hinunterging.


Alexandra saß auf dem Metallkarussell im Park und schleifte ihre Füße durch den Sand, während sie auf Brian und Bonnie wartete. Sie hatte sich bereits eine Packung Oreos herausgeholt und knabberte daran, als mehrere andere Kinder über den Rasen zu den Spielgeräten wanderten. Billy Boggleston hielt inne, als er Alexandra dort sitzen sah. Sie nahm ruhig noch einen Bissen von einem Oreo und beobachtete, wie er überlegte, ob er weitergehen oder einen Ausweg finden sollte, um sie zu umgehen. Er war mit seinen Freunden unterwegs, also wollte er nicht den Eindruck erwecken, Angst vor ihr zu haben, aber sie wusste, dass er sich noch daran erinnerte, wie ihm Würmer aus der Nase gespritzt waren. Die Wahrheit war, sie hatte keine Ahnung, wie sie das geschafft hatte, aber sie hatte keine Angst vor Billy Boggleston. Sie hatte vor niemandem Angst.

Billys Freunde lachten auf diese unangenehme Art, wie Jungen es tun, wenn sie dreckige Witze über jemanden machen, und Billy zwang sich ein Grinsen aufs Gesicht, als sie vom Rasen in den Sand gegenüber von ihr traten.

„Schau mal, wer da ganz allein ist wie immer. Wie ist das so, ohne Freunde?"

„Wie ist es so, Würmer zu rotzen?", antwortete sie. Billy wurde etwas rot, während seine Freunde lachten, als hätte sie etwas Unsinniges gesagt.

„Hey, sie hat Kekse", sagte einer der Jungen, die bei Billy waren, und stampfte über den Sand auf sie zu. Alexandra betrachtete den Jungen interessiert, während Billy schluckte und versuchte, seine Nervosität zu verbergen. Der andere Junge streckte seine Hand aus. „Gib mir einen", höhnte er und forderte sie auf, abzulehnen.

„Sicher", sagte sie und reichte ihm einen Keks.

Überrascht und ein wenig misstrauisch wegen ihrer sofortigen Kapitulation betrachtete der größere Junge den Keks und steckte ihn sich dann in den Mund. Er begann mit selbstgefälliger Miene darauf herumzukauen, drehte sich um, um über die Schulter zu Billy und den anderen Jungen zu blicken, und dann verwandelte sich sein Gesichtsausdruck in einen entsetzten. Er krümmte sich, würgte und spuckte einen Mundvoll Würmer aus.

„Du hättest ihn warnen sollen", sagte sie zu Billy, der jetzt nervöser von einem Fuß auf den anderen trat.

Der Junge, der den Keks verlangt hatte, hustete und spuckte und versuchte, sich nicht zu übergeben. Die anderen Jungen sahen mit gemischten Ausdrücken aus Faszination und Ekel zu. „Wie hat sie dich dazu gebracht, Würmer zu essen, Tom?", fragte einer von ihnen.

Tom stand auf, seine Augen tränten und er sah wütend aus. „Du... hast... mich... ausgetrickst!", stammelte er, während er weitere Stücke von Würmern ausspuckte. Er sah ein bisschen grün aus.

„Dann frag das nächste Mal nett", antwortete Alexandra süß.

„Gehn wir. Lass das kleine Monster hier ganz allein sitzen, wo es hingehört", sagte Billy, aber Tom wollte nicht weggehen.

„Keine Ahnung, wie du das gemacht hast", sagte er und griff nach ihr, „aber jetzt mach ich –"

Was auch immer er machen wollte, es geschah nie. Tom erwartete, dass Mädchen schreien, sich ducken oder weglaufen würden, wenn ältere Jungen sie bedrohten. Alexandra trat ihm gegen die Kniescheibe, und als er schrie und sich krümmte, um sein Knie zu umklammern, stand sie auf und trat ihm gegen die andere Kniescheibe. Während er vor Schmerzen schrie, stieß sie ihn so fest, dass er nach hinten kippte. Er landete schwer im Sand und zog beide Knie an seine Brust. „Sie hat mich getreten!", schrie er ungläubig. Die Positionen von Mobber und Opfer waren auf schreckliche Weise vertauscht worden, und seine Welt war in Verwirrung geraten.

Alexandra trat ihm Sand ins Gesicht. „Hau ab, oder ich trete dich nochmal, und alle deine Freunde können zuschauen, wie du von einem Mädchen verprügelt wirst!", verkündete sie. Sie starrte Billy Boggleston finster an. „Willst du noch mehr?" Sie musterte jeden seiner Freunde mit demselben furchtlosen Blick. Billy erschrak. Die anderen Jungen waren nicht ganz so verängstigt, aber keiner von ihnen sah aus, als ob er sein Glück versuchen wollte. Der Versuch, das einsame Mädchen auf dem Spielplatz einzuschüchtern, hatte sich als gar nicht so lustig herausgestellt.

Tom stand schwankend auf und ging ein paar Schritte von Alexandra weg. „Du bist irre! Du bist krank!", knurrte er und spuckte nun Sand und Wurmstückchen aus.

Alexandra setzte sich wieder hin und aß weiter ihre Oreos, während Billy und seine Freunde (außer Tom, der hinkte) weggingen und sie über die Schulter hinweg noch schlimmer beschimpften.

Sie merkte erst, dass Brian und Bonnie zugeschaut hatten, als sie zu ihr aufs Karussell kamen.

„Das hättest du nicht tun sollen", sagte Brian leise.

„Das war cool!", rief Bonnie. Sie schwang ihren Fuß nach vorn und imitierte Alexandras wilden, kniescheibenlahmlegenden Tritt, und Alexandra lächelte, aber ihr Lächeln verblasste ein wenig bei Brians Gesichtsausdruck. Sie wusste, dass er nicht über den Tritt gesprochen hatte.

„Er hat es verdient. Man sollte meinen, nach dem, was ich Billy letztes Mal angetan habe, hätte er –"

„Vergiss es", sagte Brian schnell, und Alexandra erkannte mit einem plötzlichen Anflug von Verständnis, dass er in Bonnies Gegenwart nicht über Magie reden wollte. Seine jüngere Schwester hatte gewusst, dass sie zum Old Larkin Pond gingen, um eine Najade zu sehen, aber, das wurde Alexandra jetzt klar, Brian hatte nie wirklich erwartet, eine zu sehen. Er hatte ihr den Gefallen getan. Magische Kreaturen waren etwas Fantastisches und Unwahrscheinliches, das man ins Reich der Fantasie verbannen konnte. Aber was Alexandra tun konnte, war real, und Brian wollte nicht, dass Bonnie es sah.

„Okay", sagte sie, nicht sicher, warum sie sich plötzlich unglücklich fühlte.

Sie gab Brian und Bonnie Sandwiches und Trinkflaschen und sagte dann: „Irgendwo zwischen hier und Old Larkin Pond habe ich mein Armband verloren. Also gehen wir den Weg zurück, auf dem ich vorgestern Abend nach Hause gekommen bin. Schau auf dem Boden nach oder wo auch immer es hingerollt sein könnte, okay?"

Bonnie nickte eifrig und nahm einen Schluck aus ihrer leuchtend orangefarbenen Flasche, aber Brian sagte: „Wenn du es irgendwo auf der Straße fallen lassen hast, kann es doch nicht sein, dass jemand ein goldenes Armband nicht mitgenommen hat."

„Vielleicht könntest du im Fundbüro nachschauen", schlug Bonnie vor. „Oder du könntest deinen Vater fragen, ob es jemand bei der Polizei abgegeben hat."

„Archie ist nicht mein Vater", murmelte Alexandra und stand auf, weil sie nicht zugeben wollte, dass Brians Pessimismus wahrscheinlich berechtigt war.


Sie sahen nirgendwo auf den Straßen oder Gehwegen ein goldenes Armband liegen, als sie Alexandras Weg von der Sweetmaple Avenue bis zum Stadtrand zurückverfolgten. Sie wurden langsamer, als sie über die unbefestigten Grundstücke und Felder zwischen Old Larkin und der Highway-Unterführung marschierten. Alexandras Augen huschten hin und her und schauten in jedes Loch und jedes Büschel Unkraut, während Brian und Bonnie kreuz und quer neben ihr hergingen.

Auf der anderen Seite der Interstate war das Gras höher, und dann wanderten sie durch Unterholz und lichte Wälder zurück, und Alexandra presste die Lippen zusammen, als ihr klar wurde, wie groß das Gebiet war, das sie absuchen mussten, und wie leicht es sein würde, dass ein kleines goldenes Armband irgendwo abrutschte, wo es ungesehen blieb, selbst wenn sie direkt darübergingen. Die Entfernung vom Old Larkin Pond zu ihrem Haus betrug wahrscheinlich nicht mehr als anderthalb Meilen, aber es waren anderthalb Meilen voll von unendlich vielen Verstecken. Vorausgesetzt, sie hatte es nicht, wie Brian vermutet hatte, in der Stadt verloren. Aber das glaubte sie nicht. Sie dachte, sie hätte es verloren, als sie die Rotkappen am Teich abwehrte.

Sie waren verschwitzt und hatten Juckreiz, als sie den Old Larkin Pond erreichten. Sogar Bonnie hatte viel von ihrer Begeisterung verloren und musterte nicht mehr jeden Quadratfuß auf ihrem Weg mit solcher Sorgfalt. Der Teich war immer noch träge und mit Schlamm bedeckt. Brian rümpfte ein wenig die Nase, hatte aber nichts dagegen, sich hinzusetzen und die Chips und die restlichen Kekse auszupacken, um sie zu teilen.

„Ich bin genau hier gelegen", sagte Alexandra und zeigte auf die Stelle, an der sie eingeschlafen war, und bildete sich ein, sie könne noch, gerade so, eine Vertiefung im Gras erkennen. Sie ging auch ein wenig besorgt um die Stelle herum, bevor sie sich hinsetzte, sah aber weder ihr Armband noch andere Spuren, wie etwa Fußabdrücke von zu kleinen Stiefeln.

„Dann hast du dein Armband wahrscheinlich in der Nähe verloren", schlug Bonnie hoffnungsvoll vor. Sie stand wieder auf, um die Gegend zu überprüfen, und Brian sagte scharf: „Bonnie! Geh nicht ans Teichufer, sonst fällst du rein!"

Bonnie sah ihren großen Bruder entnervt an. „Ich bin doch kein Baby!", sagte sie langsam und hochmütig. „Ich fall nicht rein." Und dann sah sie auf das Wasser und schnappte nach Luft. Sie zeigte aufgeregt. „Da ist es!"

Alexandra war sofort auf den Beinen, schnell gefolgt von Brian. Bonnie schlich sich näher ans Wasser. „Es ist genau da! Es liegt genau da im Schlamm!", kreischte sie aufgeregt, und Alexandra konnte es sehen, einen kleinen goldenen Reif, der nur halb im Schlamm vergraben war, im seichten Wasser, in das sie in dieser Nacht gefallen war. Ihr Herz machte einen Sprung, und sie rannte und hüpfte vorwärts, während sie begann, ihre Turnschuhe auszuziehen, um in den Teich zu waten. Bonnie beugte sich über das Wasser, als das Armband vom Ufer aus fast, fast in Reichweite war, und dann sah Alexandra ein schreckliches, hässliches Gesicht unter der Oberfläche, kurz bevor etwas Grünes und Schleimiges aus dem Wasser schoss, Bonnie packte und sie in den Teich zog.