Prolog

Konfrontiert mit der Kälte der Berliner Wintermorgenluft, zog Lisa Seidel, geborene Plenske, ihre Winterjacke enger an ihren Körper, während sie durch den Berliner Flughafen schlenderte und ihren schweren Koffer hinter sich herzog – genauso wie das schwerwiegende Gepäck, das sich als ihre Vergangenheit bezeichnen ließ. Ihr Blick fokussierte sich ausschließlich auf den Weg vor ihr, um Zusammenstöße zu vermeiden, was bei ihrer tollpatschigen Art dringend notwendig war. Die lauten Geräusche des Stimmenmeers und das Klappern der Koffer hielten sie davon ab, in einen ihrer Tagträume zu versinken.
Mit jedem Schritt in Richtung Ausgang schien sie auch einen weiteren Schritt in Richtung Vergangenheit zu machen. Hier in Berlin hatte sie so viel erlebt, nicht nur Gutes. Es schien, als hätte sie hier ihr Glück gefunden, auch wenn sie sich da jetzt nicht mehr so sicher war wie noch vor ein paar Jahren. Acht Jahre waren vergangen, seit sie David Seidel geheiratet hatte und dafür Rokko vor dem Altar stehen ließ, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, welche Folgen das haben könnte oder wie sich Rokko dabei fühlen würde. Dafür hatte sie schon viel zu lange für ihren Traum gekämpft, die Frau an Davids Seite zu werden. Genau das war es gewesen – ein Traum, nur leider nicht die Art von Traum, die sie sich erhofft hatte. Nicht die Art von Traum, bei der man sich nach dem Aufwachen denkt, man hätte gerne noch länger geträumt. Vielmehr war es einer dieser Träume, bei denen man schweißgebadet hochschreckt und zuerst nicht glauben kann, welches Glück man doch hatte, dass es nicht real war. Nur leider war dieser Traum in ihrem Fall real.
Als Lisa schließlich am Ziel, dem Flughafenausgang, ankam und sich von dem Taxifahrer helfen ließ, ihr Gepäck im Kofferraum zu verstauen, wusste sie – jetzt gab es kein Entkommen mehr. Jetzt musste sie der Wahrheit ins Auge blicken und mit den Konsequenzen leben, die ihre Entscheidungen hervorgerufen hatten. Als Lisa dem Taxifahrer die Adresse ihrer Eltern in Göberitz mitteilte, ließ sie schließlich doch zu, dass ihre Traumwelt sie einholte. So träumte sie, während sie durch das Autofenster sah und die Umgebung an ihr vorüberzog, von ihrem Leben, wie es hätte sein können, hätte sie an diesem schicksalhaften Tag nur anders gehandelt.