Das letzte Duell


Der Anwalt – Jean Le Coq:

Die von zahllosen gestiefelten Füßen, Hufen und Karrenrädern zertrampelte Grasnarbe hatte sich schon vor Tagen in einen unansehnlichen lehmigen Matsch verwandelt. Starke Regengüsse hatten den schlammigen Boden zusätzlich aufgeweicht und ein Meer aus flachen Pfützen hinterlassen. Doch über Nacht hatte der Winter endlich Einzug gehalten und mit seinem frostigen Atem das ganze Areal mit einer dünnen Eisschicht überzogen.

Maître Jean le Coq, der über den unebenen rutschigen Grund stakste wie ein langbeiniger Storch durch einen mit Fröschen bevölkerten Teich, blieb stehen und zog fröstelnd den Umhang enger über seiner mageren Hühnerbrust zusammen. Weder der mit einem flauschig-soliden Lammfell gefütterte Tuchstoff noch das dicke wollene Wams darunter verhinderten, dass die Kälte bis in seine Knochen hinein zu kriechen schien. Er sah zu dem mit schweren grauen Wolken verhangenen Himmel hinauf, der mit dem bereits verspäteten ersten Schnee drohte, und seufzte.

Dezember!, dachte er missmutig. Was für eine gottlose Zeit, um dieses vermaledeite Duell abzuhalten. Dieses Wetter! Und dann auch noch ausgerechnet zwischen Weihnachten und dem Dreikönigstag. Kein Wunder, dass der Bischof getobt hat. Aber der König muss ja immer seinen Kopf durchsetzen...

Denn Charles VI. hatte darauf bestanden, bei dem Duell anwesend zu sein – er und seine komplette Familie und der gesamte Hofstaat und gefühlt ganz Paris noch dazu. Und da er sich noch vor kurzem auf einem der endlosen Feldzüge in Flandern befunden hatte, war der bevorstehende tödliche Zweikampf, der jetzt schon eine Legende war und den der junge König daher auf keinen Fall verpassen wollte, auf ein für ihn bequemeres Datum verschoben worden, also auf diesen trüben Dezembertag – ganz egal, was Pierre d'Orgemont, der Bischof von Paris, dazu zu sagen hatte. Und der Bischof hatte eine ganze Menge dazu zu sagen. Er hatte unter anderem empfohlen, den Kampf erst im nächsten Jahr stattfinden zu lassen, am besten Ende März, damit man sowohl die milderen Temperaturen der ersten Frühlingstage als auch die gesteigerte Bußfertigkeit in der Fastenzeit so kurz vor Ostern für einen eher kontemplativen Seelenzustand aller Beteiligten nutzen konnte. (Der sensationslüsterne Tumult rund um das Duell missfiel dem Bischof sehr!) Außerdem vertraute d'Orgemont wohl darauf, dass die Kontrahenten bis dahin wieder zur Vernunft kamen und sich doch noch auf eine etwas weniger blutige Weise einigten.

Aber der König hatte sich nicht für diesen Vorschlag erwärmen können. Der skandalträchtige Prozess, den der erbitterte Streit zwischen Seigneur Jean de Carrouges und seinem langjährigen Intimfeind Jacques Le Gris verursacht hatte, hatte seit dem Sommer überall Aufsehen erregt. Inzwischen wartete halb Frankreich mit angehaltenem Atem auf den Ausgang dieses Verfahrens, das auf ausdrücklichen Wunsch des Klägers hin per Gottesurteil entschieden werden sollte, weil er offenbar keine andere Möglichkeit mehr sah, zu seinem Recht zu kommen. Diese üble Affäre, die so hohe Wellen geschlagen hatte, musste endlich zum Abschluss gebracht werden. Und der König konnte beim besten Willen nicht einsehen, warum man damit noch länger warten sollte, zumal der Beklagte sofort sein Einverständnis erklärt hatte, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern (und das aus Gründen, die nicht nur seinem Anwalt Maître Le Coq völlig schleierhaft waren!).

Außerdem stand zu befürchten, dass die beiden betroffenen Herren sich ohnehin gegenseitig an den Kragen gehen würden, wenn man sie weiter in ihrem eigenen Saft schmoren ließ, und das ganz ohne offizielle Erlaubnis des Königs oder Segen der Kirche oder sonst was.

Jean de Carrouges war bekanntermaßen ein Hitzkopf und jederzeit dazu bereit, das auszuüben, was er für Gerechtigkeit hielt – notfalls eben auch mit seinem Schwert oder mit seinen Fäusten oder mit jedem x-beliebigen anderen Mordinstrument, wenn das Gesetz ihn weiterhin im Stich ließ. Und obwohl sein Gegenspieler generell über ein etwas ruhigeres Naturell verfügte, kochte mittlerweile auch er sozusagen auf kleiner Flamme vor sich hin. Neuerdings neigte er sogar selber dazu, gelegentlich die eine oder andere blutrünstige Drohung auszustoßen. (Le Coq war des öfteren dabei gewesen, wenn das vorgekommen war – was seine Sorge um seinen Mandanten übrigens nicht gerade zu einer leichteren Bürde gemacht hatte.)

Und so war es gekommen, dass man trotz aller salbungsvollen Worte von Bischof d'Orgemont und seiner zuerst milden, aber dann zunehmend verschärften Empörung den Tag des Gottesurteils auf den 29. Dezember 1386 festgesetzt hatte, also mitten in dieser heiligen Zwölf-Tage-Frist, die normalerweise durch Frieden und sogar im Kriegsfall durch Waffenruhe gekennzeichnet war. Und heute war es endlich so weit...

Die klirrende Kälte schien Le Coq von Kopf bis Fuß mit einer Raureifschicht zu überziehen. Er beschloss weiter zu gehen, bevor er hier festfror – oder bevor er den Mut verlor. Auf die Auseinandersetzung, die ihm jetzt bevorstand, hätte er nur zu gerne verzichtet, aber er war es seinem Gewissen schuldig, seinen widerspenstigen Klienten noch einmal aufzusuchen und ihm ein allerletztes Mal gut zuzureden. Auch wenn er keinen Sinn mehr darin sah – schon lange nicht mehr. (Wenn Junker Le Gris irgendwas war, dann eigensinnig!) Aber er musste es wenigstens versuchen...

Also setzte er sich wieder in Bewegung. Er umrundete eine größere und sichtlich spiegelglatte Eisfläche und tappte unsicher auf einen der mit bunten Wimpeln geschmückten Pavillons zu, die man auf einer Wiese direkt neben den Mauern der Abtei von Saint-Martin-de-Champs im Norden von Paris errichtet hatte. Es waren erstaunlich viele Zelte, große und kleine, prachtvolle und eher bescheidene. Es war beinahe so, als sollte heute ein richtiges Turnier mit vielen Teilnehmern stattfinden, eine fröhliche Kombination aus Melées, Ringelstechen und Lanzengängen. Und die Stimmung war entsprechend ausgelassen.

Es herrschte ein munteres Treiben auf dem weitläufigen Platz. Edelleute in kostbaren pelzverbrämten Gewändern aus farbenprächtigen Samten und Brokaten und niederes Fußvolk in viel schlichterem und eintönigeren Zeug aus Wolle und Leinen wimmelten durcheinander, Hunde bellten wie eine aufgescheuchte Jagdmeute, die Wild gewittert hatte, und Pferde, die einzeln oder in kleine Gruppen an Pfählen festgebunden waren, wieherten und tänzelten unruhig umher, so weit es ihre Zügel und Haltestricke erlaubten. Der Lärm war beträchtlich und es war nicht zu übersehen, dass die überall herumgereichten Bierkrüge dazu beitrugen.

Sie sind jetzt schon alle betrunken. Oder sie werden es bald sein. Also wirklich! Als ob das hier ein Jahrmarkt wäre...

Diese Volksfest-Atmosphäre war äußerst unangemessen, wenn man den Ernst der Situation bedachte. Le Coq zog mit einem missbilligenden Schnüffeln die eisige Luft durch seine lange dünne Nase, die dank ihrer schnabelartigen Form ebenfalls vage an einen Storch erinnerte. Er betrachtete das Banner, das man neben dem Eingang seines Ziels aufgespießt hatte. Es zeigte einen Raben auf einem weißen Feld über einer sechsfach gewundenen Schlange auf einem grünen Feld. Es war kein sehr vertrauenerweckendes Wappen, wie er fand. Er zögerte noch einen Moment lang, dann griff er energisch nach der überhängenden Lederflappe, die den Zelteingang nicht wirklich gegen den gnadenlos eisigen Wind abschirmte, zog sie zur Seite und trat ein.

Jacques Le Gris stand mit dem Rücken zu ihm, als er hereinkam – ein breitschultriger Monolith in einem Plattenpanzer –, wirbelte aber so schnell zu ihm herum, als fürchtete er sogar jetzt noch die Attacke eines bezahlten Meuchelmörders. (Es hatte in den letzten Wochen einige Vorfälle dieser Art gegeben. Ein halbes Dutzend Vettern von Marguerite de Carrouges hatten dem angeblichen Schänder ihrer Base mit genauso viel Eifer Rache geschworen wie ihr jähzorniger Ehemann, doch im Gegensatz zu ihm schienen die ebenfalls erzürnten normannischen Seigneurs nicht mehr die Geduld aufzubringen, auf das Duell oder vielmehr seinen ungewissen Ausgang zu warten. Zwei von ihnen hatten die Sache selbst in die Hand genommen und den vermeintlichen Schurken auf dem Weg zu einem seiner vielen Kirchgänge überfallen. Die anderen hatten sich damit begnügt, ein paar Halsabschneider anzuheuern, die den Junker für sie ins Jenseits befördern sollten. Dank der Wachsamkeit von Le Gris' jeweiliger Eskorte waren diese Scharmützel allerdings ohne Erfolg gewesen – bis jetzt!)

„Ah... Ihr seid es nur", sagte er ohne großen Enthusiasmus, als er seinen Besucher in dem trüben flackernden Licht der beiden Öllampen erkannt hatte, die an Ketten von den Stützpfosten herunterbaumelten. Es war überraschend dunkel in dem Zelt.

Nur?!, dachte besagter Besucher säuerlich.

Doch seiner mangelnden Begeisterung zum Trotz setzte Le Gris nun ein schmales, nicht wirklich herzliches Lächeln auf, das die kraftvollen Zähne in dem schwarzen Gekräusel seines Barts kurz aufblitzen ließ. Er winkte den Gast näher.

„Na, nun kommt schon her, Maître. Setzt Euch da drüben hin und wärmt Euch ein wenig auf." Er deutete auf die beiden mit zottigen Bärenfellen ausgepolsterten Lehnstühle, die links und rechts neben einem großen kupfernen Holzkohlebecken standen. „Ihr könnt es ja wenigstens versuchen, obwohl Ihr Euch wahrscheinlich mit Eurem Hintern in die Glut selbst hineinsetzen müsstet, um überhaupt etwas davon zu spüren. Bei allen Heiligen! An einem Tag wie heute sehnt man sich fast nach dem Fegefeuer."

Er gab ein kurzes bellendes und völlig humorloses Lachen von sich, das die Blasphemie, die er gerade von sich gegeben hatte, eher noch unterstrich als sie abzumildern, bevor er sich wieder dem Burschen zuwandte, der vor ihm niedergekniet war, um die Schnallen seiner Beinschienen festzuzurren.

Le Coq folgte dieser Einladung nur zu gerne und ließ sich auf einem der Stühle nieder, wobei er zu seinem Leidwesen schnell feststellte, dass sein Gastgeber Recht hatte: Das Kohlebecken produzierte wirklich mehr Rauch als Hitze.

„Und nehmt Euch von dem Wein da. Ihr könnt einen ordentlichen Schluck jetzt bestimmt gut gebrauchen. Und immerhin wisst Ihr diesen edlen Tropfen zu schätzen... was nicht auf alle zutrifft, die ich heute Morgen schon bewirtet habe."

Der Anwalt nahm gehorsam den Tonkrug auf, der auf dem niederen Tischchen zwischen den Stühlen stand, und füllte den einzigen leeren Zinnbecher, den er dort fand. Die anderen drei Becher, die rings um den Krug gruppiert waren, wiesen noch eine Neige auf, die verriet, dass sie vor kurzem benutzt worden waren.

„Ja, ja, stärkt Euch nur", sagte Le Gris, der sich wieder zu ihm umgedreht hatte, leutselig. „Das ist Rotwein aus Beaune, ein echter 1368er. Ein sehr seltener Jahrgang, aber hervorragend. Das war wirklich ein gutes Jahr für Wein – und für die Pest! Eine Farbe wie ausgespucktes Lungenblut, ja, aber ein Duft wie Ambrosia. Und dieser Geschmack erst... eindeutig ein Vorgeschmack auf das Paradies! Ich sage Euch, der geht runter wie Honigseim."

Maître Le Coq war nicht unbedingt erfreut über diese Anspielung auf die letzte große Pestwelle, die über Europa hinweg gerollt war und weite Landstriche völlig entvölkert zurückgelassen hatte (und er wollte lieber nicht wissen, was aus den Händen geworden war, die in jenem Herbst diese Trauben geerntet und gekeltert hatten!) Aber er sah großmütig über die makabere Bemerkung hinweg. Dass sein Mandant sich in einer etwas morbiden Gemütsverfassung befand, war durchaus verständlich. Und so verkniff er sich einen bissigen Kommentar und gönnte sich stattdessen lieber eine winzige Kostprobe. Er nickte beifällig, als die ersten aromatischen Tropfen seinen tatsächlich sehr erfahrenen und sogar ziemlich verwöhnten Gaumen passiert hatten. Er schnalzte genießerisch mit der Zunge und gönnte sich gleich noch ein Schlückchen.

Dieser Anblick erweckte offenbar auch Le Gris' Durst zu neuem Leben, denn er griff nach einem schimmernden silbernen Pokal, der auf einem Taburett neben ihm abgestellt war, und trank ihn in einem Zug leer. Danach winkte er herrisch einen anderen Burschen herbei, einen sehr jungen Diener, der bis jetzt in einer besonders dunklen Ecke ein wenig ziellos in einer offenen Reisetruhe herum gewühlt hatte, und ließ sich nachschenken. Der Maître sah mit milder Unruhe dabei zu, wie auch dieser Trunk sofort hinunter geschüttet wurde. Und das war noch nicht das Ende...

„Mehr!", befahl der Junker und der kleine Mundschenk gehorchte.

Ach du meine Güte! Er sollte sich wirklich ein bisschen mehr am Riemen reißen. Wenn irgendjemand jetzt einen klaren Kopf bewahren sollte, dann er, dachte Le Coq. Aber vielleicht würde ein kleiner Rausch seinen Mandanten ja etwas nachgiebiger machen. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt...

„Eines muss man den Burgundern wirklich lassen. Sie haben den besten Wein weit und breit. Und sie sind großzügig damit. Ich habe gehört, dass Herzog Philippe dreißig Fässer davon mitgebracht hat und sie dem König geschenkt haben soll. Ich weiß nicht, ob das nur ein Weihnachtsgeschenk war oder eine Belohnung für seine tatkräftige Hilfe bei der Zähmung dieser verdammten flämischen Pfeffersäcke. Vielleicht war es auch beides – Philippe der Kühne ist kein Verschwender. Aber wie auch immer: Ich wette, sie werden heute Abend alle saufen wie die Mönche, wenn sie den großen Sieger feiern." Le Gris schwieg einen Moment lang, bevor er etwas gedämpfter fortfuhr: „Ich hoffe, ich kann mit ihnen feiern..."

Das war genau das Stichwort, das Le Coq brauchte.

„Das hoffen wir alle, Messire", erwiderte er ernst. „Und genau deshalb bin ich hier. Dieser Zweikampf... Ihr müsst das nicht tun."

„Oh nein! Nicht schon wieder!", murrte Le Gris und goss den Rest aus seinem Pokal hinunter.

So rüde unterbrochen, blieb dem Maître nichts anderes übrig als sich dezent zu räuspern, um anzudeuten, wie rüde das Verhalten des Junkers war. Er fixierte das anstößige Gefäß (oder vielmehr seinen allzu schnell entschwindenden Inhalt!) mit einem scharfen Blick und registrierte dabei mit nebensächlichem Interesse, dass es sich um ein recht bemerkenswertes Beispiel auserlesener Goldschmiedekunst handelte. Der glockenförmige Kelch war mit einer fein ziselierten Girlande aus Akanthusblättern und Eicheln verziert und der Schaft mit kleinen kugeligen Noppen besetzt, die aussahen wie versilberte Tauperlen. Es war ein auffallend schönes Stück.

„Hübsch, nicht wahr?", sagte Le Gris, der seiner Blickrichtung gefolgt war, aber nur Bewunderung las, wo er eigentlich Tadel hätte erkennen sollen. „Cathérine de Lavalle hat ihn mir vorhin geschenkt. Sie war direkt vor Euch da, Ihr habt sie nur um ein paar Minuten verpasst. Er soll mir Glück bringen. Ein ziemlich großer Talisman, was? Ich kann ihn nicht mal mitnehmen. Sie hätte mir lieber etwas geben sollen, das ich einstecken oder mir umbinden kann, eines ihr Strumpfbänder vielleicht oder so etwas. Aber dazu ist sie natürlich viel zu tugendhaft."

Er lachte erneut dieses freudlose gekünstelte Lachen, aber er war sichtlich geschmeichelt von der ziemlich kostspieligen Aufmerksamkeit, die ihm erwiesen worden war.

Le Coq fragte sich sofort, ob Cathérine de Lavalle trotz ihrer angeblichen Tugendhaftigkeit zu seinen zahlreichen freiwilligen Eroberungen zählte. Der Junker war immerhin weithin bekannt für seinen Erfolg in der Damenwelt. Er hatte überall als galanter Kavalier gegolten, bevor die Anklage der Carrouges seinen Ruf in Mitleidenschaft gezogen hatte (nicht endgültig ruiniert, aber immerhin ziemlich ramponiert!). Und er galt zweifellos immer noch als ein attraktiver Mann, obwohl er seine Blütezeit schon eine Weile hinter sich gelassen hatte.

Der Maître wusste nicht genau, wie alt sein Mandant war (es hatte nie ein Anlass dazu bestanden, ihn nach seinem Geburtsdatum zu fragen!), aber irgendjemand hatte ihm kurz nach seiner Anwerbung erzählt, dass Le Gris irgendwann Anfang der 1330er das Licht der Welt erblickt haben sollte, was ihn zu einem Mittfünfziger machte – also ein recht erhabenes Alter, in dem die meisten Menschen bereits als Greise betrachtet wurden. Doch mit seiner hochgewachsenen Gestalt, den kräftigen Muskelpaketen eines geübten Kriegers und Reiters, dem dichten welligen schwarzen Haar, das seinen Kopf krönte und seine markanten, gut geschnittenen Züge umrahmte, und seinen schwungvollen Bewegungen strahlte Jacques Le Gris unbestreitbar die Vitalität eines weit jüngeren Mannes aus.

Und doch ließ es sich nicht leugnen, dass die letzten Monate an ihm gezehrt hatten. Die früher so lebhaft funkelnden dunklen Augen wirkten matt und waren bläulich umschattet und die Krähenfüße, die sie umzingelten, waren viel ausgeprägter. Durch den üppigen Haarschopf zogen sich jetzt wesentlich mehr graue Fäden als zu Beginn ihrer Bekanntschaft und der breite, bewegliche Mund, der meistens ein anziehendes Grinsen gezeigt und so gerne frivole Scherze gemacht hatte, kerbte sich nun als herbe bittere Linie durch das Bartgestrüpp. Er sah mitgenommen aus, ausgelaugt – und das kaum eine Viertelstunde vor einer Konfrontation, für die er all seine Kräfte brauchen würde.

Le Coq musterte die blasse, angespannte Miene seines Gegenübers und erinnerte sich daran, dass der Mann in den letzten Tagen krank gewesen war. Nur eine kleine Erkältung mit etwas Fieber, wie es viele um diese Jahreszeit hatten, nichts Schlimmes – und vor allem nichts, was ihn von dem Duell abgebracht oder auch nur sein Wegbleiben entschuldigt hätte, wie man dem Maître ausdrücklich versichert hatte. (Und wie sehr der Anwalt vor allem letzteren Umstand bedauerte!) Aber sein Mandant hatte eine ganze Woche lang das Bett gehütet und war erst vorgestern wieder aufgestanden. Das war kein gutes Zeichen, oder?

„Warum starrt Ihr mich so an?"

„Ihr wart krank. Ich frage mich nur..."

„Krank! Bah!" Le Gris machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ein harmloser Schnupfen, nichts weiter."

Doch es musste schon ein bisschen mehr als nur ein harmloser Schnupfen gewesen sein, wenn Fieber ihn auf sein Ruhelager gezwungen hatte. Le Coq dachte an den Helm, den der Mann später tragen würde, und insbesondere an die winzigen Luftschlitze in dem engen Visier. Wie gut konnte jemand überhaupt unter so einem Visier atmen? Nicht besonders gut – nicht einmal dann, wenn er in ausgezeichneter Form war. Und was war, wenn dieser Jemand auch noch unter einer verstopften oder kontinuierlich laufenden Nase litt und deshalb ohnehin kaum Luft bekam?

„Ihr seid etwas... angeschlagen", murmelte er.

„Angeschlagen? Ich?! Mein armer kleiner Stubenhocker, man sieht, dass Ihr keine Ahnung davon habt, was das Dasein eines richtigen Mannsbildes ausmacht. Ich bin schon mit einem Pfeil in meiner Schulter in die Schlacht geritten! Könnt Ihr euch überhaupt vorstellen, was es bedeutet, mit einer Hand und ohne Schildarm kämpfen zu müssen?

Und bei Limoges hatte ich so viele Wunden, dass ich mich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Aber hat mich das etwa daran gehindert, meine Pflicht zu erfüllen? Hat es mich davon abgehalten, diesem Schwachkopf Carrouges das Leben zu retten? Nein! Er lag im Schlamm und in seinem eigenen Dreck wie ein aufgespießter Hirsch und schrie wie ein Säugling, weil dieser englische Goliath gerade dabei war, ihm den Rest zu geben, als ich ihm den Schädel gespalten habe."

Le Coq war etwas abgelenkt. (Der arme Stubenhocker hatte ihn an einem wunden Punkt getroffen – die offen zur Schau getragene Arroganz des Adels gegenüber Bürgern seines Standes hatte er schon immer als bittere Pille empfunden! Und was bitte sehr war mit richtigem Mannsbild gemeint?) Und obwohl seine Fantasie ausreichte, um sich vorzustellen, wie es sein mochte, sich einhändig verteidigen zu müssen und das ganz ohne die Deckung eines Schildes, dauerte es einen Moment, bis er wirklich erfasst hatte, dass dem englische Goliath der Schädel gespalten worden war und nicht etwa Sire Jean.

„Und heute tut dieser Halunke einfach so, als wäre das nie geschehen." Der Junker legte eine Kunstpause ein: „Wisst Ihr eigentlich, dass ich sogar der Pate seines Erstgeborenen war?"

Der Maître schüttelte stumm den Kopf.

„Eine ernste Verpflichtung, die ich nicht leichtfertig für den Sohn von jedem Hinz und Kunz eingegangen wäre. Aber für ihn habe ich es getan! Dann ist der Kleine gestorben und seine Mutter auch. Und er hat sich in meine Armen geworfen und geheult wie ein Schlosshund, als der Bote aus Capomesnil kam und er es erfahren hat. Und ich habe mit ihm geweint.

Ja, so gute Freunde waren wir früher. Wir waren Waffenbrüder... nein, viel mehr als das! Wir waren wie Milchbrüder... als hätten wir an der Brust derselben Amme gelegen. Aber das hat er alles vergessen. Undankbarer Saukerl!", trompetete er. „Herrje, ich hätte ihn einfach krepieren lassen können, damals bei Limoges. Ich wünschte, ich hätte es getan!"

Le Coq war zynisch genug, ihm beizupflichten. Wenn er etwas in den mehr als zwei Dekaden seiner Laufbahn gelernt hatte, dann das: Dankbarkeit war flüchtiger als ein schöner Traum gleich nach dem Erwachen des Schläfers. (Und das galt leider oft genug auch für die innigsten Freundschaften!)

Catull hatte ganz Recht: Omnia sunt ingrata – Undank ist der Welt Lohn, dachte er.

Von einem nüchternen, rein akademischen Standpunkt aus wäre es wirklich besser und vor allem sehr viel klüger gewesen, wenn sein Klient diesen wetterwendischen Freund und Waffenbruder seinerzeit einfach seinem Schicksal überlassen hätte. Aber da niemand die Zukunft voraussehen konnte, hatte er nun einmal den heldenmütigen Retter gemimt. Und weil dieses Abschweifen in irgendwelche Was-wäre-wenn-Gefilde sinnlos und damit eine reine Zeitverschwendung war, war es auch besser und vor allem sehr viel klüger, die Vergangenheit nun ruhen zu lassen und in die Gegenwart zurückzukehren.

Wie von unsichtbaren Fäden gezogen, fiel sein Blick auf den teuren Glücksbringer zurück, dessen Übergabe gewisse Spekulationen in ihm ausgelöst hatte.

„Dame de Lavalle muss Euch wirklich sehr gewogen sein", sagte er trocken, vielleicht auch eine Spur zu trocken.

„Ja, das ist sie. Cathérine ist eine gute Seele", erwiderte Le Gris mit bemerkenswerter Arglosigkeit. „Und treu wie Gold." Er griff mechanisch nach dem Pokal, der schon längst durch den jungen Pagen nachgefüllt worden war.

Le Coq rief sich das weiche runde rosenwangige Antlitz unter einem Kranz aus eng geflochtenen und züchtig verschleierten flachsblonden Zöpfen ins Gedächtnis, das er zuletzt in der königlichen Residenz von Vincennes gesehen hatte. Eine gute Seele? Ja, bei oberflächlicher Betrachtung vielleicht – wenn dieses sanfte keusche Madonnen-gesicht nicht von einem schmalen, ausgesprochen listig wirkenden Paar Fuchsaugen beherrscht worden wäre. Treu wie Gold? Nein, ganz sicher nicht. Jemand, zu dessen hervorstechendsten Charaktereigenschaften Loyalität zählte, ging nicht einfach hin und lieferte andere dem Henker aus.

Es war natürlich absurd, aber der Maître hatte von Anfang an eine unerklärliche Aversion gegen Cathérine de Lavalle verspürt. Und er hatte immer den Verdacht gehegt, dass sie ihre eigene Agenda verfolgte. Diese betonte Entrüstung über die vermeintliche Verdorbenheit ihrer Nachbarin! Dieser glühende Eifer, den sie an den Tag gelegt hatte, um Dame Marguerites Aussage mit einem Schlag zu entkräften und sie als skrupellose Ehebrecherin zu entlarven! Dieses unstete Flackern in diesen kühlen grünen mandelförmigen Augen, als sie ihm versichert hatte, Marguerite de Carrouges hätte sich schon seit ihrer allerersten Begegnung mit ihrem mutmaßlichen Vergewaltiger bei der Tauffeier der Crespins, einer weiteren Nachbarsfamilie, lüsternen Tagträumen hingegeben und regelrecht geplant, sich ihm bereitwillig hinzugeben, wenn sie es irgendwie ermöglichen konnte.

Das alles hatte sehr aufgesetzt gewirkt und so übertrieben wie das theatralische Getue einer drittklassigen Darstellerin bei einem Mysterien-Schauspiel. Le Coq hatte nie nachvollziehen können, was Dame Cathérine dazu bewogen hatte, sich so plötzlich und so vehement gegen eine gleichaltrige Frau zu stellen, die bis dahin offenbar ihre Busenfreundin gewesen war, mit der sie all ihre femininen Geheimnisse geteilt haben wollte. Und er hatte nie die Vermutung abschütteln können, die sich hier und jetzt zu bestätigen schien: Nämlich dass das Zeugnis, das Cathérine de Lavalle vor ihm abgelegt hatte, eine reine Gefälligkeitsaussage war, die seinem Klienten aus der Klemme helfen sollte – und höchstwahrscheinlich auch ihr selbst.

Denn was wäre geschehen, wenn Marguerite de Carrouges in dem zunehmend verzweifelten Versuch, die moralische Verkommenheit ihres Peinigers zu beweisen, ihrerseits etwas ausgeplaudert hätte, das ihre Vertraute ihr vielleicht unter dem Siegel der Verschwiegenheit ins Ohr gewispert hatte? Man konnte davon ausgehen, dass Sire de Lavalle seine Gemahlin sofort verstoßen hätte, wenn ans Tageslicht gekommen wäre, dass sie ihn betrogen hatte – aber nur, wenn sie Glück gehabt hätte. Das Gesetz war sehr nachsichtig mit gehörten Ehemännern, die Untreue mit drakonischen Strafen ahndeten – allzu nachsichtig nach Le Coqs persönlicher Ansicht. Aber mit dieser Meinung stand er so gut wie alleine da und das nicht nur unter seinen Amtskollegen.

Fast alle Vertreter des starken Geschlechts dachten und handelten so oder zumindest so ähnlich. Sie sahen sich eher als Besitzer denn als Beschützer ihres Weibsvolks – und gnade Gott der unglückseligen Frau, die sich in irgendeiner Weise gegen diesen selbstverständlichen Besitzanspruch und seine gewalttätigen Auswüchse auflehnte. Es war ein grausames Jahrhundert für das schwache Geschlecht...

Also hatte Dame Cathérine offensichtlich gleich mehrere Gründe gehabt, die Glaubwürdigkeit ihrer ehemaligen Intima zu unterminieren oder völlig zunichte zu machen. Ihr eigenes Glück stand auf dem Spiel, möglicherweise sogar ihr eigenes Leben – ganz zu schweigen von dem ihres wahrscheinlichen Liebhabers.

Aber warum auch immer sie letzten Endes diese Entscheidung getroffen hatte, sie war zu Le Coq gelaufen und hatte in einem atemlosen Redeschwall ihre Aussage gemacht. Und sie hatte darauf bestanden, obwohl der Maître ihr vor Augen geführt hatte, welche Konsequenzen das für ihre Freundin haben würde – und er hatte dabei wahrhaftig kein Blatt vor den Mund genommen. Eine falsche Anschuldigung gegen einen unbescholtenen Edelmann – und das auch noch unter Eid! – konnte nur den Tod nach sich ziehen und einen besonders unerfreulichen Tod noch dazu.

Und obwohl er Dame Cathérine kein Wort von ihrem selbstgerechten Gebrabbel abgekauft hatte (nach zwanzig Jahren Studium der Abgründe der menschlichen Natur war er viel zu gewieft und abgebrüht für ein solches Ausmaß an Leichtgläubigkeit!), hatte er getan, was er als Anwalt zum Wohl seines Klienten einfach tun musste: Er hatte Marguerite de Carrouges bei der nächsten Sitzung vor dem Parlament diese Aussage ins Gesicht geworfen und danach ohne auch nur mit der Wimper zu zucken dabei zugesehen, wie die mittlerweile hochschwangere junge Frau angesichts dieses Verrats aus einer völlig unerwarteten Ecke zusammengebrochen war.

Und sobald die Ohnmächtige unter dem Gezeter und dem allgemeinen Aufruhr der übrigen Anwesenden aus dem Sitzungssaal im Palais de Justice hinausgetragen worden war, hatte er sich vor dem Pult des Richtertribunals aufgebaut, aufrecht wie eine Lanze, ein flammendes Plädoyer gehalten und die sofortige Einstellung des Verfahrens und den Freispruch seines Mandanten beantragt. Es war der beste Auftritt in seiner ganzen Karriere gewesen und Le Coq schämte sich heute noch dafür.

Aber das Verfahren war nicht beendet worden. Noch während die drei Richter ratlos zu dem sichtlich schockierten König hinüber starrten (das feige Pack war nicht dazu bereit gewesen, auf eigene Faust ein Urteil zu fällen, das ihrem Herrscher missfallen könnte!), war Sire Jean von seinem Sitz in der vordersten Zuschauerreihe aufgesprungen wie von der Tarantel gestochen und hatte einen Schrei ausgestoßen, der unter dem hohen Deckengewölbe widerhallte wie ein Donnergrollen.

Und noch bevor irgendjemand irgendetwas sagen oder de Carrouges zur Ordnung rufen konnte, war er auf den Angeklagten zu gestürmt (so aggressiv, dass die Wachen, die Le Gris zu seinem Schutz einrahmten, unwillkürlich ihre Hellebarden fester umklammerten!) und hatte ihm mit Todesverachtung seinen Fehdehandschuh und mit einem beträchtlichen Pathos seine Herausforderung hingeschleudert. Le Gris war seinerseits von seinem Stuhl hochgeschnellt und hatte den Handschuh aufgehoben, bevor sein völlig entgeisterter Anwalt ihn daran hindern konnte, womit er die Forderung offiziell angenommen hatte. Und dem König, der sich rasch wieder gefasst hatte, war gar nichts anderes übrig geblieben, als zuzustimmen und seine Erlaubnis zu erteilen, was bestimmt auch an dem frenetischen Beifall aller versammelten Seigneurs lag, die von dieser melodramatischen Darbietung sichtlich hingerissen waren.

Gegen so viel blaublütigen Edelmut auf einem Haufen ist sogar der raffinierteste Advokat machtlos und gegen so viel blaublütige Dummheit sowieso!, hatte Le Coq in diesem sinkenden Augenblick mit einer Mischung aus Sarkasmus und Resignation gedacht.

Aber ganz so machtlos war dieser Advokat gar nicht, denn er hatte bald (und nach einer ausführlichen Beratung mit zwei ebenso raffinierten Kollegen!) eine Idee ausgebrütet, die für alle Beteiligten die Rettung sein konnte oder zumindest einen weniger drastischen Ausgang anbot. Eine Idee, die er seinem Klienten auch so schnell wie möglich unterbreitet hatte und die von diesem sofort kategorisch abgelehnt worden war. Eine Idee, auf der Maître Le Coq immer noch beharrte – bis heute!

Und nun erwog er Dame Cathérines Besuch hier in diesem Zelt und ihr wahres Motiv dafür, denn dass sie nicht nur aufgekreuzt war, um ein Geschenk vorbei zu bringen und dem Junker Glück zu wünschen, war für ihn klar.

„Sie hat mich umarmt und geküsst wie eine geliebte..."

HA! Ich WUSSTE es, dachte Le Coq triumphierend.

„... Schwester. Und dann hat sie geweint. Und sie hat mir geschworen, dass sie mich niemals vergessen wird, wenn ich... falls ich..."

Le Gris konnte den Satz nicht zu Ende bringen. Er war zu überwältigt von der offenbar recht tränenreichen Abschiedsszene, die ihm zuteil geworden war – oder von dem, was diese Tränenflut ganz zwangsläufig für ihn implizierte. Auch der Maître blieb still, momentan selber zu ergriffen von dem Drama, das sich vor seinen Augen entfaltete, um sprechen zu können.

„Sie hat mir gesagt, dass sie für mich betet..."

Und beten sollte sie auch – für dich und für sich selbst. Sie hat schließlich allen Grund dazu. Geliebte Schwester, ha! Dass ich nicht lache, dachte Le Coq voller Ingrimm.

„Graf Pierre hat mir dasselbe erzählt, als er heute Morgen hier war. Er hat mir zuerst gesagt, dass er sich um meine Familie kümmern wird wie um Blutsverwandte, dass er für sie sorgen wird, so lange er lebt und darüber hinaus. Und dann, dass sie alle für mich beten, er und Gräfin Marie und ganz Argentan..." Le Gris hielt inne, sichtlich bemüht, seiner Gefühle Herr zu werden. Er hatte Erfolg damit. „Nicht dass ich ihre Gebete wirklich nötig hätte", fuhr er sehr viel energischer fort. „Ich werde Jean de Carrouges töten! Es kann gar nicht anders ausgehen."

Er nahm seinem Knappen den Dolch aus der Hand, den der Bursche gerade an seinem Schwertgurt befestigen wollte. Der Dolch war so lang wie sein Unterarm und mit einem Knauf versehen, der aus einem stilisierten Rabenkopf bestand. Er zog ihn aus seiner mit zierlichen Schlangen gravierten eisernen Scheide und hielt ihn Le Coq zu einer nicht sehr fachmännischen Begutachtung hin. Der Anwalt beäugte die scharf geschliffene und sorgfältig polierte Klinge, die so dicht vor seiner Nase in einem kalten Glanz funkelte, mit leisem Unbehagen.

„Man nennt diese Art von Dolch Misericordia. Wisst Ihr, was das bedeutet?"

„Mitleid", brummte der Maître und versuchte eine spontane Aufwallung von Ärger zu unterdrücken. Es war einfach zu aufreizend, dass der Junker sich einzubilden schien, über bessere Lateinkenntnisse zu verfügen als ein Scholar wie er.

Und das mir, einem Meister der Jurisprudenz! Ich habe an der Sorbonne studiert und mein Examen summa cum laude gemacht, während er durch die Gegend gestolpert ist und mit seinem mickrigen Messer ein paar verlauste Landsknechte abgemurkst hat! Was glaubt dieser aufgeblasene Pfau eigentlich, wer ich bin? Und was glaubt er, wer ER ist?!

Er schluckte eine spitze Replik hinunter, obwohl sie ihm fast ein Loch in die Zunge brannte, und bezwang sich, wenn auch nur mit Mühe. Wenn er jetzt etwas um jeden Preis vermeiden musste (auch auf Kosten seines Stolzes!), dann einen völlig überflüssigen Zank wegen irgendeiner Nichtigkeit.

„Mitleid, ja! Denn dieser Dolch ist dazu bestimmt, einem besiegten Gegner den Gnadenstoß zu versetzen. Ein Akt der Barmherzigkeit, damit der Mann schnell stirbt, statt langsam und qualvoll." Le Gris schwieg einen Augenblick lang, bevor er den Dolch so heftig in seine Scheide zurückstieß, dass es nur so klirrte. „Ich glaube nicht, dass ich viel Mitleid empfinden werde, wenn ich mit diesem Ding de Carrouges verlogene Kehle aufschlitze oder es ihm einfach in sein gemeines Herz hinein ramme!", sagte er hart.

Obwohl Le Coq diese aufgewühlten Emotionen durchaus nachvollziehen konnte (fast ebenso gut wie seine eigenen!), beunruhigten sie ihn, denn wie sollte er seinen Mandanten doch noch zu dem von ihm ausgeheckten Plan überreden, wenn er mit so viel Erbitterung erfüllt war, wenn er von solcher Rachsucht heimgesucht wurde?

„Ich verstehe Euren Zorn auf Sire Jean. Aber was ist mit Dame Marguerite? Ihr wisst, was sie mit ihr machen werden, wenn Ihr siegt. Ich bin auf dem Weg zur Abtei an Montfaucon vorbeigekommen. Sie haben den Scheiterhaufen schon aufgerichtet. Sie werden es gleich nach Eurem Zweikampf tun."

„Ja, sie wird brennen", sagte Le Gris, jetzt ohne jede erkennbare Gemütsregung „Und das Letzte, was sie sieht, wird der Kadaver ihres teuren Gemahls sein – oder das, was von diesem Narren noch übrig ist, wenn ich mit ihm fertig bin. Er wird am Galgen direkt neben ihr baumeln... eine Zielscheibe für die Steinwürfe des Pöbels und ein Festschmaus für die Krähen."

Le Coq dachte an die berüchtigte Hinrichtungsstätte nordöstlich von Paris und das, was er dort neben dem Galgenbaum gesehen hatte. Der mit Ketten versehene Pfahl auf dem riesigen, mit Reisigbündeln umkränzten Holzstapel war so hoch, dass der Scharfrichter nicht einmal mit einer Leiter dazu in der Lage sein würde, nahe genug an die Delinquentin heranzukommen, um ihr einen Akt der Barmherzigkeit zu erweisen, indem er sie mit dem um ihren Hals geschlungenen Büßerseil strangulierte – gerade noch rechtzeitig, bevor das Feuer an sie herankam.

Der Maître hatte noch nie einer Verbrennung beigewohnt – im Gegensatz zu vielen seiner Zeitgenossen mied er Hinrichtungen und ähnlich brutale Volksbelustigungen aus Prinzip.

Doch ein ihm nahe stehender Priester (ein braver Benediktiner mit einer Tendenz zu schweißtreibenden Alpträumen und einer daraus resultierenden Vorliebe für ein schlafförderndes Branntwein-Gebräu aus der Apotheke seiner Priorei) hatte ihm anvertraut, dass es manchmal bis zu einer halben Stunde dauern konnte, bis ein unglückseliger Ketzer oder ein anderer armer Sünder, der sich eines besonders schweren Verbrechens schuldig gemacht hatte, endlich von seinen Qualen erlöst wurde. (Der bedauernswerte Pater musste ein Experte auf diesem Gebiet sein, denn er war der höchst widerwillige Reisegenosse eines Inquisitors gewesen, einem halb verrückten Fanatiker, der immer noch von der Verfolgung der längst ausgerotteten Katharer besessen gewesen war und deshalb eine Zeitlang im Süden sein Unwesen getrieben hatte. Auf der Suche nach versprengten Überlebenden dieser Sekte hatte die selbsternannte Geißel Gottes jedes kleine Kaff zwischen der Rhône und der Isère durchstöbert und dort ganz nebenbei auch noch nach verschollenen Phantom-Tempelrittern und mit Warzen übersäten Möchtegern-Hexen gefahndet.

Schließlich hatte ein dort ansässiger und nicht unbedingt kirchenfreundlich gestimmter Baron, dessen Name der Pater aus purem Selbsterhaltungstrieb nicht preisgeben wollte, dem Terror ein Ende gemacht. Der Unruhestifter war zusammen mit seinen Schergen in einer Nacht-und-Nebel-Aktion geschnappt und unauffällig entsorgt worden.

Die letzte Ruhestätte hatten er und seine in dem Handgemenge niedergemetzelten Häscher in einer schon vorbereiteten Grube in einer Lichtung irgendwo tief im Wald gefunden – nachdem die Männer des Barons ihn zuvor in einen mit Steinen beschwerten Sack gesteckt und in einem Mühlteich ertränkt hatten. Es war übrigens derselbe Teich, in dem der gemeuchelte Inquisitor erst am Tag zuvor eine dreizehnjährige Gänsehirtin der Wasserprobe unterzogen hatte, weil sie schielte. Eine Prüfung, die das Mädchen nicht überlebt hatte, was die Theorie über ihren „bösen Blick" ein paar Minuten zu spät widerlegt hatte. Das unnötige Ableben dieses unschuldigen Kindes – natürlich wollte niemand in diesem Zusammenhang das Wort Mord in den Mund nehmen! – war offenbar der Tropfen gewesen, der das Fass des Barons endgültig zum Überlaufen gebracht hatte.

Doch den gleichfalls eingefangenen Pater hatte er trotzdem wieder laufen lassen – allerdings erst nach einer ordentlichen Tracht Prügel und ziemlich ausführlichen Schilderungen, welche Körperteile er ihm zuerst abschneiden würde, wenn er ihn nach dem nächsten Sonnenaufgang noch einmal innerhalb der Grenzen seiner Domäne erwischen sollte. Alles in allem also ein ziemlich prägendes Erlebnis für den armen Benediktiner, womit seine Verschwiegenheit ausreichend erklärt war.)

Aber egal, wie lange es bei der einzelnen Exekution dauern mochte, es war auf jeden Fall eine entsetzliche Weise, das irdische Jammertal zu verlassen, und Le Coq, so durchtrieben und hartgesotten wie ein Jurist nur sein konnte, war sensibel genug, bei der bloßen Vorstellung an dieses Gräuel zu erschauern.

Und mit so viel Unnachgiebigkeit (oder Herzlosigkeit!) hatte er bei einem verbürgten Verehrer der holden Weiblichkeit nicht gerechnet. Daher wählte er seine nächsten Worte mit Sorgfalt.

„Im Sommer habt Ihr noch behauptet, dass Dame Marguerite nur unter Zwang gehandelt haben kann. Ihr wart felsenfest davon überzeugt, dass Sire de Carrouges sie bedroht haben muss, um sie dazu zu bewegen, diese Anschuldigung gegen Euch zu erheben – und das mit ihrer Hand auf der Bibel und dem Schwur, die reine Wahrheit zu sagen und nichts als die Wahrheit."

„Ja. Ich habe gesagt, dass er sie halb totgeschlagen haben muss, um sie dazu zu bringen. Das ändert aber auch nichts daran, dass sie mich beschuldigt hat – und dass ihr Schwur ein Meineid war!", betonte Le Gris. „Und sie muss sich darüber im Klaren gewesen sein, was sie mir damit antut, dass sie damit mich an den Galgen bringt. Ebenso gut hätte sie mir gleich einen Misericordia in den Rücken stoßen können. Und überhaupt... Das ist alles nur ihre Schuld! Sollen sie das verfluchte Weibsstück doch rösten. Was liegt mir daran?"

Aber da lag jetzt doch eine gewisse Unsicherheit in seiner Stimme und Maître Le Coq schoss sofort darauf zu wie eine hungrige Forelle auf den verlockenden Wurm am Angelhaken.

„Ich bin mir ganz sicher, dass Dame Marguerite keine Ahnung hatte, wie das alles ausgehen könnte."

„Wie kommt Ihr bloß auf so eine Schlussfolgerung? Sie wusste, dass Jean mich hasst und dass er alles tun würde, um mir zu schaden. Sie wusste spätestens nach dem ganzen Gerangel um Aunou-le-Faucon, dass dieser Bastard so von Neid zerfressen ist, dass er vor nichts mehr zurückschreckt, wenn er mich damit nur an die Wand nageln kann. Weil er mich vernichten will!"

Le Gris stieß ein verächtliches Schnauben aus, griff erneut nach dem Silberpokal und stürzte auch dieses Mal den exquisiten burgundischen Rebensaft auf einmal hinunter, bevor er ihn mit Emphase zurück auf den Schemel knallte. So gestärkt, begann er in dem engen Zelt auf und ab zu wandern, ruhelos wie ein Tiger in seinem Käfig, während er seinem Groll Luft machte.

„Rennt einfach zum König und verklagt mich wegen diesem winzigen Fetzen Land, der ihm nie gehört hat, auf den er niemals auch nur den geringsten Anspruch hatte!", fauchte er.

Maître Le Coq zog andeutungsweise die Augenbrauen hoch. Aunou-le-Faucon war alles andere als ein winziger Fetzen Land. Es war ein großes Gut mit zwei Weilern voller Leibeigener und genug fruchtbarem Ackerland für zehn Tagwerke. Es war ein saftiger Brocken, der ursprünglich zur Mitgift von Marguerite de Carrouges gehört hatte und damit rein theoretisch am Tag ihrer Hochzeit irgendwann um 1380 in den Besitz ihres frischgebackenen Ehemannes übergegangen wäre – wenn sein Schwiegervater Robert de Thibouville es nicht schon 1377 für die stattliche Summe von achttausend Livres an seinen Lehnsherren Graf Pierre d'Alencon verkauft hätte, um seine Steuerschulden zu tilgen. Und Graf Pierre hatte dieses ertragreiche Lehen im folgenden Jahr prompt an seinen Freund und Favoriten Jacques Le Gris weitergereicht, den er zu dieser Zeit mit Gunstbeweisen aller Art geradezu überschüttet hatte.

„Verklagt mich ständig wegen jeder Kleinigkeit!", donnerte Le Gris.

Doch der Maître dachte im Stillen, dass es wahrhaftig kein Wunder war, dass de Carrouges sich benachteiligt fühlte. Wenn man dem Gerede der Leute glauben wollte, war dieser schroffe und etwas ungehobelte Edelmann mit seiner harschen Art weder bei Graf Pierre noch bei seinem Gefolge am Hof von Argentan jemals gut angesehen gewesen – ganz im Gegensatz zu seinem weltgewandten und allseits beliebten Rivalen. Insbesondere der Graf machte inzwischen keinen Hehl mehr aus seiner tiefen Abneigung gegen diesen widerspenstigen und vor allem halsstarrigen Vasallen, der ihm nur Scherereien machte und auch sonst keine Gelegenheit ausließ, ihn vor den Kopf zu stoßen.

Zutiefst beleidigt und erzürnt über die Unverfrorenheit, mit der Sire Jean sowohl ihn selbst als auch Le Gris vor dem König höchstpersönlich auf Herausgabe des fraglichen Gutes verklagt hatte, hatte der Graf der Versuchung nicht widerstehen können, nur wenig später zusätzliches Öl in das Feuer der Eifersucht zu gießen, indem er den Junker ganz ungeniert von Neuem bevorzugt und ihn auch noch zum Hauptmann und Vogt der Festung und Stadt Bellême ernannt hatte.

Ein weiterer einträglicher Posten, dessen Verlust de Carrouges schwer getroffen hatte, zumal er felsenfest davon überzeugt war, dass dieses Amt ihm zustand, weil sein Vater Jean der Ältere es vor ihm innegehabt hatte und er es nach dessen Ableben sofort als sein rechtmäßiges Erbe beansprucht hatte. Übrigens nur aus Gewohnheitsrecht, aber man musste doch zugeben, dass die Verteilung von Ämtern und Lehen für gewöhnlich genauso gehandhabt wurde. Wenn der ursprüngliche Inhaber das Zeitliche segnete, wurde eigentlich immer sein Nachwuchs damit bedacht – es sei denn, dass einer dieser Sprösslinge den Fehler gemacht hatte, sich mit seinem Lehensherrn anzulegen, so dass dieser die Tradition lieber unter den Tisch fallen ließ. Was Graf Pierre eindeutig getan hatte und nicht ohne boshaftes Vergnügen, was er sich auch hatte anmerken lassen. Und natürlich war der streitlustige Ritter daraufhin prompt auch wegen dieser haarsträubenden Ungerechtigkeit mit fliegenden Fahnen vor Gericht gezogen und hatte nach dem unvermeidlichen Scheitern des Prozesses wie nun schon üblich den König als neutralen Schiedsrichter angerufen.

Doch Charles VI. war nicht ganz so neutral, wie er sein sollte. Er war jung und unerfahren und neigte dazu, immer noch lieber auf die Ratschläge einer ganzen Phalanx von Onkeln zu hören, den königlichen Herzögen, die sich nicht wirklich mit dem Ende ihrer Regentschaft für den flügge gewordenen Monarchen abfinden konnten und ihren Einfluss auf ihn und die Geschicke des Landes hartnäckig geltend machten.

Als König war Charles in jeder Beziehung vollkommen abhängig von der Gefolgschaft seiner größten Vasallen. Und er war keineswegs gewillt, sich für das Wohl eines verarmten und ohnehin eher unbedeutenden Provinz-Clans ausgerechnet mit seinem eigenwilligen Cousin d'Alencon anzulegen. Und das nicht nur wegen der bestehenden Familienbande oder wegen persönlicher Sympathien, sondern auch aus politischem Kalkül: Graf Pierre war gerade jetzt einer seiner wichtigsten Verbündeten in der Normandie und die allzeit bereite Unterstützung durch seine Truppen war dringend erforderlich, um den immer wieder dort einfallenden und dabei immer weiter vorrückenden Engländern Einhalt zu gebieten.

Was hatten dagegen die Carrouges ihrem Herrscher schon zu bieten außer ihrer Ergebenheit und einem schlecht bewaffneten Fähnlein Fußsoldaten? Nach all diesen Erwägungen (und nach den vielen wortgewaltig vorgetragenen Ansichten und Einsichten seiner Onkel!) hatte Charles VI. auch diese Klage abgewiesen, wenn auch mit einem bedauernden Achselzucken.

Man konnte es Sire Jean also nicht ganz verdenken, dass er sich beraubt fühlte und empört war über diese Günstlingswirtschaft, die ihm nur zum Nachteil gereichte. Und jetzt kam auch noch diese leidige Affäre dazu, womit man wieder beim Thema war...

„Dame Marguerite kann unmöglich gewusst haben, worauf sie sich da einlässt. Ganz abgesehen davon, was aus ihrem Gemahl wird und was auch immer sie davon halten mag... Sie hätte niemals ein so furchtbares Ende für sich selbst riskiert."

„Das ist nicht mein Problem!", bellte Le Gris zurück.

Aber auch das klang nicht wirklich überzeugt und schon gar nicht überzeugend und der Maître nutzte es aus.

„Ihr müsst das nicht tun, Messire", wiederholte er in einem beschwörenden Tonfall.

„Ach ja? Was soll ich denn sonst tun? Mich von diesem grobschlächtigen Klotz abschlachten lassen, nur um sein doppelzüngiges Frauenzimmer zu retten?"

„Natürlich nicht. Aber Ihr könntet das alles noch abwenden, genau so wie ich es Euch schon so oft erklärt habe."

Und wie oft und detailliert er es dem Junker schon erklärt hatte! Le Coq war der Angelegenheit inzwischen ziemlich überdrüssig, aber er konnte und wollte nicht zulassen, dass der bedeutendste Fall seines Lebens in so einer Tragödie endete.

In erster Linie war es Menschlichkeit, die hier aus ihm sprach, aber wenn er ganz aufrichtig mit sich selbst war, dann musste der Anwalt sich eingestehen, dass ihm eine gewisse Eitelkeit auch nicht fremd war. Dieser Prozess würde fraglos in die Geschichtsbücher eingehen, das hatte Froissart ihm bereits mitgeteilt, als er nachgeforscht hatte, warum der bekannte Chronist und Dichter bei jeder Verhandlung dabei saß und emsig Notizen nieder kritzelte. Und wer wollte nicht in den Augen der Nachwelt gut dastehen? Manchmal war es einfach nicht genug, nur als glänzender Verteidiger des Gesetzes zu gelten. Manchmal musste man auch einen etwas größeren und erhabeneren historischen Fußabdruck hinterlassen, wenn auch nur als Randnote in einem Abschnitt eines einzelnen Kapitels.

„Es ist noch nicht zu spät, das Duell abzusagen", beteuerte er.

„Absagen?! Habt Ihr den Verstand verloren? Der König sitzt da draußen! Und mit ihm unsere ganze Welt! Ich weiß nicht, wie viel Volk aus Paris und Umgebung sich vor den Mauern von Saint Martin tummelt, wie viele Bauernlümmel gerade auf ihr Spektakel lauern, und es ist mir auch gleichgültig. Aber jeder Mensch, der mir etwas bedeutet, sitzt auf dieser Tribüne und wartet darauf, dass ich mich diesem Lügner stelle und den Schandfleck auf meiner Ehre mit seinem Blut abwasche. Alle, die ich kenne, sind da. Ich kann mich doch nicht einfach davor drücken... Ihr müsst wirklich völlig von Sinnen sein!"

„Es geht nicht darum, sich vor irgendetwas zu drücken, Messire. Und es gibt eine andere Möglichkeit, Eure Ehre wieder herzustellen, ohne Blut zu vergießen, auch wenn Ihr das nicht wahrhaben wollt. Und alles, was Ihr dazu tun müsst, ist, nachher vor den König zu treten und ihm zu sagen, dass Ihr doch noch Euer Vorrecht in Anspruch nehmen wollt, das Verfahren auf ein geistlichen Gericht zu übertragen und es dort noch einmal verhandeln zu lassen – so wie Ihr es gleich hättet tun können, wenn Ihr nur genug Verstand gehabt hättet, meinen Rat anzunehmen!", schnappte Le Coq, dem allmählich wirklich der Geduldsfaden riss.

Stur wie ein Esel!

Aber das Gesicht des Junkers klappte sofort zu wie die Schalen eine Auster und sein verschlossener Ausdruck zeigte dem Anwalt, dass sein Miniatur-Ausbruch eben das genaue Gegenteil von dem bewirkt hatte, was er ursprünglich bezweckt hatte. Und genau so war es bis jetzt immer gelaufen.

Doch heute konnte sein Mandant nicht mehr wütend aufbegehren und einfach mit weit ausgreifenden Schritten auf und davon stolzieren und irgendeine Tür hinter sich zuknallen. Nein, heute konnte er nicht weglaufen und sich dadurch der Diskussion entziehen, so wie er es früher immer getan hatten, sobald sie diesen Punkt erreicht hatten. Und darum (nur darum!) blieb Le Gris stehen wie versteinert und hörte endlich zu.

Gut! Besser spät als nie.

„Bischof d'Orgemont würde Euch sofort dabei unterstützen. Und sobald Ihr das durchgesetzt habt, seid Ihr aus dem Schneider. Ihr wisst doch, wie die Kirche zu Frauen steht – ganz besonders dann, wenn es um… na ja..." Der Maître hüstelte diskret. „... um so sündhafte Ausschweifungen wie die körperliche Vereinigung geht."

Näher musste er das nicht erläutern. Die Andeutung war genug. Es war allgemein bekannt, dass die Frauenfeindlichkeit der Kirche sich am deutlichsten dadurch manifestierte, dass sie allen Evastöchtern einen Hang zu Verführung und Fleischeslust unterstellte. Und die hohe Geistlichkeit ritt gerne auf dieser angeborenen Schwäche herum, insbesondere dann, wenn es um das Thema Notzucht ging. Der Klerus sah lieber über dieses maskuline Laster hinweg, weil man grundsätzlich davon ausging, dass die Opfer irgendwie selber schuld daran waren, wenn die Leidenschaft mit einem Mann durchging. Und wenn der Täter dann auch noch einen besonderen Status genoss...

„Und Ihr habt den bestmöglichen Vorteil auf Eurer Seite, weil Ihr in Eurer Jugend die niederen Weihen empfangen habt. Damit geltet Ihr vor einem Kirchen-Tribunal immer noch als Kleriker, Messire, obwohl Ihr Euch schon vor so vielen Jahren wieder dem weltlichen Leben zugewendet habt."

So etwas kam übrigens recht häufig vor. Jüngere Söhne wurden von ihren Familien oft der Kirche übergeben, weil man sie versorgt sehen wollte. Zu diesem Zweck steckte man sie meistens schon im zarten Kindesalter als sogenannte Oblaten in das nächstbeste Kloster, wo sie bis zum Tag ihres Gelübdes gut aufgehoben waren. Ereilte bis dahin den Stammhalter oder gleich mehrere Erben hintereinander ein Schicksalsschlag, wurde der abgeschobene Filius schleunigst wieder aus der Reserve geholt und auf den frei gewordenen Platz gesetzt. Und wenn der Junior nach dieser langen Zeit in der Abgeschiedenheit hinter Klostermauern zu intellektuell oder sonst wie zu vergeistigt geworden war, so dass er mit der Welt der Laien nichts mehr anfangen konnte oder wollte, so wurde er mit ein paar ordentlichen Maulschellen und einer rasch arrangierten Heirat schnell und gründlich von allen mönchshaften Grillen oder ähnlich unerwünschten Rosinen in seinem Kopf kuriert.

Le Coq hatte allerdings nicht den Eindruck, dass sein lebenslustiger Klient jemals zu dieser Gruppe gehört hatte. Dazu war er viel zu sinnenfroh. Oder sogar zu zügellos...

Wein, Weib und Gesang das passt zu ihm. Das hätte er sogar durchgezogen, wenn er es selber bis zum Bischof gebracht hätte...

„Und wie das Sprichwort so schön sagt: Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus", fuhr er fort. „Kurz gesagt: Ihr hättet Euren Freispruch so gut wie in der Tasche. Ich bitte Euch, Messire, werft diese Chance nicht einfach weg. Ihr müsst jetzt vernünftig sein."

Le Gris kniff die Lider zusammen, halb verwirrt, halb gereizt.

„Das verstehe ich nicht. Sogar wenn ich dazu bereit wäre, mich darauf einzulassen, was soll das Marguerite nützen? Das bringt ihr doch gar nichts. Wenn ich das gewinne, wird sie auch gebraten. Dann erst recht!"

„Nicht unbedingt", sagte der Maître rasch. „Wer einmal einem so grauenhaften Tod ins Auge geblickt hat, überdenkt seine Prioritäten. Sie muss außer sich sein vor Angst. Bestimmt bereut sie es zutiefst, dass sie sich auf diese offensichtliche... äh... Intrige gegen Euch eingelassen hat. Sie wäre so dankbar dafür, dass wir ihr ein Schlupfloch bieten, durch das sie sozusagen in letzter Minute entwischen kann, dass sie ihre Aussage bestimmt sofort zurückziehen würde."

Der Junker war skeptisch. „Wie kann man einen Meineid zurückziehen?"

„Nun, sie könnte darauf plädieren, dass sie dazu gezwungen worden ist", entgegnete der Anwalt. „Und wenn sie genug Reue zeigt, wird man sie auch begnadigen. Die Kirche kann großmütig sein und verzeihen. Vergebung ist immerhin die christlichste aller Tugenden."

Er dachte unwillkürlich an seine Unterhaltung mit dem Benediktiner-Mönch zurück und an ähnlich gelagerte Präzedenzfälle. Die Kirche war im Ernstfall alles andere als großmütig. Und obwohl sie ihren Gläubigen gerne Vergebung predigte, war sie selbst als Institution weit entfernt von dieser christlichen Tugend. Dafür war sie ein wahres Monument an Doppelmoral und Scheinheiligkeit. Aber darauf ging er lieber nicht ein, nicht so kurz vor der Zielgeraden in diesem Rennen. Zuversicht war das Gebot der Stunde. Oder wenigstens ein bisschen Optimismus...

„Natürlich müsste Dame Marguerite sich dazu bereit erklären, Buße zu tun. Sie könnte den Schleier nehmen..."

Also ich würde mich lieber lebenslänglich in einem Kloster einkerkern lassen als auf dem Scheiterhaufen zu sterben!

„... oder stattdessen ein paar Wallfahrten unternehmen. Vielleicht eine Pilgerreise nach Santiago de Compostela oder sogar nach Rom. Und ein paar großzügige Spenden hier und da... Das gilt natürlich auch für Sire Jean. Er müsste ebenfalls..."

„Großzügige Spenden?! Woher soll er denn die nehmen?", rief Le Gris. „Jean mag große Töne spucken, aber er ist arm wie eine Kirchenmaus. Verschuldet bis über beide Ohren. Kein Wucherer weit und breit würde ihm auch nur noch einen einzigen Sou leihen!"

Der Maître fand diese Information ganz und gar irrelevant. Es war weder für ihn noch für seinen Mandanten von Belang oder auch nur von Interesse, wie die Carrouges die pekuniäre Seite ihrer gemeinsamen Bußaktion bewältigen würden – immer vorausgesetzt, dass es überhaupt jemals so weit kam.

Er setzte gerade dazu an, sich entsprechend zu äußern, als der sichtlich erregte Junker höhnisch blökte: „Der große Seigneur de Carrouges! Steckt seine Nase so hoch in die Luft, dass er kaum noch laufen kann, ohne dabei über seine eigenen Stiefelspitzen zu stolpern. Tut so, als würden die paar schäbigen Lilien auf seinem Wappen ihn zu einem Prinzen von Geblüt machen.

Dabei kann er von Glück sagen, dass er noch einen Nachttopf hat, in den er hinein pinkeln kann! Und den hätte er auch noch verloren und das bald, denn er hat so viele Gläubiger, dass sie ihm inzwischen beinahe alles unter dem Hintern weg gepfändet haben. Er ist völlig pleite... fast schon ein Bettler!"

„Ach, Messire, das ist doch jetzt..."

Doch Le Gris war so in Fahrt, dass er nicht mehr zu bremsen war.

„Habt Ihr schon mitbekommen, dass sie mir nachher noch schnell einen Ritterschlag verpassen wollen? Seit ich ein Milchbart ohne Flaum am Kinn war, habe ich unserem König und seinem Vorgänger gedient. Ich bin dem Banner meines Grafen überall hin gefolgt, um in ihren Kriegen für sie zu kämpfen.

Aber in all der Zeit ist niemand jemals darauf gekommen, mir sein Schwert auf die Schulter zu schlagen, mir ein Paar goldene Sporen anzulegen. Niemand hat mich zu Sire Jacques ernannt, obwohl ich es verdient hätte. Ich habe mich oft genug als würdig erwiesen. Und jetzt... heute wollen sie das plötzlich nachholen. Und warum? Damit ich diesem Habenichts ebenbürtig bin, wenn ich ihm gegenüber trete. Ebenbürtig, ha! Als ob ich diesem armseligen Wicht nicht in jeder Hinsicht überlegen wäre."

„Das ist wahr", begann der Anwalt. „Aber..."

Sein Klient ließ ihn nicht zu Wort kommen.

„In den letzten zehn Jahren habe ich allein durch meinen Verstand und meine Tüchtigkeit mehr Land erworben, als die versoffenen Vorfahren von diesem heruntergekommenen Krautjunker erobern konnten, indem sie mit ihren Streitkolben wilden barbarischen Horden von Heiden die Köpfe eingeschlagen haben. Ja, durch mein eigenes Verdienst!", tönte er. „Durch harte Arbeit! Undnicht einfach nur durch das Vermächtnis von irgendwelchen großmäuligen Urgroßvätern, die selber noch Barbaren waren und die einfach nur einen wackeligen Turm und eine klapprige Palisade auf irgendeinem namenlosen Misthaufen errichtet haben, um danach nie wieder auch nur einen Finger zu rühren, bis sie als Tattergreise der Schlagfluss getroffen hat, noch während sie sich vor dem Herdfeuer in ihrer dreckigen zugigen Räuberhöhle mit ihren Kötern in den flohverseuchten Binsen auf dem Boden herum gewälzt haben!"

Le Coq widersprach nicht, obwohl er seinem Mandanten leicht hätte vorhalten können, dass er den tatsächlich ziemlich beträchtlichen Reichtum, den er mittlerweile angehäuft hatte, seinem Gönner verdankte. Außerdem wollte er die Errungenschaften des Junkers nicht kleinreden. Sich so lange die Gunst eines launischen und sprunghaften echten Prinzen von Geblüt zu erhalten, war an sich schon eine Leistung.

Darüber hinaus hatte Le Gris die Bildung, die er während seiner Jugend genossen hatte, bekanntermaßen dazu genutzt, um wieder Ordnung in die chaotischen Kontobücher seines Herrn zu bringen. Die gräflichen Finanzen hatten mit Sicherheit sehr von seinen Rechenkünsten und seiner Gründlichkeit profitiert – und von seinem gleich anschließenden Einsatz als tatkräftiger (oder rücksichtsloser!) Eintreiber von längst überfälligen Abgaben auch. Als Le Gris seinen ganz offiziellen Beutezug quer durch die Normandie beendet hatte, war zumindest das Staatssäckel von Graf Pierre wieder randvoll gewesen. Und der Graf hatte sich daraufhin als dankbar und spendabel erwiesen, zwei Attribute, die nicht oft aufeinander trafen, wenn es um Fürsten ging.

„Seht nur her! In dieser klitzekleinen Börse..." Le Gris' Zeigefinger deutete auf den recht umfangreichen und prallen Lederbeutel, der zwecks sicherer Aufbewahrung (oder auch zur handfesten Verteidigung gegen besonders unternehmungslustige Taschendiebe!) am Gürtel seines Knappen baumelte, „...habe ich mehr Livres, als dieser Hungerleider jemals auf einem Tisch aufgehäuft gesehen hat. Aber für ihn hat das nie gezählt. Hauptsache, er ist ein ach so nobler Ritter!"

Das Schlusswort wurde mit so viel Gift und Galle und Vehemenz von ihm ausgespien, das der Maître beinahe erwartete, angespuckt zu werden. Er kam zu der frappierenden Erkenntnis, dass er keineswegs der Einzige war, der von Kindesbeinen an unter der Großspurigkeit der Aristokratie gelitten hatte.

„Wenn auch nicht gerade ein Ritter ohne Furcht und Tadel, wie wir alle wissen... Na schön, sollen sie mich doch auch zu einem machen, bevor wir endlich aufeinander losgehen dürfen. Ich werde ihn so oder so in den Boden stampfen", zischte Le Gris. „Dann werden wir ja sehen, wie nobel er den Löffel abgibt."

Damit schien seine Tirade am Ende zu sein. Oder vielleicht ging ihm auch einfach nur jetzt schon der Atem aus, denn plötzlich wurde er von einem heftigen Husten durchgerüttelt. Der Knappe, der sich zu seinem jüngeren Gefährten in den Hintergrund zurückgezogen hatte, sprang herbei und klopfte dem Junker, der bald keiner mehr sein würde, so kräftig auf den Rücken, dass dessen Harnisch klirrte – einen anderen Effekt hatte diese Erste-Hilfe-Maßnahme leider nicht.

Er ist doch krank. Ich hab's ja gewusst, dachte der Anwalt.

„Mehr Wein!", krächzte Le Gris.

Sein Knappe erfüllte ihm diesen Wunsch sofort, aber sehr belebend war die Wirkung auf den künftigen Ritter nicht – eher das Gegenteil.

„Was ist denn jetzt los? Mein ganzer Schlund brennt und kratzt, als hätte ich Essig getrunken", klagte er. „Da müssen Ablagerungen in dem Wein sein. Dieser Faulpelz von einem Wirt hat den Wein nicht dekantiert. Oder er hat mir gleich den verdammten Bodensatz aus irgendeinem uralten und schon so gut wie leeren Fass abgezapft und mir für diese Schweinerei auch noch so viel Geld abgeknöpft, der Strolch. He, du da drüben!"

Der jüngere Page, der in der scheinbar unerschöpflichen Truhe so verbissen nach einem mysteriösen Gegenstand kramte, als würde er die sprichwörtliche Nadel im Heuhaufen suchen, blickte auf wie ein Hund, der seinen Namen in Verbindung mit dem klassischen „Bei Fuß!" vernommen hatte.

„Lass die Sucherei endlich sein, Kleiner, das hat ja doch keinen Sinn. Du musst vergessen haben, mein blaues Samtwams einzupacken, sonst hättest du es längst gefunden. Macht nichts, du kannst mir nachher das rote mit der Goldstickerei am Saum herauslegen – falls ich es noch brauche. Bring mir jetzt lieber etwas Wasser."

Der Page nickte und schnappte sich sogleich einen zweiten größeren Krug, der zusammen mit einer Waschschüssel auf einer anderen mit Metallbändern umschnürten Kiste neben einem Feldbett stand. Er schleppte ihn herbei und goss daraus mit so viel Schwung Wasser in den silbernen Pokal, dass er prompt überschwappte.

„Pass doch auf, du Tollpatsch! Du hast mich doch heute schon abgeschrubbt. Willst du mir jetzt noch einen Guss verpassen?"

„Tut mir Leid, Messire."

„Ach, schon gut...", murrte Le Gris. Er nippte an dem Kelch und verzog angewidert den Mund. „Uuuh! Das ist ja ganz schal. Wann hast du denn das aus dem Brunnen geholt? Vorgestern als wir angekommen sind?"

„Nein, Messire, erst vorhin, als ich mit Euch fertig war. Ist noch ganz frisch", beteuerte der Junge.

„Dann muss es am Brunnen liegen. Herrje, das schmeckt ja wie abgestandene Pferdepisse..." Und weil die gedankliche Verknüpfung nahe lag, wandte er sich gleich an seinen Knappen: „Landry, lass bloß nicht unsere Gäule von dieser Brühe trinken! Die gehen uns glatt ein..." Und wieder zu dem Knaben: „Los, Pierrot, hol mir etwas aus einem anderen Brunnen. Und nimm die Beine in die Hand, ja?"

Pierrot flitzte davon wie ein Eichhörnchen, das vor einem angreifenden Falken in die Krone eines Baumes hinauf flüchtete.

Der Anwalt, der das gewaltige Fassungsvermögen seines Gegenübers kaum noch fassen konnte, schüttelte den Kopf.

Wo lässt er nur das ganze Gesöff?, wunderte er sich. Sein Magen muss so groß sein wie das Mittelschiff von Notre-Dame – mindestens!

Es sah allmählich so aus, als ob sein Klient selber bald einen Nachttopf benötigen würde und das ziemlich dringend. Le Coq war jetzt schon gespannt, wie viele Teile seiner Rüstung er würde ablegen müssen, bevor er sich erleichtern konnte. Der Knappe oder vielmehr Landry, der hinter Le Gris stand, schien sich ebenfalls über die kommenden Nöte oder Notdurft seines Herrn Gedanken zu machen, denn er zwinkerte dem Maître schelmisch zu und rollte dann vielsagend mit den Augen, bevor ein breites Grinsen sein sommersprossiges Gesicht spaltete.

Le Coq antwortete ihm mit einem sparsamen Halblächeln, bevor er sich wieder seinem eigentlichen Gesprächspartner zuwandte, der immer noch oder schon wieder vor sich hin hustete und das mit einem verdächtig rauen Rasseln aus den Tiefen seines Brustkorbs, das vorher noch nicht zu hören gewesen war.

„Um auf Dame Marguerite zurückzukommen...", begann er behutsam.

„Die schöne Margot", sagte Le Gris heiser, denn seine Stimmbänder waren jetzt recht belegt. „Man mag über sie denken, was man will, aber sie ist mit Abstand das prachtvollste Frauenzimmer, das ich je gesehen habe. Und ich habe eine Menge Frauenzimmer gesehen und auch gehabt. Viele davon sind für eine Nacht in meinem Bett gelandet und manche von ihnen viel öfter und länger.

Ich hatte Edeldamen aus Argentan und Huren aus so ziemlich jedem Bordell zwischen hier und Le Perche – was kein nennenswerter Unterschied ist, das kann ich Euch sagen. Ich hatte unzählige hübsche handzahme Bauerndirnen, die für ein paar Sous die Beine auch für einen Bullen breit gemacht hätten, und ein paar rassige hitzige Vollblut-Weiber aus dem fahrenden Volk, die mich jedes Mal von oben bis unten zerkratzt haben, so dass jeder dachte, mich hätte eine Wildkatze angefallen.

Ich hatte sogar mal eine Novize, als ich noch ein blutjunger Kerl war. War ein süßes Ding, sanft wie ein Täubchen. Und hatte genauso wenig Lust darauf, in einem Konvent zu versauern, wie ich. Hätte sie damals zu gerne mitgenommen und eine ehrbare Frau aus ihr gemacht, als meine Eltern mich wieder nach Hause geholt haben. War sogar bei ihrer Äbtissin, um sie freizukaufen, aber die hat mich einfach nur in hohem Bogen rausgeworfen und zwei Doggen auf mich gehetzt, kreischend wie eine Harpyie.

War auch mindestens genauso hässlich wie eine Harpyie und dazu noch die Muhme von meiner kleinen Nonne – die Tante oder die Base oder Gott weiß was. War jedenfalls so verkniffen und hartherzig, wie eine vertrocknete alte Jungfer nur sein kann. Hätte mich am liebsten exkommunizieren und auch noch rädern und vierteilen lassen, die miese alte Nebelkrähe, weil ich eine Braut Christi entweiht habe und so. Hat mir fast das Herz gebrochen, als ich mich aus dem Staub machen und das Mädchen bei ihr zurücklassen musste. Ich hab nie erfahren, was aus dem armen Ding geworden ist. Ist jetzt wahrscheinlich selber die Äbtissin von diesem trostlosen Gänsestall."

Er legte eine Atempause ein, bevor er wehmütig fortfuhr: „Aber Margot... das ist eine ganz andere Klasse... Schön wie ein Bild... Helena von Troya muss so ausgesehen haben wie sie. Eine Frau, für die jeder Mann Festungsmauern stürmen und töten würde!

Ich habe sie wirklich begehrt, so viel kann ich jetzt immerhin zugeben – zumindest Euch gegenüber. Ich wollte sie haben, seit ich sie zum allerersten Mal gesehen habe."

Als ob das nicht von Anfang an klar gewesen wäre. Wer von uns hätte das nicht vermutet?, dachte der Maître sardonisch.

DochLe Gris starrte versonnen vor sich hin.

„Glaubt Ihr an Vorsehung?", fragte er schließlich. „Ich schon. Ich glaube nicht, dass wir uns zufällig über den Weg gelaufen sind, Margot... Marguerite und ich. Es war Bestimmung. Ja, wir waren eindeutig füreinander bestimmt. Ihr Vater hätte sie einfach mirgeben sollen, statt sie später an Jean zu verschachern. Der hat sie doch nie richtig zu würdigen gewusst. Und das nur, weil ihre Mitgift geringer ausfiel, als dieser habgierige Raffzahn es sich ausgerechnet hatte...

Ich dagegen hätte Marguerite jederzeit auch so geheiratet. Mit Handkuss! Sogar dann, wenn sie völlig mittellos gewesen wäre. Obwohl Graf Pierre ihrem Vater natürlich auch Aunou-le-Faucon gelassen hätte, wenn sie mich geheiratet hätte. Er hätte niemals etwas angetastet, was zur Mitgift meiner Frau gehört. Sie hätte das Gut also behalten können. Und ich wäre sogar zu einer langen Verlobung bereit gewesen, weil sie doch erst fünfzehn war."

Der Anwalt, der diesen Reminiszenzen bisher nur mit halbem Ohr zugehört hatte, merkte plötzlich auf.

Erst fünfzehn?! Wieso denn das?

„Ja, ich hätte auf sie gewartet – jahrelang! Aber ihr Vater, dieser Tropf..."

„Ich dachte, Ihr hättet Dame Marguerite erst im Frühling 1384 kennen gelernt", unterbrach Le Coq ihn scharf.

„Auf dem Fest bei den Crespins? Nein, da habe ich sie nur wieder getroffen. Kennen gelernt habe ich sie 1377, als ich im Auftrag von Graf Pierre bei ihrem Vater war, um seine Steuerschulden einzutreiben. Am Michaelistag war das, das weiß ich noch ganz genau... Und sie war damals schon eine wahre Augenweide. Sie war wahrhaftig der einzige Lichtblick in dieser trübseligen kalten dunklen Halle, in der dieser Geizhals mich empfangen hat. Ich habe mir fast die Kronjuwelen abgefroren, weil er mich dort einfach sitzen gelassen hat, ohne auch nur den Kamin anzünden zu lassen.

Und das endlose Gejammer, das ich mir von dem Mann anhören musste! Die üblichen Ausreden: Er kann nicht zahlen, nein, auf keinen Fall... Die Pest hat die Hälfte von seinen Leibeigenen geholt und die Engländer den Rest... Seine Viehställe sind leer und seine Scheunen niedergebrannt... Die Dörfer sind dem Erdboden gleichgemacht, alle Felder verwüstet und so weiter und so fort. Bla bla bla...

Dabei hat er bestimmt nicht viel von den Engländern mitbekommen – die lassen Verräter wie Robert de Thibouville doch in Ruhe."

Das stimmte so nicht ganz. Truppen auf dem Vormarsch hatten meistens keine Ahnung von den Bündnissen ihrer Anführer mit den einzelnen Burgherren in der unmittelbaren Nachbarschaft. Und sie interessierten sich auch herzlich wenig dafür, zumal diese Pakte ohnehin oft nur sehr flüchtiger Natur und daher alles andere als zuverlässig waren. Der übergelaufene Alliierte von gestern konnte morgen schon wieder ein überzeugter Parteigänger seines Königs sein und ohne die leisesten Skrupel aus dem Hinterhalt heraus über die Kohorten herfallen, die er laut Abkommen eigentlich unterstützen oder zumindest ungeschoren weiterziehen lassen sollte.

Deshalb sammelten Soldaten, die auf Fouragetour unterwegs waren, grundsätzlich Proviant für ihre jeweilige Heereseinheit ein, ohne sich auch nur im geringsten darum zu kümmern, wem genau sie damit schadeten. Und sie gingen dabei nicht zimperlich vor. Sie plünderten, brandschatzten und mordeten sich kreuz und quer durch die Gegend. In vom Krieg verheerten Landstrichen blieb für gewöhnlich kein Stein auf dem anderen und kein Auge trocken.

Außerdem gab es nicht nur die reguläre Soldateska, die sich mit der Zerstörungskraft einer Flutwelle durch das Land wälzte, sondern auch Rudel von desertierten Marodeuren oder schlicht und einfach Banden von Straßenräubern, die die herrschende Gesetzlosigkeit schamlos und erbarmungslos ausnutzten, um sich selbst zu bereichern.

Es war also davon auszugehen, dass auch Robert de Thibouvilles Hab und Gut nicht von diesen Raubzügen verschont geblieben war – egal, was Jacques le Gris davon halten mochte. Vielleicht hatten die Engländer, die seine Ländereien heimgesucht hatten, sich dort sogar mit Absicht besonders brutal ausgetobt, um Sire Robert das Wendehals-Manöver heimzuzahlen, mit dem er erst kurz zuvor die Fronten gewechselt hatte. Es war immer riskant, sein Fähnchen nach dem Wind zu drehen – letzten Endes verabscheuten beide betrogene Parteien den Abtrünnigen und tendierten dazu, an ihm Vergeltung zu üben. Was den König anging, so hatte er Großmut gezeigt – aber erst nachdem Thibouville in einer demütigende Demonstration totaler Unterwerfung vor ihm auf die Knie gefallen war und um Gnade gebettelt hatte. So hatte es Sire Robert geschafft, dem Richtblock um Haaresbreite zu entgehen. Aber nicht einmal diese Selbsterniedrigung hatte ihn vor der Verachtung seiner loyaleren Standesgenossen bewahrt, die ihm seither geschlossen die kalte Schulter zeigten.

Angesichts dieser Umstände war es durchaus nachvollziehbar, dass weder Pierre d'Alencon noch sein Abgesandter gewillt gewesen waren, Thibouvilles Rechtfertigungen gelten zu lassen. Auch für einen geschrumpften Besitz mussten die vorgeschriebenen jährlichen Abgaben entrichtet werden. Das galt für alle Vasallen. Warum hätte man also ausgerechnet einem schwarzen Schaf wie Sire Robert eine weitere Stundung einräumen sollen?

„Und mitten in seinem Wehgeschrei kam Margot... also Marguerite herein, um uns Bier zu servieren. Ordinäres Bier! Also wirklich! Dabei hatte ihr Vater eine ganz nette Auslese in seinem Weinkeller, der knauserige Pfennigfuchser. Die habe ich dann aus purem Trotz auch gleich mitgenommen...

Na ja, das hat er mir wohl übel genommen. Er hat mir alles übel genommen. Er war schon so abweisend, als ich mit meinen Leuten durch sein Tor geritten bin. Und nachdem ich ihm klar gemacht hatte, dass unser Graf nicht länger warten will und dass er mich geschickt hat, um alles einzusacken, was an Naturalien da ist, wenn man mir schon keine klingende Münze geben kann, da wurde er sofort pampig. Nicht dass ihm das etwas genutzt hat – ich hatte eine Generalvollmacht dabei und genug bis an die Zähne bewaffnete Männer, falls irgend jemand zu pampig wird.

Aber als ich ihm dann auch noch vorgeschlagen habe, ein Stückchen Land rauszurücken um seine erheblichen Rückstände auszugleichen – am besten Aunou-le-Faucon wegen seiner günstigen Lage! –, da wurde er schon richtig barsch. Er sagte mir ganz schroff, dass er dieses Land schon als Aussteuer für seine Tochter vorgesehen hätte und dass er sich lieber an den Daumen aufhängen lassen würde – von den Zinnen seiner Burg! –, als auch noch dieses Gut herzugeben und es Graf Pierre in den Rachen zu stopfen.

Ich gab ihm darauf die Antwort, die er verdient hatte, und wir haben uns ein bisschen in die Wolle bekommen. Ich musste ziemlich deutlich werden, bis er endlich nachgab...

Es war wahrscheinlich nicht besonders taktvoll oder klug von mir, ihn dann gleich am nächsten Morgen um Margots Hand zu bitten, aber das Mädchen gefiel mir eben. Sie gefiel mir ganz außerordentlich gut und man muss schließlich das Eisen schmieden, so lange es noch heiß ist, nicht wahr? Es war eine günstige Gelegenheit für uns alle... Ich meine, ich hätte ihm aus der Klemme geholfen und Margot hätte einen Ehemann bekommen, der sie anbetet und nicht ihren Geldbeutel. Ich verstehe einfach nicht, warum Thibouville sich so darüber aufgeregt hat... Man hätte meinen können, ich hätte versucht ihn zu erpressen oder so was. Jedenfalls hat er mich sofort abgeschmettert und er war unglaublich grob dabei.

Ich war natürlich sehr verärgert... Was hat der Mann sich eigentlich dabei gedacht? In seiner Situation hätte er meinen Antrag wirklich annehmen sollen. Es war ja nicht so, als hätte er für sie ein besseren Angebot in Aussicht gehabt. Er war damals ein Ausgestoßener, er war fast schon geächtet. Und wer ist in diesen Zeiten, in denen wir alle unbedingt zusammenhalten müssen, schon dazu bereit, die Tochter von so einem Judas in sein Haus aufzunehmen?"

Der Anwalt nickte nur. Die Sünden der Väter fielen unweigerlich auf ihre Kinder zurück. Und Hochverrat am König war ein Vergehen, das nicht ohne Weiteres wett gemacht werden konnte. Es gab Taten, die unentschuldbar waren – oder wenigstens dauerte es eine ganze Weile, bis sie einigermaßen verziehen wurden. Und nun verstand er auch endlich, wie es überhaupt zu der Hochzeit zwischen der gut betuchten Demoiselle de Thibouville und dem alles andere als wohlhabenden Jean de Carrouges gekommen war. Sire Robert hatte sich ursprünglich zweifellos eine viel glanzvollere Zukunft für seine Tochter erträumt, aber weder Marguerites solide Mitgift noch ihre Schönheit hatten ihr zu einer angemessenen Verbindung verholfen. Der Zugang zu einer wirklich guten und angesehenen Familie mit einem eigenen Vermögen im Hintergrund war ihr verwehrt geblieben.

„Es war wirklich zu schade. Ich hätte dieses Mädchen auf Händen getragen!", sagte Le Gris melancholisch. „Und das nicht nur weil sie die Anmut einer Elfe besaß. Mir lag auch an anderen Dingen. Man würde es nicht denken, wenn man sie so ansieht, aber in diesem hübschen Köpfchen steckt ein erstaunlich wacher Geist. Das habe ich sofort gemerkt, als ich mich kurz mit ihr unterhalten habe...

Ich war in den Garten gegangen, um Wasser zu lassen und mich von dem ganzen Gezeter in der Halle zu erholen. Margot saß auf einer Bank unter einer Rosenlaube und sie hielt ein Buch in der Hand. Ich dachte zuerst, dass sie einen Psalter hat und dass sie sich einfach nur die bunten Bilder ansieht oder ein paar Psalmen herunter leiert, die sie auswendig kann, weil man sie ihr von klein auf mit der Rute eingebläut hat.

Aber sie hat darin gelesen. Ich meine, wirklich gelesen. Laut, mit ihrem Finger an der Zeile. Und als ich näher kam, habe ich gesehen, dass es der Roman de la Rose war. Sie konnte nicht nur lesen, Maître, sie las Poesie!Ich wollte es zuerst nicht glauben, also stellte ich ihr ein paar Fangfragen. Und sie antwortete mir richtig und plapperte dabei selber wie ein Buch.

Ich war einfach hin und weg... Was für ein hinreißendes Geschöpf und absolut faszinierend! Ich hatte einen wahren Stern gefunden und ich wollte ihn für mich haben. War das so anmaßend von mir? Nein! Es gab doch weit und breit keinen besseren Freier für Margot als mich. Und wer hat sie stattdessen bekommen? Ausgerechnet dieser arme Schlucker! Jean de Carrouges – ein Flegel und Rohling, ein Dummkopf, der kaum seinen eigenen Namen buchstabieren kann!"

Le Coq, der selber gerade eine melancholische Anwandlung hatte, sagte sich, dass bedauerlicherweise die meisten Edelleute in diesem unglückseligen Zeitalter Flegel und Rohlinge waren – vor allem dann, wenn es um ihre besseren Hälften ging, die sie oft genug wie Zuchtstuten behandelten oder sogar noch schlechter als das. Und die wenigsten dieser Herren konnten ihren eigenen Namen buchstabieren oder sogar richtig lesen und schreiben. Sie waren fast alle Analphabeten und sie waren auch noch stolz darauf, weil sie alles, was über ihren reichlich engen Horizont hinausging, für unmännlich hielten. Bücher waren etwas für Geistliche oder ähnlich entmannte Kreaturen und Gedichte reiner Weiberkram, den höchstens Minnesänger in Form von melodischem Geträller zum Besten geben durften und auch das lieber nur unter den Argusaugen des Hausherrn oder eines ähnlich wachsamen Anstandswauwaus.

„Ja, ich wollte sie haben, von Anfang an. Aber es sollte wohl nicht sein. Na ja, andere Väter haben auch schöne Töchter. Also fand ich mich damit ab, ging wieder meiner Wege und heiratete einfach eine andere.

Doch Margot konnte ich nie ganz vergessen, wenn ich ehrlich bin. Und als ich sie bei den Crespins wieder gesehen habe, da habe ich mich wirklich darüber gefreut. Und hätte sie mir damals auch nur den kleinsten Wink gegeben, dass sie einverstanden ist, dass sie mich auch haben will, ich hätte sie mit Freuden sofort... Also ich hätte dann nur zu gerne getan, was wohl jeder Mann an meiner Stelle getan hätte. Doch so war es nicht. Ich habe sie nicht angerührt." Und dann mit so viel Nachdruck, als müsste er das noch mal extra bekräftigen: „Ich habe ihr keine Gewalt angetan. Nicht ein Haar habe ich ihr gekrümmt!"

Der Spürhund in Le Coq war sofort wieder hellwach.

Was zum Henker...?!

Doch er hakte nicht nach. So wie es aussah, war das auch gar nicht mehr nötig. Aber falls es doch noch zu einer weiteren Verhandlung kommen sollte, dann würde er seinem Mandanten klarmachen müssen, dass er sich soeben verplappert hatte, ein Lapsus, der nie wieder vorkommen durfte. Denn zwischen „nicht anrühren" auf der einen Seite und „keine Gewalt antun" beziehungsweise „nicht ein Haar krümmen" auf der anderen Seite lag eine Kluft voller unterschwelliger Implikationen, die jeder halbwegs scharfsinnige Richter mit spitzfindiger Genauigkeit Silbe für Silbe auseinander pflücken und ausforschen würde, indem er den Angeklagten mit dem größten Vergnügen ins Kreuzverhör nahm und ihm auf den Zahn fühlte, bis er ihn zum Schwitzen brachte.

Der Maître hielt sich erneut vor Augen, was er schon so oft gedacht und sogar in seinem Tagebuch verewigt, aber noch nie laut ausgesprochen hatte: Letzten Endes gab es nur zwei Leute, die ganz genau wussten, was sich am 18. Januar dieses Jahres im Schlafgemach in dem Herrenhaus von Capomesnil wirklich abgespielt hatte. Und je länger er über diesen Fall nachgrübelte, desto sicherer war der Anwalt, dass beide logen. Und das war nur auf den ersten Blick ein Widerspruch. Denn die Wahrheit hing immer von dem ganz persönlichen Standpunkt ab. Und daher hatte jede Geschichte mindestens zwei und oft völlig konträre Seiten (meistens sogar noch viel mehr, ungefähr so viele Seiten wie beteiligte Personen!), so dass irgendwie jeder log und doch gleichzeitig die Wahrheit sagte, weil es seine ureigene Wahrheit war.

Offenbar bemerkte Le Gris, dass er einen Fehler gemacht hatte, denn er wiederholte ein wenig fahrig: „Wie schon gesagt: Ich habe Margot... Marguerite nicht angerührt. Niemals! Und deshalb ist es mir auch völlig schleierhaft, warum sie sich eine so üble Geschichte aus den Fingern gesaugt hat. Wie konnte sie mir das nur antun?!"

Jetzt wurde er wieder zornig, wie Le Coq mit Bedauern feststellte. Die Weichheit, die sich zusammen mit seinen Erinnerungen an eine viel unschuldigere Phase in seiner Beziehung zu Marguerite eingeschlichen hatte, verhärtete sich erneut zu kompromisslosem Groll, durchzogen von dem Wunsch zurückzuschlagen, ihr alles heimzuzahlen.

Und so wie es aussah, hatte sein Mandant sogar noch mehr Grund zur Vergeltung. Der Verdacht des Anwalts bestätigte sich, als Le Gris bellte: „Und so was wollte ich tatsächlich mal heiraten... Mein Bett und mein Leben wollte ich mit diesem hochnäsigen hinterhältigen Luder teilen!"

Sie kann nichts dafür, dass ihr Vater ihn abgelehnt hat. Sie hat wahrscheinlich nicht einmal von seinem Antrag erfahren. Aber das hat er völlig verdrängt oder es ist ihm inzwischen einfach gleichgültig. In seinen Augen hat sie ihn verschmäht. Ich frage mich, wie lange er schon über dieser Zurückweisung brütet. Und es war vielleicht gar nicht die einzige... Was ist, wenn er den großen Verführer raus gekehrt hat und dabei abgeblitzt ist?

„Ich war immer nett zu ihr! Und jetzt fällt sie mir in den Rücken... Sieht einfach eiskalt dabei zu, wie ich niedergemacht werde, die gemeine Schlampe!", brüllte der Junker.

Seine Stimme kippte bei den letzten Worten und er wurde von einem neuen Hustenanfall geschüttelt. Die ganze Aufregung bekam ihm nicht und der Anwalt war besorgter denn je.

Landry schien es genauso zu ergehen, obwohl er nichts anderes tat, als im Hintergrund zu stehen wie ein Zeltpfosten und mit offenem Mund zu gaffen. (Der hochinteressante Austausch zwischen den beiden älteren Männern riss ihn sichtlich mit. Le Coq ging davon aus, dass der genaue Inhalt ihres Gesprächs sich spätestens am Abend wie ein Lauffeuer verbreiten würde, wenn man nicht vorher einschritt und den Burschen mit einer geschickten Kombination aus Münzen und Ermahnungen mundtot machte.)

„Es geht Euch nicht gut, Messire. Und das mindert Eure Chancen in dem Kampf erheblich, das müsst Ihr doch einsehen. Ihr solltet nachher wirklich versuchen, den König davon zu überzeugen..."

„Gar nichts werde ich versuchen!", schnappte Le Gris kurzatmig, aber mit beträchtlicher Aggression zurück. „Und nichts auf der Welt könnte mich oder den König jetzt noch dazu bewegen, das Duell aufzuschieben oder sogar abzusagen. Also lasst mich endlich in Ruhe. Was ist nur los mit Euch? Warum liegt Ihr mir ständig mit diesem Unsinn in den Ohren?" Und dann mit plötzlichem Misstrauen: „Auf wessen Seite steht Ihr eigentlich?"

„Auf der Seite von allen, die diesen Tag überleben wollen", sagte der Anwalt hart. Er hatte es satt, um den heißen Brei herum zu reden.

Le Gris starrte ihn an. Im Halbdunkel des Zeltes waren seine geweiteten Pupillen so groß, dass sie mit seiner Iris zu verschmelzen schienen, was seine Augen mit einer undurchdringlichen Schwärze füllte. Der Maître erschauerte unwillkürlich unter diesem Blick. Es war, als ob der Tod selbst ihn anblickte...

„Verfluchter Winkeladvokat!" Es kam nur als kraftloses Flüstern heraus, aber die Emotion dahinter war so stark, dass es sich anhörte wie ein Aufschrei. „Ihr habt mir nie geglaubt, nicht wahr? Nicht ein Wort habt Ihr mir geglaubt!"

Le Coq stöhnte innerlich auf, aber er blieb fest.

„Wie oft muss ich Euch das noch erklären? Es kommt nicht darauf an, was ich glaube. Es kommt nur darauf an, was Ihr beweisen könnt. Und alle Eure Beweise haben sich in Luft aufgelöst, als sie überprüft wurden, und das wisst Ihr auch ganz genau, Messire. Ihr habt gelogen und Eure Zeugen auch.

Zuerst habt Ihr behauptet, dass Ihr an dem bewussten Tag gar nicht in Capomesnil wart, weil Ihr angeblich die ganze Woche ununterbrochen in Eurem Haus in Argentan verbracht habt, wofür sich Eure damaligen Knappen Adam Louvel und Jeannot Beloteau ausdrücklich verbürgt haben. Und Ihr habt dabei sehr viel Wert auf den Punkt gelegt, dass es angeblich unmöglich wäre, an einem einzigen Tag mitten im tiefsten Winter auf verschneiten Straßen eine Strecke von über vierzig Meilen zurückzulegen.

Doch das wurde von gleich zwei erfahrenen königlichen Kurierreitern widerlegt. Es ist sehr wohl möglich, das sogar bei schlechten Wetterverhältnissen zu schaffen – vor allem dann, wenn man unterwegs die Pferde wechseln kann. Und genau das habt Ihr auch getan, Messire, was sowohl der Gastwirt in dieser Schänke in Mortrée bestätigt hat als auch der Pferdehändler dort, bei dem Ihr Eure Gäule eingetauscht habt. Beide haben Euch sofort wieder erkannt!"

„Die Kerle hat Carrouges doch bestochen. Und die Kuriere auch", widersprach Le Gris.

Das war nun einfach lächerlich! Der Anwalt sah sich dazu genötigt, diesen Einwurf zu ignorieren. (Er hatte es auch satt, dass seine Intelligenz wieder und wieder beleidigt wurde!)

„Und als Eure Aussage so eindeutig widerlegt war, seid Ihr sofort zurück gerudert", dozierte er, streng wie ein Professor vor einem Prüfungsausschuss. „Ihr habt endlich zugegeben, dass Ihr Dame Marguerite an dem fraglichen Tag eben doch besucht habt. Und dann habt Ihr beteuert, dass nur Eure Angst vor einem ungünstigen Eindruck Euch dazu veranlasst hätte, Euch ein falsches Alibi zu beschaffen. In Wirklichkeit hättet Ihr doch nur ein paar Minuten bei ihr verbracht, höchstens eine Viertelstunde. Gerade genug Zeit, um ihr einen Gruß von den Crespins auszurichten und schnell noch einen Becher Glühwein mit ihr zu trinken, um Euch zu stärken, bevor Ihr Euch wieder auf den Rückweg macht. Ihr habt gesagt, Ihr seid noch vor dem Mittagsläuten aufgebrochen, weil der Weg so weit war und Ihr befürchtet habt, es würde dunkel werden, bevor Ihr Argentan erreicht."

„Es hat einen ungünstigen Eindruck gemacht, genau wie ich befürchtet habe – ich hatte also Recht", verteidigte sich der Junker. Doch es war nur ein schwacher Versuch, den Schein aufrecht zu erhalten und sein Gesicht zu wahren, und sie wussten es beide.

Der Anwalt ging auch jetzt nicht darauf ein, obwohl sich bei diesem hartnäckigen Mangel an Einsicht schon fast seine Zehennägel aufrollten. Er hätte nur zu gerne einen Blick in Le Gris Mund geworfen, um nachzusehen, ob sich seine Zunge schon schwarz verfärbte und anschwoll wie ein Kissen, wie es bei so notorischen Schwindlern ganz sicher irgendwann geschehen sollte – ein altes Ammenmärchen, das den Sagenkomplex um ungewöhnlich lange Nasen oder auffallend kurze Beine als sichtbare göttliche Strafe für ständiges Flunkern ziemlich plastisch abrundete.

„Das alles hat Eurer Glaubwürdigkeit schwer geschadet, Messire. Und als auch noch Beloteau in Paris wegen Vergewaltigung verhaftet und gehängt wurde, wart Ihr in den Augen von vielen so schuldig wie Kain."

„Aber dann kam Cathérine", trumpfte Le Gris auf.

„Ja, dann kam Dame de Lavalle. Gerade noch rechtzeitig. Wie praktisch für Euch", erwiderte der Maître trocken.

Der Junker besaß immerhin den Anstand die Augen niederzuschlagen, doch seine Verlegenheit hielt nicht lange an.

„Adam hat zu mir gehalten – sogar unter der Folter! Und diese kleine Magd aus Caposmenil auch. Sie sind beide dabei geblieben, dass Margot völlig freiwillig mit mir diese Hühnerleiter von einer Treppe raufgekraxelt ist und dass sie... Also dass ich nichts getan habe. Absolut gar nichts! Oder jedenfalls nichts, wofür ich mich schämen müsste."

Aber eine hochnotpeinliche Befragung ersten Grades ist noch gar keine echte Folter, dachte Le Coq, der auch jetzt gnädig übersah, dass sein Mandant sich gerade zum zweiten Mal verhaspelt hatte und das gründlich.

Es ist ein gewaltiger Unterschied, ob man zwei eingeschüchterte Dienstboten nur anschreit und ihnen Daumenschrauben unter die Nase hält und ihnen eine Streckbank zeigt, um sie noch mehr unter Druck zu setzen, oder ob man ihnen wirklich die Finger zerquetscht und sie auf die Bank spannt, bis ihre Knochen aus den Gelenken gerissen werden. Niemand schweigt unter der Folter oder jedenfalls nicht sehr lange. Und niemand lügt, nur um einem anderen den Hals zu retten, wenn er dafür solche Schmerzen ertragen muss.

Im übrigen war er davon überzeugt, dass zumindest die Magd der Carrouges tatsächlich bestochen worden war – und zwar von seinem Klienten! Außerdem war das Mädchen nicht besonders gut auf ihre Herrin zu sprechen, das hatte er schnell erfasst, als er sie selber noch einmal vernommen hatte. Er hatte bei ihr eine gewisse naive Böswilligkeit festgestellt, die auf einer allgemeinen Unzufriedenheit mit ihrem Arbeitsplatz oder eher mit ihrem ganzen Dasein beruhte. Seit sie ihre Bauernkate verlassen und ihren Dienst im Schloss angetreten hatte, hatte es offenbar viel Verdruss gegeben und vor allem eine Menge scharfzüngige Kritik an ihrer eher bescheidenen Kunstfertigkeit mit Spinnrad und Stopfnadel und Bügeleisen – kleine Querelen, wie sie jederzeit zwischen einer anspruchsvollen Hausfrau und einem nicht ganz so willigen (oder unfähigen) Gesinde vorkommen mochten. Die Kleine hatte eine „Stinkwut" (Zitat!) auf Dame Marguerite und sie hielt damit nicht gerade hinter dem Berg, wenn man sie aushorchte. Schon gar nicht, wenn man sie dabei ordentlich in die Zange nahm (natürlich nur im übertragenen Sinn!), was den Einsatz von realen Marterwerkzeugen sowieso obsolet gemacht hatte.

„Und auch wenn es ein schlechtes Licht auf mich wirft, dass ich ein bisschen geschwindelt habe, wer kann es mir verübeln, dass ich meinen Hals aus der Schlinge ziehen wollte? Keiner, der seine fünf Sinne noch beieinander hat! Diese Anklage ist ein großes Unrecht gegen mich. Ich bin unschuldig! Und es gibt immer noch genug Leute, die daran glauben. Es ist zu traurig, dass mein eigener Anwalt offensichtlich nicht dazu gehört", sagte Le Gris und jetzt klang er kalt und gefährlich.

Der Maître sah seine Felle davon schwimmen und dieses Mal unwiderruflich. „Messire...", begann er eindringlich.

„Nein! Schluss mit dem Theater! Ich habe mir jetzt wirklich genug Geschwafel von Euch angehört. Elender Rechtsverdreher... Ihr seid so ein Heuchler! Es geht Euch doch nur um Eure eigene Haut. Ihr habt Euch blamiert. Ihr habt versagt. Und jetzt lasst Ihr mich auch noch im Stich. Ihr wascht Eure Hände von mir wie Pilatus persönlich und schlagt Euch auf die Seite der Pharisäer... Ihr verlasst mich wie... ja, wie die Ratten das sinkende Schiff!"

„Und eine besonders fiese stinkige Ratte noch dazu!", rief Landry dazwischen. (Das letzte Überbleibsel von Le Gris' ehemaligem Knappen-Trio schien der Meinung zu sein, dass sein Herr verbale Verstärkung brauchte, aber niemand beachtete ihn.)

„Verräter!", polterte Le Gris.

„Ja, genau! Ein Verräter is' er auch! Ein richtiger Hundsfott!""

Noch nie waren seine wohlwollenden Absichten so missverstanden worden! Le Coq begriff, dass seine Mission so gut wie gescheitert war. Alles, was er jetzt überhaupt noch ins Feld bringen konnte, war ein Appell an etwas, das hoffentlich tiefer ging als verletzte Eigenliebe und Rachsucht. Vielleicht war es aber auch nur so eine Art Partherpfeil. Verlieren war hart und der Maître war nicht an Niederlagen gewöhnt. An Beleidigungen auch nicht...

„Wenn Euch das Schicksal der Mutter so egal ist, dann denkt wenigstens einmal an das Kind!"

„Was für ein Kind?"

„Ach, kommt schon! Ihr habt doch sicher davon gehört, dass Dame Marguerite im Herbst mit einem Sohn niedergekommen ist."

„Ja, sie soll geworfen haben. Es heißt, sie hat ihr Balg am selben Tag raus gequetscht wie die Königin den Dauphin. Aber was geht mich das an?"

Der Anwalt dachte daran, dass die Ehe der Carrouges über sechs Jahre lang kinderlos geblieben war, ganz im Gegensatz zu der des blutjungen Königspaars. Während Isabeau von Bayern schnurstracks ihren Verpflichtungen nachgekommen war, hatte Marguerite erst jetzt einen Sohn auf die Welt gesetzt – und das ziemlich genau neun Monate nach ihrer mutmaßlichen Vergewaltigung. Zufall? Vielleicht. Es war natürlich nicht unmöglich, aber andererseits konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass Jean de Carrouges, eben heimgekehrt von einem anstrengenden (und erfolglosen) Feldzug im schottischen Grenzland und schockiert und angewidert von den jüngsten Ereignissen unter seinem eigenen Dach, seine frisch geschändete Gemahlin einfach ins Bett gezerrt haben sollte, um sofort nachzuholen, was er bislang versäumt hatte: Die Zeugung des langersehnten Stammhalters.

„Es geht Euch eine Menge an, würde ich sagen. Dieser Junge könnte immerhin die Frucht Eurer Lenden sein."

Und als Le Gris prompt auf ihn zukam, mit geballten Fäusten und beseelt von der Absicht, sie auch einzusetzen, quiekte der Anwalt, während er bemerkenswert schnell drei Schritte zurückwich: „Oder welcher Lenden auch immer... Trotzdem: Wollt Ihr, dass der arme Wurm als Vollwaise aufwächst? Mit dem ewigen Schatten von Illegitimität und einem noch schlimmeren Skandal über seinem Kopf wie ein Damoklesschwert?"

„Das hätte sich diese Dirne von einer Mutter früher überlegen sollen – bevor sie wie eine Furie auf mich losgegangen ist und alle gegen mich aufgehetzt hat! Ich hätte sie für klüger gehalten."

Also wenn das kein Geständnis ist, dann weiß ich auch nicht...

Doch der Maître empfand keinerlei Genugtuung angesichts dieses unerwarteten Bekenntnisses. Warum auch? Niemand hatte etwas davon. Schon gar nicht er selbst. Außerdem war er viel zu sehr damit beschäftigt, die ziemlich massiven Fäuste im Auge zu behalten, die seinem Kehlkopf inzwischen beunruhigend nahegekommen waren. Zumindest hatten sie ihn am Kragen gepackt und beutelten ihn nun durch wie ein Bullterrier einen abgenagten Schinkenknochen. (Landry machte übrigens keine Anstalten, ihm zu Hilfe zu eilen. Stattdessen rang er unübersehbar mit einer einsamen Entscheidung, ob er sich einmischen und handfeste Unterstützung beim Durchbeuteln anbieten sollte!)

In diesem heiklen Augenblick wurde die Flappe über dem Zelteingang von einer anderen Faust zurückgeschlagen. Ein eisiger Luftzug wehte eine drahtige und noch recht jugendlich wirkende Gestalt herein, die ebenfalls vom Hals bis zu den Füßen gepanzert war, als müsste sie sich auch gleich einem Zweikampf stellen. Doch der seidene Surcot über seiner Rüstung (wieder mal ein Wappen mit den königlichen Lilien von Frankreich, die aber jetzt mit drei heraldischen goldenen Türmen auf rotem Grund dekoriert waren) enttarnte ihn nur als Le Gris' Sekundanten: Es war Philippe d'Artois, der Graf von Eu, der seinen Schützling abholen wollte, um ihn dorthin zu geleiten, wo seine Nemesis bereits der Dinge harrte, die da kommen sollten.

Die Brauen des jungen Grafen schossen in die Höhe, als er beim Hereinkommen das seltsame Tableau sah, das ihm präsentiert wurde, aber er war zu höflich, um sich dazu zu äußern, was vielleicht auch besser war.

„Es ist so weit, mein Freund", verkündete er feierlich wie ein Zeremonienmeister. „Seid Ihr bereit?"

Le Gris entließ sein Opfer so abrupt aus seinem Beinahe-Würgegriff, dass der Anwalt ein bisschen ins Taumeln geriet. (D'Artois Brauen wanderten noch ein wenig höher.)

„So bereit wie ich nur kann", sagte er mürrisch und wackelte mit einem gekrümmten Zeigefinger auffordernd in Landrys Richtung.

Der Knappe verlieh seiner Enttäuschung über die verpasste Rauferei mit einem lauten frustrierten Schnaufer Ausdruck, rückte aber sofort gehorsam vor, um die noch übrig gebliebenen Panzerhandschuhe zu überreichen. Le Gris stieß seine Pranken hinein und Landry schnallte sie um seine Handgelenke fest. Auch der Schwertgurt seines Gebieters, der leicht nach unten gerutscht war, weil er etwas zu lose über dem Waffenrock gebaumelt hatte, wurde hastig wieder zurecht gerückt und vorsichtshalber noch ein Loch enger gemacht.

„Ihr habt also schon Euren Frieden mit Gott gemacht?", erkundigte sich d'Artois. (Was er damit wirklich meinte, war, ob Le Gris inzwischen gebeichtet und die Letzte Ölung erhalten hatte, aber er war natürlich zu feinfühlig, um es mit so plumper Direktheit auszudrücken.)

„Mit Gott ja", klang es grimmig zurück.

„Gut", sagte der Graf knapp. „Dann kommt jetzt mit mir."

„Wartet noch einen Moment, Monseigneur – und bitte draußen. Ich habe hier drinnen noch etwas zu erledigen."

„Aber...!" D'Artois bremste den Einspruch, der aus ihm heraus wollte, mit sichtlicher Mühe gerade noch ab. Es ging schließlich mit hoher Wahrscheinlichkeit um den berühmten letzten Wunsch eines Verurteilten, also musste man Nachsicht zeigen.

„Na gut, ich warte. Wir alle warten", sagte er bedeutungsvoll und ging wieder hinaus, wo er von einem mehrköpfigen Gefolge in Empfang genommen wurde, das bereits neugierig die Hälse reckte und zu erkennen versuchte, was sich in dem Pavillon abspielte.

Der Maître rechnete schon damit, dass er doch noch eine höchst unverdiente Abreibung bekommen sollte (was sonst musste hier erledigt werden?!), aber Le Gris kam nicht näher. Er blieb stehen, wo er war, ein paar Schritte entfernt, und Le Coq sah mit Erleichterung, dass der Junker sich wieder gefasst hatte, obwohl er jetzt noch erschöpfter wirkte als zuvor. Sein fahler Teint wirkte in dem Dämmerlicht beinahe grau und trotz der Kältestanden dicke Schweißtropfen auf seiner Stirn, die langsam über seine kantigen Backenknochen abwärts perlten.

Er hat sich so reingesteigert, dass er schwitzt wie eine uralte Mähre nach einem scharfen Galopp. Mein Arzt würde sagen, er hat zu viel gelben Gallensaft in sich wie alle Choleriker und muss dringend zur Ader gelassen werden. Ich denke, er hat viel zu viel Rebensaft in sich und muss ganz dringend ausgenüchtert werden. Aber wie? Es ist zu spät. Und wohl nicht nur dafür...

„Wenn dieser kleine Bankert von mir wäre, dann wäre er inzwischen tot", sagte Le Gris schroff, aber immerhin viel leiser als bei seinem Ausbruch eben. „Oder glaubt Ihr ernsthaft, Carrouges würde zulassen, dass mein Bastardsohn eines Tages seine paar schäbigen Äcker und diese Bruchbude von einer Burg erbt? Eher würde er ihm noch in der Wiege ein Kissen aufs Gesicht drücken, sobald die Amme ihm den Rücken zukehrt. Er hätte es bestimmt schon getan, wenn er nicht davon überzeugt wäre, dass dieses Fohlen aus seinem Stall ist."

„Vielleicht scheut er aber auch nur davor zurück, ein kleines Kind eigenhändig zu ersticken. Vielleicht lässt er einfach der Natur ihren Lauf. Viele Kinder sterben lange bevor sie irgendein Erbe antreten können."

Er IST der Vater. Ich kann es gar nicht sein."

Weil nicht sein kann, was nicht sein darf? Du machst es dir wirklich ziemlich einfach.

„Das werden wir nie mit Sicherheit wissen, Messire."

„Das müssen wir auch gar nicht...

„Allerdings solltet Ihr es trotzdem in Betracht ziehen und daher..."

„...denn sogar wenn ICH der Vater wäre, würde es absolut keine Rolle mehr spielen. Es würde keinen Unterschied machen." Und dann mit einer Endgültigkeit, die nur durch einen Unterton seine Resignation verriet: „Ich werde nicht tun, was Ihr von mir erwartet, Maître. Auf gar keinen Fall!"

„Um Himmels willen! Warum nicht? Ihr könntet doch wenigstens..."

„Nein, kann ich nicht", unterbrach Le Gris ihn. „Die Sache ist einfach zu weit gegangen. Wenn ich jetzt einen so feigen Rückzieher machen würde, könnte ich niemandem mehr in die Augen sehen – schon gar nicht mir selbst." Und dann mit einer ergreifenden Schlichtheit, die nicht nur seine Einstellung, sondern auch sein essenzielles Wesen auf den Punkt brachte: „Ein Mann muss tun, was ein Mann eben tun muss."

Allmächtiger! Ich wette, genau das hat auch Alexander der Große gesagt, als er den Gordischen Knoten durchgehackt hat... Und Julius Cäsar, bevor er in einen Senat voller Messer hinein spaziert ist... Und Marc Anton, als er bei Actium Cleopatra einen Abschiedskuss gegeben hat und auf sein Schiff geklettert ist... Vielleicht sogar der idiotische Urgroßvater von unserem König, bevor er bei Crécy die Blüte des Adels und noch ein paar tausend andere Unglücksraben genau in die Schusslinie der besten Bogenschützen der Welt hinein gejagt hat... Mit so einem Spruch sind schon ganze Imperien den Bach runtergegangen!

Le Gris nahm ein Leinentuch auf, das der fürsorgliche Landry ihm gegeben hatte, und tupfte sich etwas unbeholfen Stirn und Wangen ab. Die lockigen Strähnen, die ihm bis in die Augen hingen, waren klitschnass. Er wischte sie ungeduldig zurück, bevor er sich eine engmaschige Kettenhaube über den Kopf streifte und dann nach dem eigentlichen Helm griff, einer sogenannten Hundsgugel. Er fuhr mit seinem metallumhüllten Zeigefinger sachte erst über die spitz zulaufende Beckenhaube und dann über den vorspringenden Dorn der namengebenden eisernen Schnauze, die das Visier unterhalb der schmalen Sehschlitze ausmachte, als wollte er sie auf ihre Schärfe testen.

Sogar der Helm ist eine Waffe! Mit diesem Dorn kann er wirklich ohne Weiteres einem gewissen Jemand die Halsschlagader aufschlitzen. Und wahrscheinlich ist es genau das, was er sich gerade ausmalt...

Doch wie sich gleich darauf herausstellte, war es etwas ganz anderes, das Le Gris in diesem Moment durch den Kopf ging.

„Tut mir Leid, dass ich eben so grob zu Euch war." Er biss sich auf die Unterlippe – diese Entschuldigung fiel ihm nicht leicht. „Das hätte ich nicht tun dürfen. Ich weiß, dass Ihr es nur gut gemeint habt. Aber ich war so aufgebracht... Ich dachte wirklich, Ihr lasst mich auch noch fallen – wie so viele andere. So viele, die sich früher meine Freunde genannt haben und die mich jetzt meiden, als wäre ich aussätzig. Ich bin froh, dass das heute aufhört – so oder so. Ja, es tut mir Leid. Verzeiht mir, wenn Ihr könnt."

„Ich habe Euch schon verziehen, Messire. Ich verstehe Euch nur zu gut." Le Coq zauderte, aber er konnte es nicht sein lassen. „Ich wünschte nur, Ihr würdet auf mich hören."

„Und ich wünschte, ich könnte den Lauf der Sonne um ein Jahr zurückdrehen und verhindern, dass... Nun, was auch immer ich dann verhindern könnte."

Le Gris klemmte sich den Helm unter den rechten Arm und berührte mit seiner stahlverkleideten linken Tatze und mit gebührender Vorsicht die etwas unentschlossen zum Gegengruß erhobene Hand des Anwalts. „Vergesst, was ich vorhin gesagt habe. Ihr seid der schlaueste Federfuchser, der je mit Paragraphen jongliert hat wie ein Gaukler mit Kegeln. Danke für alles, Maître. Und für den Fall, dass wir uns nachher nicht mehr sehen... Lebt wohl."

Le Coq war so bewegt, dass er kaum die Worte an dem Kloß in seinem Hals vorbei brachte. „Gott schütze Euch, Messire."

„Ja. Vielleicht wird er das. Wenn ich Glück habe..."

Der Junker wandte sich ab und schritt hinaus. Landry klebte ihm an den Fersen, beladen wie ein Packesel mit einem großen dreieckigen Schild, einer schweren Streitaxt, zwei Speeren und einem undefinierbaren Bündel, das an einem Schnürriemen über seinem Rücken hing. (Die Waffen eines Kriegers und höchstwahrscheinlich auch Verbandsmaterial und andere Utensilien für die erste oberflächliche Wundversorgung.)

Der Anwalt schloss sich ihnen an. Doch als sie alle gemeinsam aus dem Zelt traten, stieß Le Gris plötzlich einen Schmerzenslaut aus. Er ließ die Hundsgugel fallen, bückte sich und umklammerte seine Wade.

„Was ist?", rief der Graf von Eu zu ihnen herüber.

„Hat sich die Beinschiene gelockert, Messire?", fragte Landry alarmiert.

„Nein. Ich habe einen Krampf... Gottverdammt, ausgerechnet jetzt!", fauchte Le Gris.

Er streckte das Bein aus. Er bohrte seinen Absatz in den matschigen Boden und bog die Zehen in dem schnabelförmigen Eisenschuh nach oben, um den zusammengeballten Muskel wieder auseinander zu zerren. Die Prozedur wirkte, denn ein paar Sekunden später hob Le Gris seinen Helm wieder auf und ging auf Philippe d'Artois und seine Begleiter zu, obwohl er jetzt leicht hinkte.

„Wird es denn gehen?", sagte einer der Männer, ein stämmiger Blondschopf, der drei lange grün und weiß lackierte bewimpelte Lanzen in seiner Armbeuge hielt wie eine widerspenstige Geliebte oder eine exotische Vogelscheuche.

„Es muss!", knurrte Le Gris und humpelte verbissen weiter.

„Wir könnten Euer Pferd holen und Euch jetzt schon drauf setzen", bot der Lanzenträger an.

„Nein!", protestierte d'Artois. „Er kann doch nicht zu seinem Ritterschlag reiten! Das ist gegen die Regeln. Er muss zu Fuß gehen – als Zeichen von Demut und Bescheidenheit."

„Also zur Not kann ich auch auf den Knien hin rutschen. Es macht mir nichts aus, auf allen Vieren zu kriechen, wenn es unbedingt sein muss. Niemand soll mir später nachsagen, ich wäre nicht demütig oder bescheiden genug gewesen", brummte der Ritter in spe.

Der Graf von Eu verzog den Mund. Er war unzufrieden mit seinem Schützling. Ironie war jetzt nicht angebracht. (Nicht bei dem weihevollen Ereignis, das ihnen gleich bevorstand. Nicht bei dem ebenso weihevollen Tod, der dem Junker möglicherweise gleich danach bevorstand.)

„Das wird kaum nötig sein. Ihr könnt doch laufen, Jacques, oder nicht?"

„Ja, Monseigneur. Irgendwie schon. Wenn mich niemand tragen will..."

Und Sarkasmus schon gar nicht! D'Artois verdrehte die Augen gen Himmel. Hier half nur noch geballte Autorität.

„Wir müssen uns beeilen. Wir sind spät dran. Also los!", kommandierte er.

Die Gruppe setzte sich gehorsam in Bewegung und das sogar im Gleichschritt, was natürlich viel imposanter wirkte als ein lässiges Dahinschlendern.

Doch der Anwalt blieb kurz stehen, um einen gebührenden Abstand zu den Männern einzuhalten. Für jemanden aus seinem Stand ziemte es sich nicht, sich unter die hochgeborenen Seigneurs zu mischen wie unter seinesgleichen. Es verstieß eindeutig gegen die Regeln und er wusste jetzt schon, was der Graf von Eu davon halten würde – falls ihm eine so unwichtige Person wie ein gewöhnlicher Sterblicher überhaupt jemals auffiel.

Irgendwo beunruhigend dicht hinter ihm erklang plötzlich ein schrilles Wiehern und ein schwerfälliges Getrappel und irgendjemand brüllte mit Stentorstimme: „Der blöde Klepper hat sich losgerissen! Achtung da vorne!"

Der Maître warf zuerst einen Blick über seine Schulter und dann sich selbst zur Seite und zwar mit einem großen, aber etwas ungelenken Hüpfer. Und das war auch gut so, denn sonst hätte der gewaltige gescheckte Percheron-Hengst, der gerade auf ihn zuraste, ihn zweifellos zertrampelt. Aber so preschte das entfesselte schwarzweiße Ungetüm einfach an ihm vorbei, verfolgt von zwei Stallknechten, die in dem farbenfrohen Patois der Île de la Cité einen Schwall von lauten und erstaunlich vulgären Flüchen ausstießen.

Le Coq erhob sich mit leicht zerraufter Würde aus der seichten (und leider inzwischen angetauten!) Pfütze, in der er gelandet war, und besichtigte voller Widerwillen seine durchgeweichte und mit Schlammspritzern und anderen unangenehmen Dingen verunzierte Erscheinung. Er schimpfte vor sich hin, wobei er ganz allgemein alles verwünschte, was Hufe, schlechte Laune und noch schlechtere Manieren hatte und unverschämterweise sogar Pferdeäpfel absonderte.

Noch bevor er ganz damit fertig war, erspähte er Pierrot, der mit seiner Wasserkanne angerannt kam und dabei in einer Art Zickzack-Kurs um andere Rösser, Leute, Zelte und ähnliche Verkehrshindernisse Haken schlug wie ein Hase.

Er hat aber wirklich lange gebraucht, um einen anderen Brunnen zu finden. Und die ganze Mühe umsonst...

Le Coq entschied, dass er Pierrot über die Sinnlosigkeit seines Botengangs aufklären und ihn unter diesem Vorwand gleichzeitig darum bitten würde, ihm sowohl etwas Seifenwasser als auch eine helfende Hand zur Verfügung zu stellen. Eine sofortige Reinigung seines Umhangs war ratsam. Vielleicht konnte man ihn anschließend sogar neben dem Kohlebecken aufhängen und ein wenig trocknen lassen, wenn Pierrot so freundlich war, dem Anwalt seines Herrn so lange ein anderes Kleidungsstück auszuleihen. Le Gris' Reisetruhe war randvoll, sicher würde man darin etwas finden, das weder feucht war noch stank. Und hoffentlich würde es auch etwas wärmer sein als das durchnässte Gewand, das inzwischen mit dem Gewicht eines Scheffel Mehls von den Schultern des Maîtres hing.

Er fing den Jungen ab, bevor er in den Pavillon hinein flitzen konnte, und schilderte seine Misere. Pierrot erwies sich tatsächlich als gefällig und noch dazu als ziemlich geschäftstüchtig, denn Le Coq sah sich dazu gezwungen, erst mal drei Livres aus seiner Börse zu zaubern und sie in eine ziemlich schmuddelige Pfote zu drücken, bevor er wieder eintreten durfte. Er war noch verblüffter als der Junge, als sie gleichzeitig feststellten, dass sie nicht alleine in dem Zelt waren.

„Madame... was macht Ihr denn hier?"

Und wie zum Teufel hast du dich so schnell hier reingeschlichen, ohne dass ich dich gesehen habe?, überlegte der Anwalt.

„Maître Le Coq... was für ein unerwartetes Vergnügen!"

Cathérine de Lavalle machte einen winzigen Knicks, eine ganz flüchtig angedeutete Höflichkeitsgeste, die nicht einmal ihren bodenlangen Rock in Bewegung brachte. Es war eher ein Nicken oder vielleicht auch nur ein Zucken ihres sanft gewölbten Doppelkinns.

Doch eines stand fest: Das vollwangige Madonnengesicht unter dem hohen tütenförmigen Kopfputz sah alles andere als vergnügt aus. Sie war keineswegs erfreut über diese Begegnung – eher das Gegenteil. Ihre smaragdgrünen Augen verengten sich zu Schlitzen und ihr nur scheinbar entgegenkommendes Lächeln war so blass und dünn wie eine Mondsichel.

„Ich wollte nur noch mal kurz nach meinem guten alten Freund sehen", zwitscherte sie mit einer honigsüßen Falschheit, die dem Anwalt beinahe den Magen umdrehte. „Aber er ist wohl schon weg, wie?"

Als ob du das nicht haargenau gewusst hättest, du durchtriebene kleine Hexe! Du hast irgendwo da draußen gelauert und genau den Augenblick abgepasst, in dem niemand hier ist. Aber warum? Was hast du vor?

„Ja, er ist gerade eben weg", sagte er langsam. „Mit Monseigneur d'Artois."

„Oh! Wie schade..."

Sie zupfte nervös an der gekräuselten Spitzenborte, die den weißen Gazeschleier einfasste, der um ihren Hennin drapiert war wie ein Nebelstreif. Der Maître dachte leidenschaftslos, dass dieses brandneue Produkt der burgundischen Damenmode, das gerade überall Furore machte, Cathérine ausgezeichnet stand – vor allem deshalb, weil es ihre ziemlich niedrige Stirn und ihre allzu runden Pausbäckchen optisch vorteilhaft in die Länge zog, was vermutlich auch der einzige Zweck dieses albernen Zuckerhutes war.

Er war so davon in Anspruch genommen, diesen zierlichen Turm aus Brokat und Seidenbändern zu bewundern, dass es einen Augenblick dauerte, bis ihm noch etwas anderes auffiel: Der rund geschliffene Rubin, der auf Cathérins Ehering an ihrem Mittelfinger saß, funkelte im Licht der Öllampe schräg über ihr wie ein Dämonenauge. Denn ja, sie fummelte mit ihrer linken Hand an ihrer Kopfbedeckung herum, weil ihre Rechte verborgen zwischen den Falten ihres Mantels steckte. Und gleich darauf wurde ihm auch klar, warum sie hier war: Denn als er scharf hinsah, entdeckte er zwischen den rostbraunen Fuchsschwänzen, mit denen der moosgrünem Samt ihres Umhangs besetzt war, ein verdächtig vertrautes silbernes Glitzern. Sein Instinkt brachte ihn dazu, sofort zu dem Taburett hinüber zu lugen, aber das war jetzt leer, wie er schon vermutet hatte. Der kostbare Pokal war weg – oder so gut wie...

Sie kann sich wohl doch nicht von ihrem Talisman trennen, war sein erster Gedanke. Und dann mit plötzlichem Zorn: So eine Frechheit! Sie hat sich das Ding einfach zurück geholt, bei der erstbesten Gelegenheit. Also wirklich! Konnte sie nicht mal abwarten, bis der arme Kerl ins Gras gebissen hat? Und was macht sie, wenn er NICHT ins Gras beißt? Was macht sie, wenn er gewinnt und zurückkommt? Das könnte für unsere ach so großzügige Glücksfee noch ziemlich peinlich werden!

„Wie ich sehe, seid Ihr zutiefst besorgt um Messire Le Gris' Wohlbefinden, Madame", sagte er mit unüberhörbarem Zynismus. „Wenn Ihr Euch beeilt, könnt Ihr ihn noch einholen, bevor er den Platz erreicht. Denn natürlich wollt Ihr dabei sein und Eurem guten alten Freund in seiner schwersten Stunde beistehen, nicht wahr?"

„Ja, ja. Natürlich will ich das. Das ist meine Christenpflicht."

Keine Freundespflicht? Also DAS ist schade! Jammerschade...

„Dann lasst Euch nur nicht von mir aufhalten, Madame. Tempus fugit und so weiter. Adieu!", sagte er frostig und wedelte vage in Richtung Ausgang als müsste er ein verirrtes Huhn hinaus scheuchen.

„Adieu", hauchte sie und trat hastig den Rückzug an – oder versuchte es jedenfalls.

Der Maître beobachtete mit milder Schadenfreude, wie sich die Spitze ihres Hennins in dem Banner verhedderte, das über dem Eingang hing. Aber eines musste er dieser diebischen kleinen Elster lassen: Sie befreite sich sehr geschickt, ohne dabei ihre Kopfbedeckung oder ihre Beute oder auch nur ihre Fassung zu verlieren. Dann huschte sie hinaus.

Das Luder verschwendet keinen Gedanken daran, dass ein Unschuldiger ihretwegen Ärger bekommen könnte. Der arme Junge hier zum Beispiel...

„Hör mal", sagte er zu Pierrot, der ihm arglos einen schweren dunkelbraunen Wollumhang mit einer einfachen Bronzefibel hinhielt, den er inzwischen aus Le Gris' Habseligkeiten herausgekramt hatte. (Er hatte von dem Vorfall gar nichts mitbekommen.) „Wenn Messire Jacques oder Landry nachher noch etwas anderes vermissen sollten – ich meine, etwas anderes als diesen Mantel! – dann sag ihnen einfach, sie sollen mich danach fragen, ja?"

„Ja, Maître."

„Guter Junge! Und den hier bringe ich morgen zurück, keine Sorge", sagte er, während er sich in das mit Biberpelz verkleidete Gewebe hüllte.

„Ja, Maître."

Doch Pierrot sah trotz dieser Zusicherung bekümmert aus. Seine Sorgen gingen weit darüber hinaus, ob und wann der Umhang seinem Herrn zurückerstattet wurde.

Und plötzlich wurde Le Coq bewusst, dass das Schicksal seines Mandanten noch viel weitere Kreise ziehen würde, als er bedacht hatte. Und nicht nur das von Jacques Le Gris, auch das der Carrouges. Denn ganz gleich, wie das Duell ausging, das Ergebnis würde so oder so das Leben von vielen Menschen berühren und nachhaltig beeinflussen, es verändern, vielleicht sogar zerstören. Es war, als würde man ein Buntglasfenster mit einem Stein einwerfen. Das Loch in der Mitte mochte der Schaden sein, der zuerst ins Auge sprang. Aber was war mit den vielen feinen Rissen und Sprüngen, die von der Bruchstelle ausgingen wie die Fäden eines Spinnennetzes? Der leiseste Druck durch eine Berührung, durch einen Windstoß konnte das ganze fragile Gefüge auseinander fallen lassen und in einen Scherbenhaufen verwandeln. Die Zerbrechlichkeit des menschlichen Daseins...

Ach Papperlapapp!, dachte er gereizt. Was soll die Schwarzseherei? Es wird schon gut ausgehen. Und wenn nicht... nun ja... das Leben muss auch dann irgendwie weitergehen...

„Es wird alles gut – du wirst schon sehen", sagte er laut (und wider besseres Wissen).

Pierrot sah nicht sehr überzeugt aus. Er schien eher mit einem drohenden Weltuntergang zu rechnen.

Der Anwalt schüttelte die Beklemmung ab, die ihn erneut zu übermannen drohte, und sagte betont leichthin: „Komm mit mir, Junge. Wir wollen gemeinsam hingehen und sehen, wie Messire Jacques sich schlägt, ja?"

Pierrot sah sich um, etwas unsicher. Er wollte den Kampf auf keinen Fall versäumen, war aber auch nicht gewillt, das Zelt und die ganzen Besitztümer seines Herrn sich selbst zu überlassen. Es war teilweise Verantwortungsgefühl, teilweise Angst davor, wie sein Pflichtversäumnis geahndet werden würde.

„Niemand wird sich hier rein schleichen, um ein paar Kleider oder Bettzeug zu stehlen", sagte der Maître beschwichtigend.

Die wirklich wertvollen Sachen waren immerhin bereits weg – Le Gris' Geldbeutel hing gut bewacht an Landrys Gürtel und der kostbare Silberkelch befand sich wieder in den rosigen kleinen Krallen seiner ursprünglichen Besitzerin.

Und ich hoffe, ihr Glücksbringer bringt ihr von jetzt an Pech – alles Pech der Welt!, dachte Le Coq mit einer Gehässigkeit, die ihn selbst erstaunte.

Aber irgendwas an Cathérine de Lavalle hatte sein Blut ja von Anfang an in Wallung gebracht – oder seine eigenen Gallensäfte. (Obwohl er laut seinem Arzt der phlegmatische Typus und damit gegen solche Symptome grundsätzlich gefeit war!)

Vielleicht sollte ich mal wieder zur Ader gelassen werden. Obwohl das ein paar Blutegel sicher genauso gut hinkriegen...

„Hier ist nichts mehr zu holen. Und nun komm schon mit mir."

Er wanderte zurück in die feuchte Kälte. Und Pierrot zockelte fügsam hinter ihm her...


Fortsetzung folgt...

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