Währenddessen.
Von Tag I.
Elsie keuchte und begann zu murmeln. Sie hatte wieder einen Schüttelfrost Schub. Charles erhob sich aus dem Sessel, den er an ihre Seite geschoben hatte, und griff nach ihrer Hand unter der Decke, sie war eiskalt. Er nahm die Wärmepfanne unter der Decke neben ihren Füßen hervor, und zog anschließend die Decke um sie herum wieder straff.
Mit der Pfanne machte er sich leise zur Tür auf.
"Mr. Carson? Was halten Sie von der Idee, wenn Mr. Molesley das Dinner leitet und wir noch ein Foto machen. Es ist ganz grün im Keller.", zusammenhanglose Worte sprudelten aus ihr heraus.
Charles ging wieder zu Elsie zurück. Laut Dr. Clarkson bekäme sie in diesem Zustand nicht sehr viel von ihrem Umfeld mit, aber er wollte ihr dennoch eine Antwort auf ihre konfusen Sätze schenken. Vorallem wenn sie sich in so einem ungreifbaren Zustand zwischen Wachsein und Wirrheit befand, wollte er für sie da sein.
"Ich werde kurz zu Mrs. Dewshine gehen, dir deine Wärmepfanne wieder erhitzen. Ich bin in wenigen Augenblicken wieder zurück.", sprach Charles klar und deutlich, in der Hoffnung, mit seiner tiefen Stimme bis zu ihrem Bewusstsein durchzudringen, welches momentan hinter Nebel versteckt zu sein schien. Er befreite ihre Stirn von verschwitzten Haarsträhnen und nahm ihre Wange liebevoll in seine Hand. Er wünschte sich, dass er sich selbst so beruhigt fühlte, wie sich seine Worte eben anhörten. Innerlich zerstreuten ihn nämlich Hilflosigkeit und Sorge.
Als Charles merkte, dass Elsie wieder zur Ruhe kam, verließ er das Zimmer. Er saß nun schon den ganzen Tag bei ihr, wechselte ihr regelmäßig angefeuchtete Tücher an der Stirn, wenn sie Fieberschübe hatte, oder kümmerte sich darum, dass sie genügend Wärme hatte, wenn sie fror.
Am unbesetzten Empfangstresen angekommen, läutete er das Glöckchen und rief damit Mrs. Dewshine aus dem Büro hervor.
"Dürfte ich die Wärmepfanne noch einmal auf den Herd stellen?", fragte Charles die Pensionsbesitzerin.
"Mr. Carson," schnaufte sie mitfühlend. "Ich habe Ihnen am Vormittag schon gesagt - und vor zwei Stunden erst - dass Sie ungefragt dafür in unsere Küche gehen dürfen."
"Bitte verzeihen Sie, Mrs. Dewshine!", mitgenommen massierte sich Mr. Carson mit seiner freien Hand die Stirn.
"Na kommen Sie! Sie brauchen jetzt mal etwas anständiges im Magen.", sprach die freundliche Dame, nahm ihm die Wärmepfanne ab und führte ihn an seinem Rücken in die Küche. Sie deutete ihm am kleinen Holztisch Platz zu nehmen.
"Ich muss aber ... ich ... ", wollte Charles protestieren. Es lag ihm fern, Elsie für eine längere Zeit alleine zu lassen.
"Wie ich gerade sagte, Sie kommen jetzt erst mal mit mir mit. Ihre Frau wird eine Mahlzeitlang ohne Sie auskommen. Eleanor wird sie kurz ablösen.", erklärte sie ihm. "Bitte verzeihen Sie, dass ich mich jetzt erst bei Ihnen informiere - in der Pension komme ich kaum zu einer ruhigen Minute. Es scheint immer alles genau getaktet zu sein. Kommt Ihr Arzt heute noch einmal?", wollte Mrs. Dewshine wissen, als sie ihm etwas von ihrem übriggebliebenen Mittagessen wärmte.
Charles kannte den Druck und den straffen Zeitplan nur zu gut, den man einhalten muss, wenn man für einen Haushalt arbeitet. "Dr. Clarkson meinte bei seinem Besuch zu Mittag, als er endlich die Medizin auftreiben konnte und sie vorbeibrachte, dass er abends noch einmal nach Mrs. Carson sehen würde."
"Es ist schon ein besonderer Zufall, dass heute der Ärztekongress hier tagt. Dann wird er ja bald wieder erscheinen.", belustigt über die Gegebenheit schüttelte sie den Kopf, als sie auf die Uhr sah, und fuhr fort: "Bis dahin essen Sie und trinken einen Schnaps."
Charles atmete seufzend aus, er war dankbar über Mrs. Dewshines klare Anweisungen, denen er nun gerne Folge leistete. Er war froh, dass er wie ein Dümmling machen sollte, was ihm aufgetragen wurde. Zu viele Sorgen plagten ihn den ganzen Tag, zu schwer war sein Kopf.
"Alles wird gut, Mr. Carson," versuchte sie ihn aufzumuntern. "Was hat denn Dr. Clarkson gesagt?"
"Er meinte, dass Fieber und Schüttelfrost von Mrs. Carsons Schnitt am Finger kämen. Die Wunde hat sich leider entzündet, und eine Sepsis verursacht.", Charles lief es bei den Worten kalt den Rücken herunter, er machte sich Vorwürfe, dass er die Anzeichen nicht eher erkannte, "Dr. Clarkson hat die Wunde gründlich gereinigt. In zwei, drei Tagen sollte es ihr besser gehen. Muss es ihr besser gehen."
"Na sehen Sie, wie ich sagte ... alles wird gut!", versicherte sie ihm erneut, als sie den gefüllten Teller vor ihm abstellte.
Als er das liebevoll angerichtete Mahl vor sich sah, bedankte er sich, dass sie ihren Aufenthalt so problemlos verlängern konnten und begann zu essen. Ehe Mrs. Dewshine sich zu Charles setzte oder auf seine Worte antwortete, verließ sie das Zimmer, um Eleanor aus der Waschküche zu holen.
Da die Türen offen standen, konnte Charles den kurzen Dialog zwischen Mutter und Tochter mithören.
"Bitte sei so lieb und bring die Wärmepfanne zu Mrs. Carson hinauf. Mr. Carson braucht eine kleine Pause. Warte oben, bis er hinauf kommt. Und rufe uns im Notfall."
Beim Eintreten in die Küche wandte sich Mrs. Dewshine mit folgenden Worten wieder an Charles: "In schlechten Zeiten müssen wir alle zusammen helfen, nicht wahr? Aber es lag ja nicht nur an mir, dass Sie bleiben konnten, was sagen Ihre Arbeitgeber dazu?"
Charles Augen folgten Eleanor, wie sie ein Tuch um die heiße Pfanne schlug und den Raum damit verließ.
"Sie sind eine ausgezeichnete Köchin, Mrs. Dewshine!", lobte Charles die Kochkünste seiner Gastgeberin, als er weitere Bissen zu sich nahm. Bei seinen Worten schoss Charles ein absurder Gedanke durch den Kopf, den er sogleich wieder verwarf ... aber vielleicht ... wenn ihm die Zeit zu sorgvoll wird ... vielleicht ... doch ... für sie ... .
Er hob sich den Gedanken für später auf und antwortete zunächst auf die Frage Mrs. Dewshines, die ihn mittlerweile mit hochgezogenen Augenbrauen ansah und wartete.
"Nachdem mir Dr. Clarkson mitteilte, dass Mrs. Carson in diesem Zustand unmöglich reisen könne, habe ich Mr. Barrow - mein Vertreter während meiner Abstinenz - angerufen und um ein Gespräch mit Lord Grantham gebeten. Ich habe ihm die Situation erklärt und um ein wenig mehr Zeit gebeten."
Charles nahm wieder ein paar Bissen, er merkte, wie die warme Mahlzeit seinen Magen entspannte und ein Wohlgefühl in ihm verbreitete, er fühlte eine kleine Erleichterung durch seine Gliedmaße fahren. Was aber nicht nur dem Essen, sondern auch der positiven Ausstrahlung Mrs. Dewshine gewidmet war.
"Ihre Lordschaft wünscht Mrs. Carson baldige Besserung und bedauert es sehr, dass unsere Flitterwochen darunter litten. Er empfindet es aber als großes Glück, dass Dr. Clarkson hier zugegen ist und einen Blick auf Mrs. Carson werfen kann. Demnach für unsere Flitterwochen einiges umstrukturiert wurde, um einen fließenden Tagesablauf auf Downton Abbey zu gewähren, wird einfach so fortgefahren, bis Mrs. Carson und ich wieder heimreisen können."
"Das wird schon bald sein, Mr. Carson.", versicherte sie ihm mit der Absicht, seine Sorgen mindern zu können.
"Und nun der Schnaps!", schoss es aus Mrs. Dewshine heraus und schlug dabei mit ihrer flachen Hand auf den Tisch. Sie erhob sich prompt und nahm den leeren Teller mit. Charles wirkte etwas überfordert mit der abrupt aufkommenden Hektik. In Windeseile kam die Pensionsbesitzerin mit zwei gefüllten Schnapsgläsern zu dem Tisch zurück.
„Auf das Leben! Mitsamt seinen mistigen Höhen und Tiefen!" Mit diesen Worten streckte Mrs. Dewshine ihr Glas Charles entgegen und wartete darauf, dass er seines dagegen schlug.
„Auf das Leben!", wiederholte Charles in weitaus weniger beschwingtem Ton und beschwor mit einem Zusammenstoß der Gläßer ein Klirren hervor. Danach kippte die brennende Flüssigkeit seine Kehle hinab.
Charles ging wieder ins Zimmer zurück. Er fühlte sich nicht sorglos, aber er fühlte sich wesentlich entspannter und endlich nicht mehr ganz so neben der Spur. Oben angekommen, löste er Eleanor ab. Sie verließ wieder das Zimmer.
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„Es gibt nicht viel vom ersten Tag zu erzählen. Es war schwer für mich, dich in so einem Zustand zu sehen, ohne dir wirklich helfen zu können. Dr. Clarkson ist nach meinem Anruf bei ihm sofort hergekommen. Für ihn war sofort klar, dass du eine Sepsis hattest und deine Lage ernst sei. Er hat gemeint, dass du keinen Augenblick alleine gelassen werden darfst. Solltest du anfangen zu krampfen, sich deine Lippen blau verfärben, oder sich deine Atmung zusehends verschlechternd, müsse er umgehend informiert werden. Es war furchtbar für mich, neben dir zu sitzen und quasi darauf zu warten, dass du eines dieser Anzeichen aufweist. Dr. Clarkson ist noch einmal aufgebrochen um die richtigen Medikamente zu besorgen. Er meinte, du bräuchtest sofort Antibiotikum in dir, um die Blutvergiftung zu stoppen. Aber das hat sich leider nicht als sehr einfach herausgestellt, wir sind hier so sehr am Lande, dass das nächste große Krankenhaus über eineinhalb Stunden entfernt liegt. Dr. Clarkson konnte dich erst gegen Mittag medikamentös behandeln. Die Zeit bis dahin war für mich die reinste Qual. Ich wusste ja bereits von seinem Besuch am Morgen, dass dein Zustand ernst sei, und du Medikamente benötigst. Das Warten war so furchtbar!
Im Nachhinein bin ich Mrs. Dewshine dankbar dafür, dass sich mich für die kurze Zeit aus dem Zimmer geholt hat. Ich bin nach dem Essen wieder hinauf zu dir und habe mich so gut es ging um dich gekümmert, habe dir deine Stirn von Schweiß abgetupft. Ich habe dich nie aus den Augen gelassen. Ich wollte Dr. Clarkson bei seiner Rückkehr so genau wie möglich von deinem Zustand berichten können, wollte in der Lage sein, ihm von jeder noch so kleinen Bewegung von dir zu erzählen. Eleanor hat mich zwischenzeitlich immer wieder mit Sandwiches versorgt, aber die habe ich nicht angerührt. Obwohl mir das Mittagessen gut tat, lag es mir im Nachhinein wahnsinnig schwer im Magen. Ich konnte keinen Bissen machen. Daher musste ich Mrs. Dewshine versprechen, dass ich am nächsten Morgen beim Frühstück erscheine."
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Von Tag II.
Als Mr. Carson am nächsten Morgen zu lange auf sich warten ließ, und es den Anschein erweckte, dass er gar nicht zum Frühstück erscheinen würde, machte sich Mrs. Dewshine mit zielstrebigen Schritten auf den Weg zum Zimmer der Carsons. Im Schlepptau folgte ihr bereits Eleanor. Sie wollte nur ungerne, dass Mr. Carson das Frühstück verpasste. Ihrer Meinung nach war es wichtig, einen gefüllten Magen zu haben, insbesondere, wenn man eine strapazenreiche Zeit durchlebt.
Es klopfte und Charles hopste zur Tür.
„Guten Morgen, Mrs. Dewshine. Was kann ich für Sie tun?", übermüdet und mit schwerer Zunge würgte er die Worte hervor.
Mrs. Dewshine war wenig überrascht über das Erscheinungsbild von Mr. Carson und fühlte sich daher in ihrem Vorhaben bestätigt. „Guten Morgen, Mr. Carson. Ich bin hier, um Sie abzuholen!"
„Ich bin mir nicht sicher, ob ich abgeholt werden möchte.", antwortete er mit leerem Blick und sah auf das Bett.
„Oh, ich bin mir dafür sicher! Sie kommen jetzt mit zum Frühstück. Es ist halb zehn. Ich habe für Sie unten den Tisch gedeckt. Eleanor bleibt in der Zwischenzeit wieder hier und achtet gut auf Ihre Frau."
Charles hatte überhaupt keinen Appetit und wollte den Vorschlag abtun. Er war müde. Er hatte Rückenschmerzen. Er war in Sorge. Doch Mrs. Dewshine ließ keinen Einwand zu und so ging Charles unnatürlich steif zum Fußende des Bettes und holte sich von dort sein Sakko, das dort die Nacht verbrachte. Mrs. Dewshine fiel Mr. Carsons sperrige Bewegung auf und fragte: "Ach du gute Güte! Wo haben Sie denn die Nacht verbracht?"
Charles deutete stumm auf den Sessel neben Elsie und schlüpfte in sein Sakko. Wieder bei Mrs. Dewshine angekommen, leitete sie ihn gleich aus dem Zimmer, indem sie einen Schritt zur Seite ging und schloss die Tür. Am Weg zum Speisesaal ließ sie sich von Charles den aktuellen Bericht von Dr. Clarkson erzählen, der vor wenigen Stunden hier war.
„Dr. Clarkson meinte heute Morgen, dass wenn das Fieber bis heute Abend nicht sinkt, dann wird Mrs. Carson eine weitere Infusion bekommen müssen, er ist unzufrieden mit der Entwicklung der Sepsis. Eigentlich sollte die Ausbreitung schon gestoppt sein, aber sie hat sich in der Nach weiter zu ihrem Ellenbogen ausgeweitet. Sie nimmt außerdem zu wenig Flüssigkeit zu sich. Ich versuche ihr zwar regelmäßig zu trinken zu geben, aber mehr als ein paar Schlucke bekomme ich nicht in sie hinein.", bei den Worten kamen ihm erneut diese absurden Gedanken von gestern in den Sinn.
„Nun gut. Ich hole Ihnen eine Tasse Tee und Sie bedienen sich schon einmal am Buffet.", sprach Mrs. Dewshine, als die beiden in der Lobby zum Halten kamen.
Am Tisch angekommen, setzte sich Charles und blickte sich um. Er fühlte sich als hätte er soeben einen Marathon hinter sich gebracht. Die junge Familie saß ebenfalls an ihrem Tisch. Er sah ihnen für einen kurzen Moment verträumt zu, und empfand etwas Wehmut, über den sorglosen Augenblick, den sie verbringen konnten. Ansonsten war der Raum leer.
Als er so dasaß und seinen Blick durch den Raum schweifen ließ, kamen seine Augen im Garten zum Halten. Und erneut kam ihm der gestrige Gedanke in den Sinn. Doch dieses mal, legte er sich nicht nur wie ein dünnes Tuch auf Charles. Dieses mal blieb der Gedanke. Er wurde schwerer. Er wurde aufdringlicher. Und mit der Zeit fühlte er sich gar nicht mehr so abwegig an. Der Gedanke schaffte es, sich einen Weg von Charles Kopf zu seinem Herzen zu bahnen. Er schloss die Augen, lächelte leicht in sich hinein und war nun dankbar über den Gedanken, den er vor hatte in die Tat umzusetzen. In dem reißenden Fluss von Ungewissheit, indem sich Charles augenblicklich befand, schien ihm der Gedanke wie ein Ast zum Anhalten sein.
„Mr. Carson! Ich habe Sie aus ihrem Zimmer geholt, damit Sie sich stärken und etwas zu Essen holen. Sie sollten schon längst etwas auf ihrem Tisch stehen haben. Auf mit Ihnen!", abrupt riss Mrs. Dewshine ihn mit ihrem Erscheinen aus seinen Überlegungen.
Sobald sie die Tasse Tee am Tisch platziert hatte, zog Mrs. Dewshine Mr. Carson an seinem Oberarm hoch und schleifte ihn regelrecht zum Buffet. Bevor er protestieren konnte und verstand, was geschah, stand er auch schon vor dem gedeckten Tisch. Bedröppelt blickte er auf die Pensionsbesitzerin hinab. Die kleine Dame griff nach einem Teller und sah Mr. Carson herausfordern an. Sie wartete mit gerunzelter Stirn auf die Wünsche ihres Gastes.
„Ähm … Gebratene Eier?", unsicher blickte er in Mrs. Dewshines Augen.
Die Dame lud ihm seinen Wunsch auf den Teller. Doch anscheinend war es ihr noch nicht genug, sie schien noch auf weitere Ansagen zu warten.
„Und … Brot? Eine Scheibe?"
Prompt landetet zwei Scheiben auf seinem Teller.
„Butter?", rasch fügte er hinzu: „Und Schinken?"
Die Pensionsbesitzerin machte auf ihren Fersen kehrt und ging zu dem Tisch der Carsons, stellte dort den Teller ab und verließ den Raum. Endlich schien für Mrs. Dewshine genug am Teller gewesen zu sein. Bevor Charles jedoch dem Buffet den Rücken kehrte, griff er hastig in die Obstschale. Rasch und heimlich ließ er einen Apfel in seiner Sakkotasche verschwinden.
Am Tisch zurück gekehrt, wartete der volle Teller auf ihn. Er wusste, dass es eine große Hürde sein würde, ihn zu leeren. Er war sich aber auch dessen bewusst, dass Mrs. Dewshine ihn nicht eher gehen lassen würde, bevor er aufgegessen hätte. Ihm fehlte schlicht und einfach der Appetit und so stocherte er ein wenig in seiner Eierspeise herum, als auf einmal ein keckes, haselnussbraunes Augenpaar U-Boot-ähnlich über der Tischkante ihm gegenüber auftauchte. Sie zwinkerten einmal, sie zwinkerten zweimal. Es folgte eine Nasenspitze und vier kleine Finger zu jeder Seite von ihr. Charles legte die Gabel nieder, richtete sich verdutzt auf und wartete ab.
„Ich hab's gesehen."
„So? Und was hast du gesehen?", fragte Charles erstaunt.
Der Junge beugte sich unter den Tisch, wobei seine Hände nach wie vor auf der Tischoberfläche ruhten und warf einen vergewissernden Blick auf die ausgebeulte Sakkotasche von Charles. Die Augen tauchen wieder auf. Sie blinzelten wissentlich.
„Du hast dir einen Apfel eingesteckt. Mama, sagt, man darf sich nur nehmen, was man auch gleich bei Tische isst." Charles musste bei seinem erhaltenen Tadel schmunzeln. „Alles andere wäre Diebstahl."
„Da hat deine Mama Recht."
„Warum hast du einen Apfel eingesteckt?", wollte der Junge wissen. Charles öffnete seinen Mund und setzte zum Antworten an, doch was sollte er antworten? Die Frage schien ihn zu überfordern. Wusste er doch selbst nicht, warum er ihn eingesteckt hatte.
„Meiner Frau ist es sehr wichtig, dass ich auch etwas gesundes esse."
„Meiner Mama auch. Aber ich mag das nicht."
„Ich verrate dir ein Geheimnis, kleiner Mann.", Charles beugte sich zu dem Jungen vor und flüsterte in verspieltem Ton über den Tisch: „Ich auch nicht."
Der kleine Junge begann wegen Charles Art zu kichern und verschwand. Charles hob verwundert seine Augenbrauen und blickte sich suchend um. Wenige Sekunden später konnte er jedoch beobachteten, wie der Sessel neben ihm wie durch Geisterhand zurück glitt und der kleine Junge darauf Platz nahm.
„Na sieh dir das an! Du hast ja einen Mund, kleiner Mann. Ich dachte, du redest mit deinen Ohren." Der Junge musste erneut lachen, was Charles ebenfalls erheiterte. „Und sieh nur, was für einen hübschen Anzug zu trägst.", Charles bewunderte den graublauen Sommeranzug des Jungen, der ihn ein kleinwenig an einen Matrosen erinnerte.
„Wo ist deine Frau?"
„Weißt du, Mrs. Carson ist leider krank und liegt im Bett."
„Krank sein ist doof. Da bekommt man ekelhafte Medizin. Da esse ich lieber einen Apfel."
„Da hast du allerdings recht.", stimmte Charles dem Jungen zu und holte den Apfel aus seiner Tasche. „Wollen wir ihn uns teilen? Dann muss ich nur einen halben essen. Du würdest mir aus der Patsche helfen, kleiner Mann."
Der Junge überlegte kurz. „Hmmmm. Na gut. Aber nur wenn du mit mir nachher 'Schwarzer Peter' spielst."
Charles tat so, als würde er sich das Angebot durch den Kopf gehen lassen, und kniff gespielt die Augen zusammen.
„Da verlangst du aber ganz schön viel von mir, kleiner Mann."
„Emily verliert immer gegen mich, und spielt daher nicht mehr mit mir, hat sie vorhin gesagt."
„Aha. Und wer ist Emily?", fragte Charles interessiert.
„Meine doofe Schwester da drüben.", der Junge blickte über seine Schulter zu dem Tisch der jungen Familie.
„Und wer bist du?", wollte er weiter wissen.
„Mein Name ist Charlie, Sir. Charles Timothy Brown. Und ich bin schon fünf Jahre alt.", um es Charles verständlicher zu machen hob er eine Hand und hielt ihm stolz seine Hand mit ausgestreckten Fingern ins Gesicht, die er beeindruckt betrachtete.
„Einverstanden, Charlie. Ich werde mit dir 'Schwarzer Peter' spielen." Charles reichte dem Buben zum Besiegeln des Geschäfts die Hand, woraufhin Charlie sie mit seiner kleinen Hand ergriff und die riesige von Charles kräftig durchschüttelte.
Charles hob die Teetasse von dem Untersetzer und begann auf diesem den Apfel in Spalten zu schneiden. Als er damit fertig war, lagen sechs Spalten auf der Untertasse.
„Für jeden drei Stück.", erklärte Charles und schob die Untertasse in Reichweite des Jungen. Charlie griff sofort nach einem Stück und hörte Charles weiter zu. „Weißt du, Charlie, ich habe einmal ein Sprichwort gehört, das besagt: 'One apple a day, keeps the doctor away'. Das bedeutet, wenn du täglich einen Apfel isst, soll dir das den Doktor mit seiner ekelhaften Medizin vom Halse halten." Charles drehte rasch seinen Kopf von Charlie weg und griff nach einer Apfelspalte, um sie sich in den Mund zu stecken. Kaum zu fassen, dass er den Spruch eben wirklich gesagt hatte. Er hoffte, dass er es geschafft hatte, keinen Sarkasmus durchhören zu lassen. Charles war noch nie so angewidert von einem Sprichwort gewesen. Denn genau genommen hatte in seinem Fall der Apfel den Doktor ja erst zu Elsie gebracht.
„Und wieso soll ein Apfel das schaffen können, Sir?", wollte Charlie unglaubwürdig wissen.
„Weil in ihm so viele gute Vitamine stecken, dass du gar nicht krank werden kannst, wenn du täglich einen isst."
Nachdem die beiden Männer den Apfel verspeist hatten, hopste Charlie vom Sessel, um seine Spielkarten zu holen. Charles machte sich in der Zwischenzeit daran, sein restliches Essen zu essen, das mittlerweile erkaltet war, aber zum Glück leichter als erwartet hinunterging.
Mrs. Dewshine erschien im Speisesaal und kam bei Mr. Carson zum Stehen, als er gerade die letzten Bissen vom Teller nahm.
„Na sehen Sie, Mr. Carson. Das war doch gar nicht so schwer. Wollen Sie vielleicht die heutige Zeitung haben? Sie können sie auch mit ins Zimmer nehmen."
„Nein, danke, Mrs. Dewshine. Ich bin jetzt zu einer Runde 'Schwarzer Peter' verabredet und habe dafür keine Zeit." Charles bemerkte den irritierten Gesichtsausdruck der Pensionsbesitzerin und erläuterte in wenigen Sätzen, wie es dazu kam, als auch schon der kleine Charlie voller Freude bei ihnen auftauchte.
„Na, du Bengel?", wurde er von Mrs. Dewshine kichernd begrüßt und wuselte ihm liebenswert durchs Haar. „Leistest du unserem Mr. Carson hier Gesellschaft?"
Charlie nickte und nahm wieder neben Charles Platz, stolz legte er seine Spielkarten auf den Tisch.
Mrs. Dewshine war gerade wenige Schritte gegangen, als Charles ihr schnell hinterherhastete. „Verzeihen Sie, Mrs. Dewshine. Wäre es für sie in Ordnung, wenn ich nach dem Spielen kurz in Downton Abbey anrufe? Ich müsste kurz mit unserer Köchin sprechen."
Sie gab ihm ihr Einverständnis und machte sich nun auf den Weg zum Tisch der jungen Familie. Die Mutter von Charlie hatte sich gerade vom Sessel erhoben. Mrs. Dewshine unterhielt sich mit ihr, und wenige Augenblicke später setzte sie sich wieder.
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„Bitte? Was wollen Sie haben?", quiekte Mrs. Patmore. Unglaubwürdig entfernte die Köchin die Hörmuschel von ihrem Ohr und betrachtete diese mit schiefem Mund. Sie pustete kräftig hinein, um etwaigen Staub daraus zu entfernen. „Ich bin mir nicht sicher, ob ich Sie richtig verstanden habe, Mr. Carson!"
Doch Mr. Carson wiederholte genau dieselbe Bitte. „Nun gut, haben sie etwas zu schreiben bei der Hand? Sie benötigen nicht allzu viele Zutaten."
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„Der zweite Tag war für mich der anstrengendste. Ich habe in der Nacht zuvor kaum geschlafen, da ich mich ständig vergewissern musste, dass du atmest. Ich weiß, es hört sich dramatisch an, aber in den Phasen, in denen du so unregelmäßig nach Luft geschnappt hast, habe ich wie gebannt auf dein Einatmen gewartet. Und deine Wickel wollte ich während dem Fieber immer gekühlt wissen, außerdem hat Dr. Clarkson gesagt, du musst Flüssigkeit zu dir nehmen. Dein Zustand hat sich am zweiten Tag nicht gebessert. Dr. Clarkson war nach wie vor sehr in Sorge und hat dir am Nachmittag eine weitere Infusion angehängt. Es war nicht schön anzusehen, aber es hat mich doch ein wenig beruhigt, da ich gewusst habe, dass du nun endlich deine benötigte Behandlung und ausreichend Flüssigkeit bekommst."
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Von Tag III.
Charles stand nach einem kleinen Frühstück in der Küche der Pension und betrachtete voller Skepsis mitsamt hochgezogenen Brauen und geweiteten Augen den Zettel mit seinen Notizen. Mrs. Dewshine stand vor ihm. Er fühlte sich aber, als würde er eher vor dem Himalaya stehen und müsse nun alle Berge besteigen. Was hat er sich da nur angefangen?
„Nun? Was benötigen Sie dafür?", natürlich wusste Mrs. Dewshine nur zu gut, was Mr. Carson alles benötigte, wollte ihn aber aus seiner Reserve locken.
„Zunächst benötige ich 40 Holunderblüten.", fassungslos ließ Charles den Zettel sinken und blickte der Pensionsbesitzerin in die Augen. „Das erscheint mir aber etwas viel, denken Sie nicht?"
„Nein, Mr. Carson. 40 Holunderblüten passen schon.", bestätigte Mrs. Dewshine kichernd, als sie den mutlosen Mann in einer viel zu kurzen Schürze vor sich sah.
„Hier habe ich schon einen Korb und eine Schere für Sie bereitgestellt.", erklärte die fürsorgliche Pensionsbesitzerin. „Und den hier sollten sie aufsetzen! Er hat mich schon vor so einigen Sonnenstichen beschützt." Mit diesen Worten zog sie Charles zu sich herunter und setzte ihm einen Strohhut auf den Kopf.
Dankend nahm er die Utensilien vom Kochtisch und ließ sich von Mrs. Dewshine in den Bereich des Gartens führen, der vom Speisesaal aus zu sehen war. Die Pensionsbesitzerin ging nun ihren Arbeiten nach und ließ Charles allein. Sobald er die vierzig Holunderblüten abgeschnitten hatte, solle er wieder in die Küche kommen.
Charles zog an einem Ast und führte so eine Blüte zu seiner Nase, er roch daran. Er war überrascht über den intensiven Duft, der wahrlich schon an den bekannten Geschmack erinnerte. Noch nie hatte er Holunderblüten so viel Beachtung geschenkt. Vorsichtig schnitt er die Blüte ab, drehte sie zwischen Zeigefinger und Daumen am Stiel hin und her und dachte dabei an Elsie. Er legte sie betrübt in den Korb. Mrs. Patmore hat gesagt, er dürfe nicht zu wild mit den Blüten umgehen, da sonst der wertvolle Blütenstaub, der den Geschmack ausmacht, abgeschüttelt werden würde.
Der Tag versprach ein heißer zu werden, und so war Charles froh, dass er schon früh morgens im Garten stand (und diesen Hut trug). Er hatte heute nicht so gut neben Elsie geschlafen und war bereits so zeitig frühstücken, dass er Mrs. Dewshine beim Büffet Herrichten zusehen konnte.
Charles suchte nur die größten und schönsten Blüten aus, und ließ sich mit der Auswahl der Blüten sicher mehr Zeit als so manche Köchin oder Mutter es getan hätte. Als sachte eine Blüte nach der anderen im Korb landete, und der Korb immer voller wurde, hörte Charles hinter sich ein Gepumper. Er drehte sich um und erblickte Charlie hinter der Scheibe des Speisesaals. Charlie klopfte noch einmal erheitert und winkte Charles zu. Charles begann zu grinsen und winkte zurück.
Der kleine Junge wurde von seiner Mutter von der Scheibe weggezogen. Die vielen Reflexionen an der Scheibe ließen keine gute Sicht in den Speisesaal zu, doch Charles erkannte, wie der Junge zu protestieren versuchte. Seine Mutter ließ sich davon aber wenig beeindrucken und schob den kleinen Charles weiter zu ihrem Tisch. In der Spiegelung sah er nun sich selbst, wie er mit rüschenreicher Kochschürze, Strohhut, Körbchen und Schere in der Hand dastand. Ein Brummen verließ seinen Kehlkopf, ehe er sich wieder zu den Sträuchern drehte und sich den Holunderblüten widmete. Gott sei Dank, gibt es keine Farbfotos!
Charles widmete sich wieder der Blütenauslese. Er blickte stolz in den Korb und freute sich, dass er schon gut gefüllt war. 17 große Blüten hatte er bereits. Fehlten nur noch 23.
Nach weiteren sieben geernteten Blüten machte Charles eine kurze Pause und drückte seinen Rücken etwas durch. Dabei wandereten seine Augen über die Holundersträucher und begaben sich auf die Suche nach den nächsten erntewürdigen Blüten. Er hörte wie hinter ihm Gras raschelte, jemand kam näher. Charles drehte sich um.
„Tut mir leid, Mr. Carson. Charlie hat sich nicht davon abhalten lassen, Sie hier im Garten zu besuchen.", sprach Mrs. Brown unsicher aber freundlich unter ihrem Sonnenhut hervor. Mrs. Brown war eine hübsche, hochgewachsene schlanke Frau.
„Guten Morgen, Mrs. Brown. Guten Morgen, Charlie. Hast du schon einen Apfel gegessen?", wollte Charles prüfend von dem Jungen wissen und stützte sich mit seinen Händen auf den Knien ab. Mit einer hochgezogenen Augenbraue wartete er in dieser Position auf eine Antwort.
„Jawohl, Mr. Carson, das habe ich! Und einen Toast und einen Kakao noch dazu."
„Da bist du ja reichlich gestärkt. Möchtest du mir helfen ein paar Holunderblüten zu ernten? Sofern es deine Mama erlaubt." Sowohl der kleine als auch der große Charlie blickten Mrs. Brown fragend an.
Der Mutter schien das Angebot zunächst unangenehm zu sein, sie durchdrang das Gefühl aufdringlich gewesen zu sein. Charles versicherte Mrs. Brown, dass dem jedoch nicht so sei und dass er sicher doppelt so schnell vorankäme, wenn er Charlies Hilfe hätte. Mrs. Brown wusste natürlich, dass Mr. Carson übertrieb, willigte aber ein, verließ den Garten wieder und ließ Charles mit Charlie zurück. Damit der kleine Junge an die Blüten kam, nahm ihn Charles huckepack, reichte ihm die Schere und wanderte mit ihm auf seinem Rücken an den Sträuchern entlang, auf der Suche nach den beeindruckendsten Holunderblüten. Den Korb behielt Charles in seiner Hand und hielt ihn etwas höher, sobald Charlie wieder eine Blüte abgeschnitten hatte, und sie zu den anderen legen wollte.
„Hast du schon von der Holunderfee gehört, Charlie?"
„Nein, Mr. Carson."
Und so erzählte Charles Charlie von den Mythen und Legenden über den Holunder, die er selbst erst vor nicht allzu langer Zeit von seiner Frau gehört hatte.
Sobald Charles mit seinen Erzählungen fertig war, und Charlie die vierzigste Holunderblüte in den Korb gelegt hatte, brachte er ihn zurück zu seiner Familie in den Speisesaal.
„Haben Sie vielen Dank, Mr. Carson. Unser Charlie dürfte einen ziemlichen Narren an Ihnen gefressen zu haben. Ich hoffe, er war Ihnen nicht allzu lästig! Wie geht es Ihrer Frau?", erkundigte sich Mrs. Brown.
Überrascht blinzelte Mr. Carson sie an. Daraufhin erklärte Mrs. Brown woher sie ihr Wissen hatte: „Als mir gestern beim Frühstück aufgefallen ist, dass Charlie sich davongeschlichen hat und ich ihn zu uns holen wollte, hat mich Mrs. Dewshine darum gebeten, Charlie noch bei Ihnen am Tisch zu lassen. Sie meinte, Ihnen täte etwas kindliche Ablenkung gut und hat mich über Ihre Situation aufgeklärt."
Charles schenkte der Mutter ein Lächeln. Er war in der Tat dankbar über den kleinen Charlie und informierte Mrs. Brown über Elsies aktuellen Gesundheitszustand und verabschiedete sich von Charlie und seiner Familie und machte sich auf den Weg in die Küche zu Mrs. Dewshine.
"Oh, da haben Sie aber hübsche Holunderblüten geerntet.", lobte Mrs. Dewshine, als sie einen Blick in den Korb warf. "Was steht noch auf der Zutatenliste?", schon wieder hatte sie unnötigerweise gefragt, aber sie wolle Mr. Carsons Vorhaben durch nichts schmälern.
Charles fummelte unter der Schürze herum und zog den zerknüllten Notizzettel aus seiner Hosentasche hervor: "Ich benötige noch 2 Stück Orangen und 2 Stück Zitronen. Und 3 Kilogramm Zucker. Sowie 50 Gramm Zitronensäure. Ach ja, und 2 Liter Wasser natürlich."
Er hatte noch im Gedächtnis, dass Elsie auch Eibisch erwähnt hatte, ließ dies aber vor Mrs. Dewshine unerwähnt. Er war zu unsicher, um zu experimentieren. Charles wäre schon dankbar, wenn alles nach Mrs. Patmores Rezept gelänge.
Der Zucker und die Zitronensäure sollten in einem großen Topf mit 2 Liter kochendem Wasser aufgelöst werden, anschließend Zitronen- und Orangen in Scheiben geschnitten hinzufügen. Die gründlich durchgesehenen Holunderblüten dazu geben und alles gut verrühren, solange das Zuckerwasser noch heiß wäre.
„Sie dürfen die Blüten unter gar keinen Umständen abwaschen, hören Sie?!", hat Mrs. Patmore ihn so eindringlich ermahnt, dass ihm ihre Stimme noch deutlich in den Ohren surrte. „Durch Abwaschen würden Sie den köstlichen Pollenstaub mitabwaschen. Der macht ja erst den Geschmack."
Charles hielt die Blüten also von Wasser fern und sah sie stattdessen überaus penibelst und mit größter Sorgfalt in guter Dekantiermanier durch. Augenbrauen und Stirn wurden bei der Arbeit mehr als nur angespannt. Blüte für Blüte wurde in das einfallende Tageslicht der Küchenfenster gehalten und in jede erdenkliche Richtung gedreht, die Windrosen ihm anzeigen hätten können. Er wollte nur ungerne Raupen, Käfer oder sonstiges Getier in dem Sirup haben.
Alle Zutaten waren nun wie von Mrs. Patmore erklärt im Topf, Charles betrachtete sie voller Stolz, wie sie sich durch sein Umrühren im Kreise drehten. Er war froh, dass er das gemacht hatte. Der noch heiße Topf wurde von Mrs. Dewshine mit einem Deckel verschlossen und von Charles in den kühlen Vorratskeller gebracht. Mrs. Dewshine stieg wegweisend die Stiegen hinab und zeigte dem stolzen Koch den Weg.
Auf Mrs. Dewshines Anweisung hin, sollte Charles vier leere Glasflaschen mit hoch in die Küche bringen, er nahm aber fünf Glasflaschen mit. Vier große und eine kleine. Klirrend stellte er sie auf der hölzernen Arbeitsfläche in der Küche ab und reihte sie zu einer Schlange auf. (Einmal Ordnungshüter, immer Ordnungshüter!)
Mrs. Dewshine öffnete eine Lade und holte Etiketten und Stift heraus. Sie reichte sie Mr. Carson und ließ ihn das Datum aufschreiben. Er schreib fünfmal das heutige Datum. Und auf eines fügte er noch hinzu: „Für Charlie."
Die Arbeit war nun getan und so war Warten angesagt. Schon wieder. Und noch immer. An zwei Stellen also nun. Einmal oben bei Elsie, und einmal unten für Elsie. Es war halb neun Uhr und Charles befand, dass er für heute genügend Zeit ohne Elsie verbracht hätte. Er bedankte sich bei Mrs. Dewshine, legte die Schürze ab und nahm die Stiegen hinauf zu seiner Frau und löste Eleanor wieder ab.
Sobald Charles oben angekommen war, musterte er Elsie. Er strich ihr die Haare aus dem Gesicht, küsste ihr die feuchte Stirn und versuchte ihr etwas Wasser zu geben. Er ließ sich auf den Sessel neben ihr nieder, griff nach ihrer Hand, streichelte sie und lehnte sich erschöpft zurück. Mit ihrer Hand in der seinen schlief ein.
Mrs. Dewshine brachte kurz nach ihrer stressigen Mittagszeit wieder Sandwiches hoch. Dieses mal war Charles in der Lage, eines davon zu essen.
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„Der dritte Tag war für mich rückblickend gesehen, der skurrilste, auch wenn es den Anschein hatte, dass es dir etwas besser ging. Die Nacht davor war wieder miserabel. Ich war sehr früh munter und machte mich gleich zum Frühstück auf. Ich wusste, Mrs. Dewshine hätte mich ohnehin wieder geholt und wollte es erledigt haben.
Sobald ich mit dem Sirup fertig war, bin ich wieder hinauf zu dir. Ich glaube, dass ich dann kurz eingenickt bin.
Dr. Clarkson hat mich aber bald wieder geweckt. Er war erleichtert, dass das Antibiotikum endlich anzuschlagen schien, und dein Fieber niedriger wurde. Ich konnte ihm erzählen, dass du keinen Schüttelfrost seit gestern mehr hattest. Die Rötung an sich hat sich noch nicht beruhigt gehabt, ist aber seit gestern Abend nicht weiter hoch gewandert. Das war ein Erfolg. Ich war erleichtert, dass endlich Besserung in Aussicht war.
Am Abend war er dann wieder da, und hat dir eine weitere Infusion gegeben. Er konnte mir da dann schon versichern, dass du wieder gesund wirst."
_C&E_
Von Tag IV.
An diesem Tag wusste Charles schon nicht mehr, wie er sich ablenken sollte. Er hätte schon fast nach diesem unsittsamen Buch gegriffen, dass sich Elsie auslieh.
Dr. Clarkson war, wie die letzten Tage auch, immer sehr früh hier um sich ein Bild über den Zustand von Mrs. Carson zu machen. Der Doktor meinte am Abend zuvor zwar, dass es bergauf gehen würde, aber die Warterei dauerte ihm jetzt schon zu lange. Charles wollte endlich, dass Elsie wieder bei Bewusstsein wäre.
Charles vergewisserte sich, dass Elsie gut eingewickelt im Bett lag, schenkte ihr einen Kuss auf die Stirn und gab ihr noch einmal ein paar Schlucke Wasser aus dem Glas vom Nachttisch. Das Glas stellte er wieder zurück und betrachtete seine Frau, er sagte ihr, dass er sie liebte.
Anschließend machte er sich auf in den Speisesaal. Er beschloss am Weg hinunter den kleinen Charlie beim Frühstück zu fragen, ob er mit ihm gemeinsam den Sirup umrühren wolle. Er konnte sich vorstellen, dass ihm das Freude bereiten könnte und diese Vorstellung, bereitete wiederum ihm Freude.
Doch die junge Familie war noch nicht hier, als er den Raum betrat. Er erkundigte sich bei Mrs. Dewshine, wann die Familie üblicherweise beim Frühstück erschien, doch leider hatte die Pensionsbesitzerin keine guten Nachrichten für Mr. Carson.
Freudloser als vor wenigen Augenblicken noch vermutet, aß Charles sein Frühstück. Der Teller war nach wenigen Minuten mehr oder weniger geleert. Er erhob sich, nahm sein benutztes Geschirr mit in die Küche und bat Mrs. Dewshine um einen Kochlöffel. Er machte sich auf in den Vorratsraum, um nach dem Holundersirup zu sehen. Charles hob den Deckel und wurde von dem aufsteigenden Duft überrascht, der ihm vor Verwunderung die Augenbrauen hochschnellen ließ. Der Sirup roch herrlich intensiv. Einige Male rührte er die dickliche Flüssigkeit um und sog den anhaltenden Duft genüsslich ein. Er klopfte einige Male den Kochlöffel am Topfrand ab und verschloss ihn wieder mit dem Deckel. Morgen könne er ihn endlich in Flaschen abfüllen.
_C&E_
„Gestern Abend hat mir Dr. Clarkson dann erzählt, dass er mit dem Zustand der Entzündungsstelle sehr zufrieden sei und der Meinung wäre, dass du das größte Übel hinter ihr zu haben scheinst. Das waren Worte, die in mir große Erleichterung aufkommen ließen. Und heute bist du dann endlich aufgewacht.", bei den Worten drückte er Elsie an sich und genoss ihre Wärme auf seiner Brust, als er mit seinen Erzählungen fertig war.
„Bist du noch munter?", fragte Charles nach wenigen Minuten vorsichtig.
Elsie hielt ihre Augen die ganze Zeit über geschlossen, sie war müde und erschöpft, aber sie konnte nicht aufhören, Charles Erzählungen zu lauschen, sie lösten irrsinnig viele Bilder in ihrem Geiste aus. Sie war so mitgenommen von seinen Berichten, dass sie fortwährend keinen Mucks von sich gab, da ihr die Worte fehlten. Auf seiner Brust zu liegen, seiner angenehmen tiefen Stimme zu lauschen, wenn sie von solch bezaubernden Momenten sprach, rührte Elsie bis ins Mark. Um Charles zu deuten, dass sie noch munter war, strich sie ihm mit ihrer Hand die Brust auf und ab und nickte sanft mit ihrem Kopf. Wäre sie bei Kräften, würde sie sich auf ihn legen und ihn küssen.
„Heute Morgen konnte ich dir dann endlich ein Glas mit Holunderblütensirup auf deinen Nachttisch stellen. Ich war so aufgeregt, Elsie. Als ich damit begonnen habe, die Flüssigkeit abzuseihen, wollte ich keinen einzigen Tropfen verschütten. Mrs. Dewshine gab mir dafür ein Leinentuch und half mir dabei. Mir fehlte doch die Übung darin. Im Nachhinein betrachtet, fühle ich mich wie ein Narr. Leider konnte ich dem kleinen Charlie keinen Sirup mehr geben. Die Familie ist kurze Zeit nachdem wir die Blüten gesammelt haben, an dem Tag abgereist. Ich wusste das leider nicht. Ich hätte mich gerne von Charlie verabschiedet."
Elsie war nach wie vor sprachlos vor Rührung.
„Ich muss gestehen, dass mir das Arbeiten im Garten gefallen hat. Es ist ein schönes Gefühl seine Hände in dieser Art zu gebrauchen. Vielleicht lege ich uns einen kleinen Gemüsegarten bei unserem Cottage an. Was hältst du davon, Elsie?"
Elsie fühlte sich an ihre Träumereien erinnert und begann zu grinsen. Oh ja, sie hätte gerne, dass Charlie ein kleines Gemüsebeet anlegen würde. Sie schmiegte ihr Gesicht gegen seine Brust, und atmete tief seinen Duft ein. Sie wollte ihn fester den je an sich spüren.
Charles atmete ebenfalls tief ein, schluckte danach aber schwer. „Und dann muss ich dir noch etwas sagen, Elsie." Elsie erkannte in Charles Stimme nichts Gutes. Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch richtete sie sich so gut wie möglich auf und sah ihm angespannt ins Gesicht.
„Ich weiß jetzt, wer dieser Kerl ist. Du kennst ihn doch, so wie ich es vermutet habe". Charles bemerkte, wie sich Elsie versteifte und sich verteidigen wollte, ließ es aber nicht zu und fuhr mit seiner Erklärung fort: „Ich habe ihn verprügelt, Elsie. Gleich am ersten Tag deiner Sepsis, kurz nachdem ich bemerkt habe, wie schlecht es dir geht."
Ihr seid vielleicht der Meinung, dass ich euch mit Absicht hinhalte, aber nein, ich denke mir jedes mal selber, dass ich beim nächsten Kapitel mehr über den Fremden berichten werde. Aber leider hat es dann doch noch nicht so richtig gepasst. Ich möchte nicht, dass es allzu plump wirkt.
Die Übersetzung ins Englische muss leider noch bisschen auf sich warten lassen, da das Kapitel so lange geworden ist. Ich beeile mich.
Über eure Kommentare bin ich sehr dankbar. Ich finde es sehr lieb von euch, einem fremden Menschen, der irgendwo auf der Welt sitzt, und vielleicht nicht mal eure Sprache spricht, so nette Worte zu schenken. Habt vielen Dank, ich freue mich wirklich sehr über jeden, der sich die Zeit für ein paar Worte nimmt.
Ich bin neugierig, was ihr zu diesem Kapitel meint und hoffe, dass es euch gefallen hat.
Bis bald :)
