Liebe, Lüge, Wahrheit

Kapitel 81 – Offenbarung

André beachtete seinen Sohn und dessen Freund nicht weiter und rannte schneller die Treppe hoch. Kurz vor dem Kontor des Generals hörte er das Geräusch des Metalls – als würde eine Klinge aus dem Schaft gezogen werden. Sein Herz raste, seine Gedanken galten nur seiner Oscar und die Worte von François kreisten immer wieder in seinem Kopf: „Papa, du musst zu Mutter! Großvater will sie für den Verrat mit dem Tod bestrafen!" Nein, das durfte nicht passieren! Was würde dann aus ihm und ihren gemeinsamen Kindern werden? Warum machte der General so etwas? Als André die Tür aufstieß, eröffnete sich ihm eine grauenvolle Szene: Seine Oscar saß auf einem Stuhl mitten im Raum, ihr Vater stand hinter ihr und hob bereits sein Amtsschwert über den Kopf seiner Tochter.

„Nein, haltet ein!", rief André entsetzt und stürzte auf den Vater seiner Geliebten. Er schob ihn bis ans Fenster – fort von Oscar.

Reynier war für einen kurzen Moment von Andrés unerwarteten Erscheinen überrascht, sodass er sich nicht gleich gegen den Übergriff wehren konnte. „Es ist meine Pflicht, dies zu tun! Du sollst mich loslassen!", knurrte er bissig und versuchte André von sich zu schieben.

André spürte die Gegenwehr und verstärkte den Druck mit seinem ganzen Körper. Er stemmte sich gegen den General, der sein Schwert noch immer in der Hand hielt. „Ich werde diesen Raum nicht verlassen, bevor Ihr Euren Schwert fallen lässt und versprecht, Oscar am Leben zu lassen!"

Es reichte! Der Überraschungsmoment war vorüber, Reynier sammelte seine ganze Kraft und stieß André doch noch grob von sich. „Geh aus dem Weg, du Nichtsnutz!" Wutentbrannt holte er mit seinem Schwert aus, als André plötzlich seine Pistole zog und sie gegen ihn richtete. „Wenn Ihr nur einen Schritt näher kommt, drücke ich ab! Ich verlasse jetzt mit Oscar diesen Raum!" Und insgeheim nahm sich Andrévor,auch die Kinder zu holen, wenn er mit OscardiesesHaus verlassen würde. Wohin sie zu dritt fliehen würden, wusste er zwar nicht, aber das würden sie später sehen. Hauptsache, Oscar würde am Leben sein.

Reynier ignorierte die Bedrohung, dievon derPistole ausging und dachte kurz an seine Enkel. François, so mutig und tapfer wie sein Vater, hatte sich zwischen ihm und Augustin gestellt gehabt, um seinen Zwillingsbruder zu verteidigen. Nur war François schwächer als André und trug auch keine Pistole bei sich. „Was, du willst mit Oscar fliehen?", fragte er mit List, um sich mehr Zeit für einen neuen Plan zu verschaffen.

„Ja.", entgegnete André klar und deutlich.

Erneut musste Reynier an die Szene mit seinen Enkeln denken. Die zwei Knaben waren bereit, die Wahrheit zu offenbaren. Er selbst hatte schon zu lange darauf gewartet, dass seine Tochter den ersten Schritt machte und ihr Liebesgeheimnis preisgab. Vielleicht hatten die Kinder recht, die Zeit für die Wahrheit war nun gekommen. Reynier senkte seinen Arm mit dem Schwert und warf einen flüchtigen Blick auf seine Tochter. Oscar saß nicht mehr auf dem Stuhl, sondern stand perplex und mit weit aufgerissenen Augen hinter André. Im Gegensatz zu ihr war Augustin wenigstens gesprächiger und hatte François beigestanden. Warum unternahm Oscar nichts? Reynier schaute wieder André streng an. „So viel empfindest du also für sie?"

„Ja." Auch hier antwortete André ohne zu zögern und selbstsicher. Ihm war es in dem Moment egal, dass er gerade dabei war, das streng gehütete Liebesgeheimnis preiszugeben.

Reynier war sichtlich beeindruckt von ihm. André wäre ein perfekter Schwiegersohn gewesen, aber nur wenn er adlig wäre und nicht nach all den Lügenspielen, die er zusammen mit Oscar so viele Jahre vor seinen Augen durchgezogen hatte. „Du bist ein Dummkopf, André! Glaubst du, dass dadurch eure Standesunterschied aufgehoben wird und eure Findelkinder legitimiert werden?"

„Ich verstehe Euch nicht ganz." André verstand das wirklich nicht. Was hatten die Kinder damit zu tun? Warum zog der General auch sie mit hinein? Aber egal. Die Liebe zu Oscar konnte er noch preisgeben, aber dass François und Marguerite wirklich ihre Kinder waren, würde er nicht verraten. „Was für ein Standesunterschied? Ich denke alle Menschen auf der Erde sind gleich!"

Wie dreist! Dem General platzte langsam die Geduld. André war zwar ein aufrichtiger, aber auch ein törichter junger Mann. „Weißt du denn nicht, dass Adlige, wenn sie heiraten wollen, den König um Erlaubnis bitten müssen?"

„Doch, das weiß ich, aber das ist ungerecht!" Auch André wurde es zu viel. „Oder muss der König irgendjemanden auch um Erlaubnis bitten, wenn er jemanden liebt?"

„Untersteh dich!" Der General geriet in Rage. Wenn er bisher seinen Zorn noch zügeln konnte, dann ließ er jetzt André spüren, was er von dieser unverschämten Frage hielt. Ungeachtet auf die, noch immer gegen ihn gerichtete, Pistole, schlug er André ins Gesicht, sodass der junge Mann zurücktaumelte, das Gleichgewicht verlor und zu Boden ging. „Ich kann euch unmöglich vergeben! Nicht euch und nicht euren Findelkindern!" Reynier meinte speziell Augustin und François. An Marguerite dachte er in diesem Moment nicht.

Erneut fragte sich André, warum der General die Kinder erwähnte, aber schob es wieder in den Hintergrund. Er legte die Pistole neben sich auf dem Boden ab und sah den Vater von Oscar noch entschlossener an. „Wenn Ihr uns unbedingt töten müsst, dann fangt mit mir an. Sonst muss ich mit ansehen, wie Ihr den Menschen umbringt, den ich von Herzen liebe und das kann ich niemals ertragen."

„André...", murmelte Oscar baff hinter seinem Rücken. Wie gelähmt stand sie da und konnte sich nicht vom Fleck rühren. Jedoch ihre Gedanken rasten wie im Flug. War ihr Vater wirklich bereit, seine Drohung in die Tat umzusetzen? Und was passierte dann mit ihren Kindern? François und Marguerite brauchten ihren Vater, so wie sie ihren Geliebten brauchte! Oscar schaute zu ihrem Vater, wollte einschreiten, wollte etwas sagen, als sein eisiger Blick den ihren traf und ihr eine Gänsehaut verursachte. Der Zorn, der in ihm zuvor gewütet hatte, verwandelte sich in etwas, was man eigentlich bei einem Menschen sah, der einem Wahn verfiel.

Reynier verfiel jedoch keinem Wahn. Alles, was er tat und sagte, war ihm vollkommen bewusst. „André, du warst schon immer ein lieber Junge, genauso wie dein Sohn François. Und du, Oscar, warst schon immer mein Stolz, genauso wie dein Sohn Augustin. Ja, ich kenne euer Geheimnis! Seit ich vor acht Jahren Augustin in dem Dorf gefunden habe, wo du deine Söhne zu Welt gebracht hast, Oscar, weiß ich über eure Liebesaffäre! Ich hatte gehofft, dass du dich mir offenbarst und war bereit, dir die Kinder wegzunehmen, aber du fandest immer einen Ausweg! Nun, ich fand auch einen Ausweg und habe Augustin auf mein Anwesen gebracht, damit du es weißt, wie sich das anfühlt, von dem eigenen Kind belogen, betrogen und hintergangen zu werden! Aber hast du überhaupt gespürt, dass Augustin dein Sohn ist? Sag es mir, Oscar! Was hast du all die Jahre für ihn gefühlt?!"

„Ihr wusstet alles?" Das war das Einzige, was Oscar sagen konnte. Bilder aus einem Traum und die Erinnerungen aus einer bestimmten Situation stürzten wie ein Berg aus Steinen auf sie ein.

..ich bin Euer Sohn, genauso wie François! Er ist mein Zwillingsbruder, ich bin nach ihm geboren worden, Ihr wisst das nur nicht! Ihr seid meine Familie...", hatte Augustin in der Hitze des Streites zu ihr letztes Jahr gesagt...

Mama, bitte, er ist mein Bruder...", hatte auch ihre Tochter sie damals angefleht, als sie Augustin aus dem Haus verjagte und kurz danach warf Marguerite ihr bitterböse vor: „Du bist gemein, Mama!"

Verstehst du das nicht, Oscar? Sie wollen uns unseren Sohn nehmen und ich will ihn zurückholen!", hatte André ihr in einem Traum Vorwürfe gemacht und sie dabei traurig angesehen: „Augustin gehört auch zu uns, wir sind seine Familie und wir müssen ihn deshalb zurückholen."

...Augustin gehört doch zu uns... Wir sind seine Familie... Bitte, Mutter, bring ihn zurück...", hatte auch François sie angefleht und so ausgesehen, als wäre er bitter enttäuscht von ihr. „Bitte, Mutter, Augustin braucht uns... Er ist mein Bruder... Wir sind zwei Hälften eines Ganzen... Wenn er leidet, leide ich auch... Und wenn ihm etwas passiert, dann werde ich das nicht verkraften..."

Das alles war letztes Jahr passiert, in der Zeit, wo ihr geliebter André spurlos verschwunden war und sie ohne ihn beinahe vor Sorge und Kummer verrückt geworden wäre... Sie hatte Augustin nicht geglaubt. Aber ihrem Vater glaubte sie... Altbekannte Schuldgefühle und Reue stiegen in ihr hoch. Bleich wie eine Marmorstatue stand sie im Kontor ihres Vaters und alles in ihrem Inneren brach zusammen. Was hatte sie nur angerichtet?

Auch André durchströmten Erinnerungen an bestimmte Situationen aus der Vergangenheit wie ein harter Faustschlag in die Magengrube. Da war eine Schlägerei in Paris, kurz nachdem Augustin auf das Anwesen der de Jarjayes gebracht wurde und sich mit zwei halbwüchsigen Knaben angelegt hatte, um François zu beschützen...

Sie haben mich meinen Eltern weggenommen…", hatte Augustin damals pausenlos wiederholt und sich zuerst an ihn und dann an Oscar geklammert. „Bitte lasst mich nicht mehr zurück!" Schon damals hatte André gewisse Ähnlichkeiten zwischen dem Jungen und Oscar festgestellt, aber es nicht weiter beachtet. Und letztes Jahr, als er schwerverletzt bei Constance lag, hatte er einen seltsamen Traum.

Bitte werde gesund Vater, wir brauchen dich alle so sehr... Besonders meine Mutter und mein Bruder...", hatte er die Stimme von Augustin gehört und von dem Tag geträumt, an dem François geboren wurde.

Seine Oscar saß im Bett und hielt François in den Armen, aber es stimmte etwas nicht. Die Hebamme und ihre Gehilfin wickelten etwas in eine Wolldecke ein und beide gingen damit aus dem Zimmer. André glaubte ein Wimmern zu hören und wurde stutzig. Er stand auf und ging den beiden Frauen nach. „Wo bringt ihr meinen Sohn hin?"

Aber Monsieur, Euer Sohn befindet sich bei Eurer Frau.", sagte die Hebamme und er hörte dann die Stimme von Oscar: „Schau, Geliebter, unser François ist eingeschlafen."

André schüttelte ungläubig mit dem Kopf. Hatte er nicht gerade noch einen Sohn gesehen? „Aber was ist mit Augustin?"

Oscar senkte ihren Blick auf das Neugeborene in ihren Armen und ihre Gesichtszüge wirkten mit einem Mal ernst. „Wir haben keinen Sohn namens Augustin. Unser Sohn heißt Jean. Jean François Grandier de Jajrayes."

Das stimmt, Oscar, aber Jean Augustin gehört auch zu unserer Familie...", hatte André im Traum zu ihr gesagt und war dann aufgewacht. Augustin hatte seine Hand gehalten und ihn mit freudigen Augen angeschaut. Also war der Junge wirklich sein und Oscars Sohn, sonst hätte er solch einen Traum nicht ausgelöst und gleich vom ersten Tag in ihnen seine Familie gesehen... Und warum sollte Oscars Vater lügen?

André erhob sich auf die Beine, ohne den General aus den Augen zu lassen. „Oscar und ich haben Augustin schon immer wie unseren Sohn angesehen, ohne zu wissen, dass er es wirklich ist.", beantwortete er beherrscht die Frage, die der General eigentlich seiner Tochter gestellt hatte. Es machte jetzt keinen Sinn mehr, zu lügen oder etwas zu verschweigen, da der General die Wahrheit ohnehin schon kannte und ihnen auch noch etwas offenbarte, von dem sie wiederum nichts wussten.

Diese Worte hätte Reynier gerne auch von Oscar gehört, aber seine Tochter starrte ihn nur fassungslos an. War das etwa seine Schuld? Hatte er sie wirklich zu so einem emotionslosen Menschen erzogen, dass sie nicht einmal bei solch einer Wahrheit, wie über Augustin, ihre Gefühle zeigte? Vielleicht hatte seine Frau doch recht und er war mit seinem Spiel zu weit gegangen?

Jemand betrat das Kontor und lenkte die Aufmerksamkeit auf sich. Das war Sophie. „Ein Bote aus Versailles ist gerade eingetroffen und hat eine Nachricht für die Familie der de Jarjayes...", überbrachte sie mit belegter Stimme und glasigen Augen, was Marie ihr gerade mitgeteilt hatte. Die alte Haushälterin hatte alles hinter der angelehnten Tür mit angehört und war von dem Gesprochenen nicht minder entsetzt, fassungslos und erschrocken. Ihr Enkel und ihr Schützling waren schon seit Jahren ein Liebespaar? Und die Findelkinder waren keine Findelkinder, sondern ihre wahren Kinder? Wieso hatte sie davon nichts mitbekommen?

„Wir reden später.", sagte der General zu Oscar und André barsch und verließ mit langen Schritten sein Kontor. Sophie wagte die beiden nicht anzusehen und ging dem Hausherrn nach.

Oscar und André folgten dem General nach Sophie, aber blieben bei der Treppe stehen und schauten zu, was der Bote zu sagen hatte. Der Bote aus Versailles nahm eine Papierrolle, rollte sie auf und las sogleich ein Dokument vor, als General de Jarjayes, in Begleitung seiner Haushälterin, zu ihm nach unten kam. „Auf Geheiß der Königin wird weder gegenüber Kommandanten Oscar François de Jarjayes noch über ihre Familie eine Anklage erhoben. Dennoch wird künftig von der Familie de Jarjayes noch mehr Loyalität gegenüber der königlichen Familie erwartet." Der Bote rollte das Papier wieder zu und verabschiedete sich. Er hatte seine Aufgabe getan und kehrte nach Versailles zurück.

„Unsere Königin also..." murmelte der General und sah zu Oscar, die oben an der Treppe mit André stand. „Bedank dich bei Ihrer Majestät, du bist soeben dem Tode entkommen und ehrlich gesagt bin ich froh darüber. Ich gehe jetzt nach Versailles, aber ich komme wieder und hole Augustin ab! Ich habe ihn gefunden und weil du nichts von seiner Existenz wusstest, gehört er mir, Oscar! Er wird mein Erbe antreten und François wird ihn immer begleiten! So wie André immer an deiner Seite war, so wird es mit euren Söhnen geschehen! Und Marguerite wird als eine der Kammermädchen der Prinzessin Marie Thérèse Charlotte de Bourbon dienen!"

„Nein, Vater!" In Oscar erwachte das Leben. Die Tatsache, dass er all die Jahre die Wahrheit kannte und mit ihr gespielt hatte, verursachte ein Chaos der Gefühle in ihr. Wut und Entsetzen, gepaart mit Gewissensbissen und Enttäuschung, ergaben eine gefährliche Mischung. Einzig die jahrelange Disziplin ließ sie nicht zusammenbrechen. „Ich bin Euch sehr dankbar, was Ihr für mich getan habt, Vater, aber ich lasse es nicht zu, dass Ihr über meine Kinder bestimmt!"

„Dafür ist es schon zu spät, Oscar." Der General wandte seinen Blick von ihr ab und schaute zu Sophie. „Du packst die Sachen der Kinder ein und wenn ich zurück bin, soll schon alles vorbereitet sein." Dann verließ er sein Anwesen und ritt nach Versailles, ohne zu merken, dass zwei Pferde im Stall fehlten.

Kaum dass ihr Vater aus dem Haus war, stürzte Oscar mit André in das Zimmer von François und Augustin, aber fand es leer vor. Sophie folgte den beiden, versuchte etwas zu erklären, aber wurde überhört. Erst als Oscar und André im Zimmer von Marguerite nicht fündig wurden und sie fragten, wo die Kinder seien, konnte sie es ihnen mitteilen: „Augustin und François sind zu Rosalie gegangen, um Marguerite bei ihr zu verstecken. Und den Sohn von Marie haben sie auch mitgenommen." Sophie zitterte noch immer am ganzen Körper. „Ist es wahr, Lady Oscar? Sind die Findelkinder Eure wahren Kinder?"

Langsam begriff Oscar, dass auch Sophie alles wusste und setzte sich ermattet aufs Bett, ohne ihr eine Antwort zu geben. Es schien, als hätten die Kräfte sie verlassen und als steckte sie nun in einer aussichtslosen Lage. Oscar zerfraß sich mit Gewissensbissen und da waren noch die zwölf Soldaten, die wegen der Befehlsverweigerung noch immer im Gefängnis saßen. Für Alain und seine elf Kameraden würde es keine Begnadigung geben, das wusste Oscar, denn sie gehörten nicht dem Adel an. Oscar vergrub ihren Kopf in den Händen und hätte am liebsten geschrien. Sie musste etwas unternehmen, eine Entscheidung treffen, wenn sie nicht wollte, dass ihre Soldaten hingerichtet werden würden. Aber wie sollte sie es tun, wenn die Welt am Rande des Wahnsinns zu stehen schien?

André setzte sich sogleich zu ihr und nahm Oscar in die Arme - es war ihm egal, dass seine Großmutter dabei war. „Es wird wieder alles gut, Oscar...", versuchte er seine Geliebte zu beruhigen. „Bei Rosalie sind die Kinder in Sicherheit. Dort wird sie dein Vater ganz bestimmt nicht finden. Ich denke, er wird sie dort nicht einmal suchen."

Die Kinder... Oscar drückte sich dankbar an ihren Geliebten, aber seine Umarmung brachte nicht den gewünschten Trost. Bei der Erwähnung der Kinder kam ihr die Sache wegen Augustin wieder hoch. „Ich habe zwei Söhne auf die Welt gebracht, André… Augustin ist auch unser Sohn… Warum haben wir das nicht gemerkt?"

Doch, sie hatten es gemerkt, sie wollten es nur nicht wahrhaben. „Es ging alles so schnell, Oscar…" André versuchte es selbst zu begreifen. „Ich erinnere mich, dass es dir schlecht ging und dass du dann plötzlich ein Kind hattest..."

„Zwei.", korrigierte ihn Oscar. „Warum haben wir von dem Zweiten nichts mitbekommen?"

„Aber etwas müsste Euch aufgefallen sein.", mischte sich Sophie verwirrt ein. Alles, was heute auf dem Anwesen de Jarjayes passierte, kam ihr wie ein skurriler Traum vor und sie hoffte bald daraus aufzuwachen und alles so vorzufinden, wie sie es kannte oder gewohnt war. Aber das würde nicht geschehen, begriff sie. Die Dinge änderten sich und was früher belanglos und normal war, verwandelte sich jetzt in einen Sturm.

„Nun ja, die Frau des Wirtes hatte das Zimmer nach der Geburt von François verlassen und sie hatte ein Bündel in den Händen gehabt.", erinnerte sich André und war innerlich dankbar, dass seine Großmutter Ruhe bewahrte und hier wegen den ganzen Offenbarungen keine Szene machte.

Oscar dachte auch an diesen Tag, an dem ihr kleiner Sonnenschein zur Welt gekommen war und spielte dieses Ereignis in ihrem Kopf immer wieder ab. „Aber die Hebamme sagte, dass es die Nachgeburt war."

„Vielleicht war sie nicht ganz ehrlich mit uns?", vermutete André und versuchte in seinen Erinnerungen wenigstens einen kleinen Hinweis zu finden, der sie zur Geburt von Augustin führen konnte – erfolglos. Das alles kam ihm wie ein grauer Nebel vor, schleierhaft und ohne etwas zu erkennen.

„Du meinst, das war unser zweites Kind?" Oscar schob sich aus seinen Armen, schaute ihm ins Gesicht und erinnerte sich prompt an Georges. Besser gesagt an dessen Worte, bevor André und Alain ihn erschossen hatten. „Er nannte ihn Jean...", murmelte Oscar und ihr leuchtete so vieles ein. „André, bevor du und Alain Georges erschossen habt, sagte er, dass seine Familie wegen uns gelitten hat und Jean sollte zusehen, wie seine Familie stirbt. Georges meinte Augustin und uns. André, Georges wollte dich absichtlich töten, dann mich und François, damit Augustin genauso leidet wie er und sein Bruder Armand. Um mehr Antworten zu finden, müssen wir in das Dorf zurück, wo alles angefangen hat, André. Aber zuerst kümmern wir uns um Alain und die elf Soldaten. Ich lasse nicht zu, dass man sie hinrichtet.", meinte Oscar entschlossen und der alte Kampfgeist schien in ihr wieder zu erwachen. „André, sag mir, wo ich Bernard finden kann! Wir gehen zu ihm und dann brechen wir in das Dorf auf, wo unsere Söhne zur Welt kamen!"