Liebe, Lüge, Wahrheit

Kapitel 72 – Wer sucht, der findet

Oscar konnte sich kaum noch ertragen. Ihre heile Welt, ihr Familienglück schien endgültig auseinander gebrochen zu sein. Aber in Selbstmitleid zu verfallen und Tränen fließen zu lassen, würde sie niemals tun. Nur die magere Hoffnung, ihren André zu finden und dass er noch lebte, ließ sie nicht zusammenbrechen. In der Kaserne angekommen, befahl Oscar Alain sofort in ihr Offizierszimmer. „Versammle alle Soldaten auf dem Exerzierplatz und teile sie in Gruppen auf!", ordnete sie barsch an, kaum dass er vor ihr stand. „Und schicke Augustin zu mir, wenn er noch hier ist!"

Oscar war schon von Natur aus sehr temperamentvoll und geriet schnell in Rage, aber versuchte sich meistens zu beherrschen. Jedoch so wütend und zerstreut wie heute, hatte Alain sie noch nicht erlebt. Und wieso sollte er Augustin holen, wenn der Bursche nicht hier war? Alain schaute sich flüchtig im Raum um und stellte fest, dass François auch fehlte. Sehr merkwürdig. Die Zwillinge waren doch unzertrennlich! Das machte Alain äußerst stutzig und er zog seine buschigen Augenbrauen zusammen. „Oberst, wenn Ihr so weiter macht, dann gewinnt Ihr keine Freunde." Oscar ermahnte ihn mit einem eisigen Blick, aber Alain blieb unbeeindruckt. „Augustin ist nicht hier und ich habe ihn seit gestern nicht mehr gesehen. Wo ist eigentlich François? Was ist vorgefallen?", wollte er wissen.

Was, Augustin war nicht hier? Wo war er dann? Und warum interessierte sich Alain für François? Das war ihr privates Leben, nicht seines! Der Soldat sollte lieber ihren Befehl ausführen und ihr nicht irgendwelche Fragen stellen! „Das geht dich nichts an, Alain de Soisson! Geh und überbringe lieber deinen Kameraden meinen Befehl!"

Alain rührte sich nicht von der Stelle. „Das werde ich nicht tun.", erwiderte er mit rauer Stimme.

Oscar weitete die Augen. Jetzt fing auch noch Alain an, ihr zu widersprechen! Was kam als nächstes? „Wie bitte, du verweigerst meinem Befehl?"

„Ja, Oberst, Ihr habt mich richtig verstanden!", klärte Alain sie schonungslos auf. „Wir haben jede Ecke in Paris nach Eurem André durchsucht und sind nicht fündig geworden. Das wird Euch zwar nicht helfen, aber Ihr seid nicht die Einzige, die einen geliebten Menschen verloren hat. Und es mag sein, dass mich Euer privates Leben nichts angeht, aber das von Augustin schon! Ich kenne den Jungen, seit seine Eltern ihn verlassen haben und weil François zu ihm gehört, will ich wissen, was vorgefallen ist!"

Ja, natürlich, erinnerte sich Oscar, die Tochter von Alain war die Freundin und Milchschwester von Augustin. Vielleicht war er bei ihr, vermutete Oscar, und fauchte Alain an: „Wenn du Augustin so gut kennst, dann erkläre mir, warum mein François jetzt seinetwegen schwerverletzt im Bett liegt?"

François lag schwerverletzt im Bett und das auch noch wegen Augustin? Alain wusste noch immer nicht, was genau vorgefallen war, aber er sah seinem Oberst an, dass die Sache sehr ernst und womöglich auch noch sehr schlimm war. „So lange Ihr mich nicht aufklärt, was vorgefallen ist, werde ich für Euch nichts tun können."

„Wie ich es dir schon sagte, das geht dich nichts an, Alain de Soisson! Du weiß nicht, wie es ist, einen geliebten Menschen zu verlieren und deshalb sollst du lieber (mein) meinen Befehl ausführen!"

„Ich weiß sehr viel!", konterte Alain. Es reichte! Diese Frau in Uniform musste aufgeklärt werden, denn es gab nicht nur ihren Leid und Schmerz! „Wisst Ihr, ich hatte eine Geliebte, sie wurde bei der Arbeit auf dem Feld vom Pflug in zwei Teile geteilt. Das war die Mutter von Anna und obwohl sie kaum Milch für ihre Tochter hatte, schaffte sie es trotzdem auch Augustin mit ihrer Brust zu ernähren! Jetzt ist sie aber tot und wird niemals mehr zurückkehren! Könnt Ihr Euch das vorstellen, Oberst de Jarjayes, wie es für meine Tochter ist? Meine Anna musste mit ansehen, wie ihre Mutter vor ihren Augen einen qualvollen Tod starb! Aber das Leben geht für sie und für mich trotzdem weiter, denn wir sind nicht die Einzigen, denen es so ergeht. Deshalb sagt mir, was vorgefallen ist und ich werde heute ein letztes Mal nach Eurem André in der Stadt suchen gehen. Allerdings tue ich das nicht, weil es Euer Befehl ist, sondern weil ich ihn selbst finden will." Und auch Augustin, fügte er in Gedanken hinzu. Er hätte ihn fast verraten und sein Geheimnis offenbart. Aber würde Oscar ihm überhaupt glauben? Denn es waren bereits viele Jahre seit der Geburt von Augustin und François vergangen...

„Das tut mir leid...", murmelte Oscar mit einem Mal sanfter. Die Todesursache von Annas Mutter hörte sie zum ersten Mal und sie tat Oscar wirklich leid. „Alain, ich komme mit dir mit.", entschied sie sich im nächsten Augenblick. „Vielleicht haben wir etwas übersehen."

Das klang schon wesentlich besser. Alain war damit einverstanden. „Gut."

Oscar übergab noch das Kommando an Oberst Dagous und ritt mit Alain aus. Dabei erzählte sie ihm knapp, wie François angeschossen wurde und dass sie Augustin die Schuld dafür gab. Sie verschwieg nur die Heiratspläne ihres Vaters und den Streit mit Augustin. Dieser Teil der Geschichte ging Alain wirklich nichts an. „Wenn Augustin François nicht mitgenommen hätte, wäre es gar nicht zu einer Verletzung gekommen und ich hätte ihn nicht vor die Tür setzen müssen.", beendete sie.

„Und jetzt wollt Ihr Augustin zurückholen, damit François schneller gesund wird?" Wenn die Situation nicht so ernst wäre, dann hätte Alain gelacht und Oscar die Wahrheit über Augustin gesagt. Aber nein, er hatte es dem Burschen versprochen zu schweigen und daran hielt er sich.

„Ja.", bestätigte Oscar knapp und wechselte das Thema. Sie hatte Alain erzählt, was er hören wollte und jetzt könnten sie sich weiter der Suche nach ihrem André widmen. Aber wo sollten sie nach ihm noch suchen? Wie Alain in der Kaserne sagte, hatten sie schon jede Ecke der Stadt durchkämmt. Oder vielleicht doch nicht jede Ecke? Wo war Alain noch mal in der Nacht als André verschwand? Er hatte doch unerlaubterweise eine Freundin besucht, fiel es Oscar ein und es drängte sie, dort mit der Suche anzufangen. „Wo hattest du dich von André getrennt? Vielleicht gibt es dort Hinweise."

Alain zeigte ihr widerwillig das Haus von seiner Geliebten. Er wollte nicht, dass Oscar wusste, wo sie wohnte, aber vielleicht gab es dort wirklich irgendwelche Hinweise, die bei der Suche nach André weiter helfen könnten. „Hier haben wir uns getrennt.", sagte er und entdeckte ein graues Pferd. Es stand an einem Pfosten angebunden und kam Alain sehr bekannt vor. Er runzelte die Stirn. Constance müsste jetzt einen ihm sehr bekannten Besucher haben und Alain hätte gerne gewusst, wer das war.

Oscar öffnete sich derweilen baff der Mund. „Aber das ist doch das Pferd von Augustin!" Auch sie erkannte das graue Pferd und Alain erinnerte sich wieder. Aber warum versteckte sich Augustin ausgerechnet bei Constance, ging es Alain durch den Kopf. Die Antwort würde er gleich erfahren, denn Oscar stieg von ihrem Pferd und ging zu dem grauen Tier an dem Pfosten. Sie streichelte es an dem muskulösen Hals und wurde von ihm mit leisem Wiehern begrüßt.

Alain tat ihr gleich. „Ich gehe lieber alleine ins Haus rein und schaue, ob das wirklich Augustin ist. Ihr wartet derweilen hier." Besser gesagt, er wollte Constance vorwarnen, dass die Frau in Männerkleidern, die sie vor etwa 14 Jahren in Nizza kennengelernt hatte, jetzt vor ihr Tür stand. Constance sollte sich auf dieses Wiedersehen vorbereiten und Oscar nichts erzählen, was sie über Augustin wusste.

„Einverstanden." Oscar blieb draußen bei den Pferden und Alain marschierte schnell ins Haus. Er machte wie gewohnt die Tür auf und rief gleich: „Liebste, ich bin wieder zurück!"

Constance kam zu ihm aus einem Zimmer raus und sie war nicht alleine. „Alain, wie schön, dass du kommst!" Hinter ihr zeigte sich Augustin und noch bevor der Knabe etwas sagte, wurde Alain zur Seite geschoben und Oscar platzte ins Haus. Sie erfasste Augustin mit einem kalten Blick und mühte sich um einen beherrschten Ton. „Du kommst auf der Stelle mit. François ist erwacht und will dich sehen." Dass sie ihn nach der Genesung ihres Sohnes wieder zu verbannen beabsichtigte, sagte sie nicht. Das würde sie tun, wenn sie auf dem Anwesen der de Jarjayes sein würden. Hier gab es zu viele Zuhörer und das wollte Oscar nicht unbedingt haben.

„Ich sagte doch, Ihr solltet draußen warten!", empörte sich Alain und aus dem Zimmer drang eine Stimme: „Oscar?"

„André?" Oscar vergaß Augustin und eilte unverzüglich der Stimme entgegen. Sie sah ihren verschollenen Geliebten im Bett sitzen und ihr Herz hämmerte vor Freude und Bestürzung. Vor Freude, weil sie ihn endlich gefunden hatte und Bestürzung wegen dem Verband um seinen Oberkörper. Darum würde sie sich aber später kümmern, Hauptsache er lebte und sie hatte ihn endlich gefunden! „Mein André..." Ungeachtet auf Zeugen, umarmte sie ihren Geliebten sachte und versuchte sich nicht so stark an ihn zu drücken.

„Oscar..." André erwiderte ihre Umarmung, auch wenn sein Körper dabei bei jeder Bewegung schmerzte und er hätte ihr so viele Fragen gestellt, aber das würde noch warten müssen. Das wichtigste war, dass er sie wieder in seinen Armen hielt.

Hinter Oscar entstanden Schritte und André sah, wie Alain mit Constance und Augustin das Zimmer betraten. „Jetzt gehe ich wirklich und hole Doktor Lasonne und eine Kutsche für dich, Vater.", sagte Augustin mit ausdrucksloser Miene und nachdem André ihm zunickte, ging er schnell aus dem Haus.

Oscar hörte seine Stimme und die gestrigen Ereignisse, der Streit mit ihm und die Worte von François, kamen mit einem schmerzlichen Sticheln in ihrem Brustkorb wieder hoch. Sie richtete sich auf, wollte ihn aufhalten, aber der Junge war schon fort. Also gut, mit ihm würde sie sich auf dem Anwesen der de Jarjayes auseinandersetzen. Jetzt galt es, André so schnell wie möglich nach Hause zu bringen, Doktor Lasonne zu holen und ihren Vater dazu zu bringen, den Antrag von Graf de Girodel zurückzunehmen. Und es gab noch eine Sache, die sie wissen wollte. Sie setzte sich auf die Bettkante zu ihrem Geliebten und hielt seine Hand. „Wer hat dir das angetan, André?"

„Georges." Das sagte Alain. „Allerdings habe ich keine Beweise für meine Vermutung. Der Bursche behauptet, er war in der Nacht, in der André verschwunden war in der Kaserne und hat geschlafen."

„Aber warum sollte Georges das tun? André hat ihm doch nichts getan." Oscar schaute ihn verwundert an.

„Georges hat meine Schwester bedrängt und ich habe ihm die Narbe an der Wange verpasst.", log Alain wegen Augustin. „Ich vermute, er wollte mich hier abpassen, um sich dafür zu rächen und hat stattdessen André mit mir verwechselt."

„Dann werden wir ihn beobachten müssen.", entschied Oscar und sah die Frau an seiner Seite. Das war also die Freundin von Alain und sie kam ihr sehr bekannt vor. „Ich entschuldige mich für meine Unhöflichkeit und dass ich in Eurem Haus unbefugt hereingeplatzt bin, aber dieser Mann ist mir sehr wichtig."

„Entschuldigung angenommen, Lady Oscar." Constance lächelte freundlich und als Oscar sie überrascht anschaute, stellte sie sich ihr vor. „Mein Name ist Constance. Wir sind uns vor vielen Jahren in Nizza begegnet. Wisst Ihr noch? Ihr und Eure zwei Begleiter habt im Gasthof meines Vaters übernachtet und Euch ging es nicht gut, weil Ihr guter Hoffnung ward."

„Ich erinnere mich..." Oscar erinnerte sich in der Tat noch gut an die Zeit ihrer Reise durch Frankreich und auch an diese junge Frau aus Nizza. „Ich danke Euch, dass Ihr André geholfen habt. Ab nun werde ich mich um ihn kümmern."

„Euer Sohn ist schon Unterwegs, um einen Arzt und eine Kutsche für André zu holen." Constance faltete ihre Hände gerührt vor der Brust. „Wisst Ihr, er ist so ein netter Junge, wie Ihr und..."

„Und ich bin mir sicher, er wird bald zurück sein." Alain ließ Constance nicht weiter reden und Oscar wandte gleich ihren Blick von den beiden ab. Warum dachte Constance, dass Augustin ihr Sohn war? Das war ähnlich wie in diesem merkwürdigen Traum, wo André meinte, Augustin wäre auch ihr Sohn. Oder François, als er Augustin seinen Bruder nannte. Oder Augustin selbst, als er in der Hitze des Streites zu ihr sagte, sie wäre seine Mutter und François sein Zwillingsbruder... Sie schaute ihren André an und obwohl ihre Lippen ein Lächeln zeigten, blieb ihr Blick kühl. „Augustin ist nicht unser Sohn. Unser Sohn heißt François und Augustin ist nur sein Spielgefährte."

„Aber..." Constance schaute verständnislos zu Alain. Er hatte ihr nämlich etwas anderes über die Herkunft von Augustin erzählt. Alain schüttelte kaum merklich mit Kopf. „Nicht jetzt. Das erkläre ich dir später.", besagte der mahnende Blick seiner dunkelbraunen Augen. Constance verstand und schwieg. Sie haderte mit Gewissensbissen, denn sie hatte André schon einiges über Augustin und wo er geboren wurde erzählt. Hatte sie damit einen Fehler begangen? Ihr Blick wanderte zu André und Oscar. Die zwei taten ihr schon bei den Erzählungen von Alain leid und jetzt waren sie noch mehr zu Bedauern. Auch Augustin, der eine schwere Last auf seinen Schultern trug und seinen Eltern nicht sagen konnte, dass er ihr Sohn war.