Liebe, Lüge, Wahrheit
Kapitel 76 – Soldat Georges
Die Julisonne prallte heiß auf die Erde schon in den frühen Stunden. Es war nicht einmal Mittagszeit, als General de Jarjayes in den Hof der Kaserne einritt. Der König hatte einen Auftrag für Oscar und ihre Kompanie erteilt und das wollte Reynier ihr persönlich überbringen. Zwei Soldaten kamen angerannt. Der eine hielt die Zügel seines Pferdes und der andere salutierte vor ihm. Reynier erwiderte den Gruß mit einem Nicken und stutzte. Er hat die zwei schon ein Mal gesehen und erinnerte sich abrupt an einen Tag vor sieben Jahren:
Sein Pferd hatte ein Hufeisen auf einer Dienstreise verloren und Reynier musste in einem kleinen Dorf anhalten, um es neu beschlagen zu lassen. Zwei halbwüchsige Knaben übernahmen die Arbeit unverzüglich, während er in der Nähe des Stalles bei seinen Gefolgsmännern blieb und ungeduldig wartete. Reynier erinnerte sich nicht an dessen Namen und damals hatte es ihn auch nicht interessiert. Jetzt stand einer dieser Knaben vor ihm, hielt die Zügel seines Pferdes und erwartete offensichtlich seine Befehle. Der andere Mann, der gerade vor ihm salutierte und ein auffällig rotes Tuch um seinen Hals trug, war ihm auch nicht unbekannt:
Während er an jenem Tag vor sieben Jahren auf sein beschlagenes Pferd wartete, hatte er diesen Mann gesehen. Zusammen mit einer Frau, einem schwarzhaarigen Mädchen und einem blondgelockten Jungen ging er an dem Stall vorbei und verschwand dann in einem der Häuser. Das Mädchen und der Junge waren etwa an die sechs Jahre alt und zwei Tage später entpuppte sich der Junge auch noch als Zwillingsbruder von François.
Reynier schüttelte diese Erinnerung ab und stieg von seinem Pferd. „Mein Name ist General Reynier de Jarjayes und ich muss mit meiner Tochter, Oberst Oscar de Jarjayes, im Auftrag des Königs sprechen. Meldet ihr das sofort.", ordnete er dem Soldaten mit dem roten Halstuch an und an dessen Kamerad, der die Zügel des Pferdes hielt, befahl er nur: „Du kannst mein Pferd abführen und gib ihm nur Wasser! Füttern und absatteln brauchst du ihn nicht. Ich beabsichtige dann gleich zu gehen." An den leicht geweiteten Augen und leicht geöffneten Mündern der beiden Männer erkannte Reynier, dass sie sich an ihn auch erinnerten. Ja, das Schicksal war schon eine eigenartige Sache und führte Menschen zusammen, die sich in der Vergangenheit nur flüchtig begegneten, aber in Gegenwart eine wichtige Rolle spielten.
„Unser Oberst ist noch nicht eingetroffen, General de Jarjayes. Aber Ihr könnt selbstverständlich auf Eure Tochter in ihrem Offiziersbüro warten.", teilte der breitschultrige Mann mit dem roten Halstuch mit und seine dunkelbraunen Augen zeigten keine Frucht oder Achtung vor dem General.
Reynier hob eine Braue und musterte den Soldaten ausgiebig, während dessen Kamerad sein Pferd zum Stall wegführte. „Du scheinst von mir und meiner Tochter nicht viel zu halten.", vermutete er und wollte auf der Stelle wissen, wen er vor sich hatte. „Wie ist dein Name?"
„Alain de Soisson.", stellte sich der breitschultrige Mann mit dem rabenschwarzen Haar und den durchdringenden Augen vor. „Wollt Ihr mich jetzt wegen unbedachten Worten verhaften?"
Viel sagen ließ sich der Soldat auch nicht, stellte Reynier fest und legte sich seine Hände hinter dem Rücken aufeinander. „Es besteht keinen Grund, dich zu verhaften. Ich will nur, dass du mich ins Offizierszimmer begleitest."
„Wenn dem so ist, dann folgt mir, Monsieur de Jarjayes." Alain wusste nicht, was der General von ihm wollte, aber er ging ihm voraus und blieb stets auf der Hut. Obwohl er ihn nur ein einziges Mal und das auch noch aus der Ferne, vor etwa sieben Jahren, gesehen hatte, erinnerte er sich trotzdem an ihn. Denn das war der General gewesen, der Augustin, zusammen mit einem Offizier, aus dem Dorf gerissen hatte und ihn seither zwang, seine eigenen Eltern zu verleugnen. Demzufolge kannte also der General die Wahrheit über den Jungen und spielte selbst ein Spiel des Betrugs. Aber zu welchem Zweck? Wenn dieser Mann es schaffte, seine Enkelkinder und seine Tochter derart zu intrigieren und gegenseitig auszuspielen, dann war Vorsicht geboten. Alain täuschte sich nicht.
Im Offizierszimmer angekommen, blieb der General am Fenster stehen, aber drehte sich nicht um. Nur den Kopf drehte er zur Seite, sodass Alain seine Gesichtshälfte sah, und befahl ihm in einem ruhigen Ton: „Mach die Tür zu und erkläre mir, in welchen Verhältnis du zu Augustin stehst. Ich vermute, du hast mich auch erkannt und aus diesem Grund brauchen wir uns hier nicht anzulügen."
Nun gut, wenn der General es so wollte... Alain verschränkte seine Arme vor der Brust und zog streng seine buschigen Augenbrauen zusammen. „Ihr glaubt doch nicht allen Ernstes, dass ich den Jungen verrate? Mich interessiert es nicht, was Ihr für ein Spiel mit ihm und Eurer Tochter treibt, aber eins kann ich Euch sagen: Ich kenne Augustin seit ihn seine Eltern verlassen haben und obwohl Ihr ihn bei Euch aufgenommen habt, werdet Ihr niemals aus ihm eine Marionette machen können."
„Ich weiß, er ist genauso wie seine Mutter." Reynier schaute wieder aus dem Fenster. Vier Reiter ritten gerade durch das Tor der Kaserne und der General verzog sein Gesicht noch strenger. Auch seine Stimme klang viel rauer. Wenn der Soldat ihm nichts über Augustin verraten wollte, dann bedeutete das, dass er auf der Seite des Jungen war und würde demzufolge auch dessen Eltern nichts über ihn verraten. Das war gut so. „Es beruhigt mich, dass Augustin auf dich zählen kann, Alain de Soisson, und du scheinst ein aufrichtiger Mann zu sein. Meine Tochter wird gleich hier im Zimmer sein und deshalb fasse ich mich kurz. Die Ehre und der Ruf der Familie de Jarjayes stehen für mich an aller ersten Stelle. Deshalb dulde ich die Geheimnisse von Oscar und tue so, als wisse ich nichts von ihrem heimlichen Liebesglück mit einem einfachen Bürgerlichen. Aber auch André ist mir teuer und ich will, dass sein Peiniger getötet wird. Unser König hat mir einen Auftrag für Oscar und ihre Kompanie gegeben und morgen soll sie ihn ausführen. Ich bin mir sicher, dass der Mörder auch dabei sein wird, um die Möglichkeit zu nutzen, seine Tat zu Ende zu bringen und das muss verhindert werden. Hast du verstanden, was ich damit sagen will, Alain de Soisson?"
„Ihr wollt, dass ich einen meiner Kameraden töte?" Alain war baff. Die Tatsache, dass dem General seine Familie und sogar André nicht gleichgültig waren, verblüffte ihn. Jedoch dessen Befehl auszuführen würde nicht einfach sein und zugegeben wollte Alain das auch nicht. „Damit Ihr es wisst, ich töte niemanden von meinesgleichen!"
Der General drehte sich um und sah an dem Soldaten vorbei. Hinter ihm öffnete sich die Tür und Oscar betrat das Offizierszimmer. „Vater?" Sie war sichtlich überrascht, ihn hier zu sehen. Hinter ihr zeigte sich André und sobald er ihn sah, verneigte er sich. „General de Jarjayes?"
„Ja, ich bin im Auftrag unseren Königs hier." Reynier warf einen flüchtigen Blick auf den Bauch seiner Tochter. Seine frühere Vermutung, dass sie schwanger sein könnte, hatte sich nie bestätigt – ihr Bauch war noch immer flach. Das beruhigte Reynier. Offensichtlich fanden seine Tochter und André Mittel und Wege, ihre Liebesbeziehung weiter zu führen, ohne dabei ein Kind zu zeugen.
„Was für einen Auftrag, Vater?" Die Stimme von Oscar entriss ihn aus seinen Gedanken. Auch Alain meldete sich gleich nach ihr: „Wenn das alles war, General de Jarjayes, würde ich mit Eurer Erlaubnis gehen."
Bevor Reynier seiner Tochter antwortete, schaute er zu Alain. „Nein, bleib. Dieser Auftrag gilt auch für dich und deine Kameraden." Sein Blick schweifte von ihm wieder auf Oscar. „Der spanische Prinz und dessen Frau sind seit einigen Tagen zu Gast in Versailles. Morgen wollen sie aber abreisen und unser König will, dass du und deine Männer ihnen für einen Tag sicheres Geleit garantiert. Wir haben keine ruhigen Zeiten mehr und ihr solltet deshalb nur aus der Ferne den Zug mit dem spanischen Prinzen und seiner Frau beobachten. Seine Hoheit hat zwar eine große Zahl an Leibgarde um sich, aber unser König will sicherstellen, dass es keinen Hinterhalt oder Wegelagerer auf dessen Reise gibt."
„Wenn das der Befehl des Königs ist, dann werde ich es tun, Vater."
„Gut." Reynier erwartete auch nichts Anderes außer Zustimmung von ihr. Sein Blick ruhte jetzt auf André. „Du siehst noch schwach aus. Bist du dir sicher, dass du Oscar morgen begleiten kannst?"
„Ja, Monsieur General, denn das ist meine Aufgabe." André machte sogar selbstsicher einen Schritt nach vorn und stellte sich stramm neben Oscar. „Ich werde Eure Tochter mit besten Wissen und Gewissen beschützen."
„Das weiß ich gut zu schätzen, André." Reynier ließ ihn nicht zu Ende sprechen und schaute wieder zu seiner Tochter. „Wo sind eigentlich François und Augustin? Ich will sie gleich auf mein Anwesen mitnehmen, denn für den morgigen Auftrag sind sie noch ein wenig zu jung."
„Sie sind im Stall und versorgen die Pferde." Oscar wollte zuerst protestieren, aber dann überlegte sie. François war zwar wieder gesund, aber den ganzen Tag im Sattel zu verbringen, könnte seine verletzte Schulter belasten und das wollte Oscar ihm nicht antun. Diesmal gab sie ihrem Vater ausnahmsweise recht. „In Ordnung, ich werde François und Augustin für zwei Tage freistellen."
„Dann ist alles geklärt." Der General verabschiedete sich und ging. Am Stall entdeckte er seine Enkeln beim Absatteln der Pferde von Oscar und André und rief sie zu sich. Den anderen Soldaten, der sein Pferd versorgen sollte, sah er nirgendwo. Die Vermutung, dass auch dieser Soldat ihn auch erkannte, bestätigte sich. Reynier dachte, der Soldat war geflohen, um ihm nicht mehr zu begegnen und vergaß ihn sogleich, denn seine Enkelsöhne standen schon vor ihm. Er erklärte ihnen den Auftrag des Königs und dass Oscar sie für zwei Tage freistellte. Die Zwillingsbrüder fügten sich gezwungenermaßen und verließen mit ihrem Großvater die Kaserne.
Oscar stand am Fenster wie ihr Vater zuvor und sah die drei aus dem Tor reiten. Dann ging sie zum Exerzierplatz, um die Soldaten auszuwählen, die sie morgen begleiten sollten. André und Alain befanden sich bereits dort. Oscar hatte sie voraus geschickt, als ihr Vater das Offiziersbüro verließ und damit sie Zeit hatten, ihre Kameraden zum Appell auf dem Exerzierplatz zu versammeln. Der Reihe nachgehend, teilte Oscar den Männern den morgigen Auftrag mit und entdeckte dabei, dass ein Soldat kein Gewehr hatte. Sie wurde auf der Stelle stutzig und blieb vor dem Mann stehen. „Wo ist dein Gewehr?", wollte sie von ihm wissen.
„Ich habe es verloren.", gestand der Soldat geknickt.
„Verloren?" Oscar glaubte ihm nicht und erinnerte sich prompt an die eine Waffe, die sie in ihrem Offiziersbüro aufbewahrte. „Wie ist dein Name?"
„Lassalle..."
„Also Lassalle, ich habe letzten Monat ein Gewehr im Stall gefunden. Es lag gut verborgen im Heu und ich vermute daher, das wird wohl deines sein.", erklärte Oscar mit einer List und sah wie die Augen des Soldaten vor Unglaube größer wurden. Aber nicht nur Lassalle starrte sie verdattert an, sondern auch seine Kameraden. Oscar beachtete sie nicht und sprach weiter mit dem Soldaten ohne Gewehr. „Morgen kommst du zu mir ins Offiziersbüro und ich werde dir deine Waffe aushändigen. Also verliere sie nicht noch einmal."
„Das werde ich...", stotterte Lassalle verblüfft. „Danke Oberst..."
Oscar war zufrieden. Mit dieser Tat würden die Soldaten eine andere Meinung über sie bilden und ihr anfangen zu vertrauen. Das bescherte ihr Erleichterung. Am nächsten Tag brachen sie und ihre ausgewählten Männer der Kompanie auf. Die Kutsche des spanischen Prinzen, seiner Frau und dessen Gefolge war gut geschützt. Berittene Soldaten mit spanischen Wappen ritten zu zweit an allen Seiten der Kutsche und Oscar behielt sie mit ihren Männern aus der Ferne im Auge. Flankiert von André und Alain ritt sie an der Spitze und erkundete nebenbei die Umgebung. Eine verlassene Burg, mitten in einem großen Feld, ließ sie anhalten. Die grauen Mauern der Burg, offensichtlich aus den Zeiten des Mittelalters, wurden zum größten Teil von grünen Schimmel und Efeu verziert. Die Burg selbst zerfiel langsam und wäre ein geeigneter Ort für irgendwelchen Hinterhalt oder Wegelagerer. „André, Alain, wir sollten die Burg in Augenschein nehmen. Die anderen warten auf uns hier!", entschied Oscar und stieg von ihrem Pferd. Die zwei folgten ihrem Beispiel und wurden dabei mit mörderischen Blicken eines Soldaten begleitet.
Georges wartete, bis sie hinter den Mauern der Burg verschwanden und stieg selbst aus dem Sattel und marschierte breitbeinig ihnen nach. „Wo willst du hin?", rief ihm sein Kamerad Pierre nach. „Der Oberst sagte doch, wir sollen hier warten!"
„Ich will ja nicht, dass ihr etwas passiert.", knurrte Georges mit einem hämischen Grinsen im Gesicht und marschierte schneller. Er musste seine Tat zu Ende bringen und hier bot sich eine hervorragende Gelegenheit dazu! Zum Glück hatte André ihn damals nicht erkannt, dass er es war, der ihn beinahe gemeuchelt hatte. Ja, beinahe... Jetzt würde es kein Beinahe geben, schwor sich Georges und drückte sein Gewehr fest an sich. In der Burg musste er überlegen, wo André sein könnte und hörte die helle Stimme von dem Oberst: „André, ist alles in Ordnung?"
„Ja, ich denke schon.", kam es aus einer anderen Ecke der Burg.
Das bedeutete, dass sie getrennt die Burg untersuchten. Seine Vermutung bestätigte sich, als er die Stimme von Alain hörte, die von ganz woanders kam, als die von André und dem Oberst: „Hier ist auch nichts Verdächtiges."
Die Stimmen von André und Alain schienen ferner zu sein, als die vom Oberst. Georges schaute zur linken Seite. Er erspähte eine Wendeltreppe zu einem Turm und von dort aus war die Stimme vom Oberst zu hören. Vielleicht sollte er mit ihr anfangen? Irgendwie bekam Georges keine Lust, nach André die ganze Burg zu durchsuchen. Er änderte die Richtung und stieg die Wendeltreppe hoch. Schon bald sah er sie. Oder besser gesagt ihren Rücken. Achtsam und mit gezogener Pistole stieg sie die Wendeltreppe in das obere Stockwerk hoch. Georges schmunzelte zufrieden. Wenn er mit ihr fertig sein würde, würde André nach ihr dran kommen. Aber Oscar hörte seine Schritte und drehte sich um. Sie war überrascht, ihn hier zusehen. „Was hast du hier zu suchen? Für dich gilt wohl mein Befehl nicht, draußen zu warten? Geh sofort zurück!"
Das kannst du vergessen, dachte Georges boshaft und gaukelte ihr eine Unschuldsmiene vor. „Warum denn gleich so streng, Oberst? Ich habe mich nur bemüht, um Euch zu helfen."
„Geh sofort zurück! Wenn du den Befehl verweigerst, lasse ich dich vors Kriegsgericht stellen!" Oscar kehrte ihm den Rücken zu und ging weiter.
Wie unvorsichtig... Aber umso besser für ihn. Georges rührte sich erst einmal nicht, bis sie aus seiner Sicht verschwand und dann stieg er viel leiser die Wendeltreppe hoch. Diesmal bemerkte ihn Oscar nicht, erklomm die letzten Stufen und kam oben beim Turm hinaus. Nur kurz betrachtete sie die schöne Aussicht von oben und hörte hinter ihrem Rücken, wie ein Gewehr geladen wurde. „Bevor ich abdrücke, solltet Ihr wissen, Oberst de Jarjayes, nach Euch sind André und Eure Bastarde dran!"
Oscar drehte sich baff um. Im Angesicht des Gewehrs, das Georges auf sie gerichtet hielt, kreisten seine Worte in ihrem Kopf und machten sie wütend. „Du warst es, der André aus Versehen beinahe getötet hatte?" Sie dachte dabei an die Worte von Alain, dass Georges ihn eigentlich aus Rache für die Narbe im Gesicht töten wollte und hatte in der verhängnisvollen Nacht André mit ihm verwechselt.
„Aus Versehen?" Georges lachte hämisch. „Irrtum! André war mein Ziel! Ich will, dass Jean sieht, wie seine Familie stirbt! Dank Euch und Eurer Sippe, musste meine Familie leiden!"
„Wie bitte? Wer ist Jean?" Oscar verstand ihn nicht. Wovon sprach er? „Ich kenne deine Familie nicht und ich glaube, du verwechselst André und mich mit jemanden!"
Dieses Weib erinnerte sich also nicht mehr an ihn... Also musste er ihr auf die Sprünge helfen. Noch mehr Hass und Verachtung stieg in ihm auf und dies brachte er auch in seiner rauen Stimme deutlich zur Geltung. „Mag sein, dass Ihr mich nicht mehr erkennt, aber ich erinnere mich an Euch! Mein Bruder und ich waren noch Kinder, als Ihr in unser Dorf gekommen seid und Eure Missgeburt zur Welt gebracht habt!"
François? Georges sprach bestimmt von ihrem François! Oscar erinnerte sich prompt an den Tag seiner Geburt und auch an zwei Jungen, die zu der Familie des Wirtes gehörten. Die Frau des Wirtes hatte mit einer Hebamme ihr bei der Geburt geholfen und ihre Söhne aus dem Gasthof irgendwohin geschickt. Also war Georges einer dieser Jungen gewesen... „Jetzt erinnere ich mich.", gestand Oscar und versuchte Georges mit den nächsten Worten zur Vernunft zu bringen. „Ich bin deiner Familie dankbar, dass ihr mir damals geholfen habt, aber ich kenne euer Leid nicht und niemand gibt dir das Recht, unschuldige Menschen zu töten!"
Unschuldige Menschen? Hatte sie ihm überhaupt zugehört? Und wieso redete er überhaupt mit ihr? Sie sollte sterben! „Adieu, schöner Oberst!" Georges drückte ab.
Oscar wich jedoch aus und drückte ihre Pistole ab. Sein Schuss ging ins Leere, ihrer dagegen traf seinen Arm. Sein Gewehr flog zu Boden und Blut sickerte ihm aus der Wunde. Georges schien das aber nicht zu stören und zog ein Messer aus seinem Gürtel. Verspürte er etwa keine Schmerzen? „Du bist dem Wahn verfallen!", brüllte Oscar und machte ein paar Schritte rückwärts. Der Rand der Mauer stoppte sie und sie warf einen Blick zur Seite. Vor ihr stand ein hasserfüllter Georges und hinter ihr war der tiefe Abgrund von dem Turm. Zeitgleich bemerkte sie Bewegungen auf dem benachbarten Turm und schaute kurz hin. André und Alain rannten hinaus und als sie die Gefahr realisierten, zielten sie ihre Gewehre schussbereit auf Georges. „Nicht schießen!", befahl Oscar und schaute zurück zu Georges. „Hör mit dem Unsinn auf! Du bist verletzt und musst zum Arzt!"
„Das ist mir egal! Ihr alle müsst sterben!", spie Georges und griff sie an. Oscar duckte sich und da hallten zwei Gewehrschüsse. Georges schwankte ein paar Schritte auf sie zu und fiel dann tot um. Oscar kam zu ihm und dachte dabei an alles, was er gesagt hatte. Oscar konnte sich nicht entsinnen, welches Leid sie seiner Familie zugefügt haben könnte. Im Gegenteil. Nach der Geburt und der Taufe von François, hatte sie seine Eltern und die Hebamme gut entlohnt. der kleinen Dorfkirche hatte sie ein paar Goldmünzen gespendet. Warum dann so viel Groll und Hass gegen sie und ihre Familie? Den Grund würde sie offensichtlich nicht mehr erfahren.
Oscar hörte hastende Schritte und hob den Kopf. André und Alain rannten zu ihr auf den Turm hinaus. „Alles in Ordnung, Oscar?", fragte André sogleich besorgt und musterte sie ausgiebig.
Oscar sagte weder ja noch nein. „Georges war der Täter. Er wollte mich, dann dich und unseren François umbringen."
Dann war das die richtige Entscheidung gewesen, auf Georges zu schießen, dachte Alain mit leichten Gewissensbissen. Er hatte das getan, nicht weil General de Jarjayes ihm es gestern befohlen hatte, sondern einfach, weil André als erster sein Gewehr gezogen hatte. Alain kniete zu dem Toten. „Ich muss ihn zu seiner Familie bringen."
„Ja, natürlich." Oscar entließ ihn und ging mit André zu ihrer Kompanie zurück, um den Vorfall mitzuteilen und ihren eigentlichen Auftrag zu Ende auszuführen. Sie halfen nur Alain den Leichnam von Georges in eine Decke zu wickeln und auf eine Bahre zu laden, dann trennten sich ihre Wege.
Alain brachte den Leichnam von Georges direkt zu dessen Bruder Armand und erzählte ihm, wie er starb. Er verschwieg nur, von wem er getötet worden war. Armand hielt sich in seiner Anwesenheit beherrscht und ballte nur seine Hände zu Fäusten. Sein Blick ruhte nur auf dem toten Georges. Er wollte nur eines wissen: „Wer hat meinen Bruder erschossen?"
Alain überhörte die Frage. „Er hat unseren Kommandanten bedroht und ließ uns keine andere Wahl."
„Euch?" Armand warf Alain einen verständnislosen Blick zu. „Willst du damit sagen, ihr wart in der Überzahl?"
„Ruhig, Armand, sorge erst einmal dafür, dass dein Bruder bestattet wird und dann können wir weiter sprechen." Alain verabschiedete sich, denn er war so gesehen noch im Dienst und musste zurück in die Kaserne.
„In Ordnung, Alain, das werde ich tun." Armand wartete, bis Alain ging und dann kniete er bei dem Leichnam seines Bruders. „Ich schwöre dir, ich werde jeden töten, der dir das angetan hat, mein kleiner Bruder! Besonders diesen Hurensohn von Graf, dann die blonde Hure in Uniform und ihre Zwillingsbastarde, sie alle werden für das Leid bezahlen, das sie über uns gebracht haben!"
