Liebe, Lüge, Wahrheit
Kapitel 79 – Neue Bedrohung
Januar 1789
Der Volksaufstand und das Massaker im letzten Sommer waren erst der Anfang. Immer mehr Menschen gingen auf die Straßen und protestierten gegen das alte Regime. Öffentliche Versammlungen entstanden fast jeden Tag und die Redner forderten das arme Volk auf, die Unterdrückung nicht mehr zu dulden und sich dagegen zu wehren. Die vor Hunger und Krankheit geplagten Menschen hörten auf die Redner und taten genau das. Bis der König in die Enge getrieben wurde und keine andere Wahl hatte, als einen offiziellen Erlass in Form eines Schreibens zu veröffentlichen. Dort stand, dass im Mai eine Versammlung aller drei Stände stattfinden sollte. Das alles berichtete André seiner Geliebten auf dem Anwesen de Jarjayes. „...und ich habe Bernard getroffen. Er hat Rosalie vor ein paar Monaten geheiratet und ich soll dir und unseren Ziehkindern schöne Grüße von ihr ausrichten.", beendete er und beobachtete unterschwellig den Gast, der Oscar seit dem Gemetzel im Sommer wieder oft besuchte. Allerdings beschlich André das Gefühl, dass er das nicht wegen Oscar machte. Graf de Girodel fragte bei jedem seiner Besuche nach Befinden von Philippe und dessen Mutter. Marie ging es den Umständen entsprechend gut, sie verarbeitete den Verlust ihres Mannes und zusammen mit ihrem Sohn lenkte sie sich mit der Arbeit auf dem Anwesen de Jarjayes ab. Es sah so aus, als würde Girodel eine gewisse Sympathie zu den beiden entwickeln und André schöpfte daraus Hoffnung, dass der Graf vielleicht dadurch Oscar aus seinem Herzen verbannen würde.
Zurzeit befanden sie sich zu dritt in dem großen Salon von Oscar und genossen den Tee, den Marie vor kurzem gebracht hatte. Die Kinder waren nicht dabei. Marguerite und Philippe machten draußen eine Schneeballschlacht und François mit Augustin besuchte Diane. Die Schwester von Alain verarbeitete den Verrat ihres verstorbenen Verlobten, aber sie war nicht mehr wie früher. Teilnahmslos und als wäre sie nur ein Schatten ihrer selbst, fristete sie ihr Dasein bei ihrem Bruder. Aber wenigstens sie lebte weiter und unternahm keine weiteren Selbstmordversuche. Zumal ihre Mutter im Herbst krank wurde und in kurzer Zeit später daran verstarb. Das hatte Diane und Alain noch mehr zugesetzt, aber das Leben ging nun mal weiter, auch wenn es schwer und bitter war. Nach der Beerdigung seiner Mutter verkaufte Alain seine Wohnung und zog zusammen mit seiner Schwester zu Constance ins Haus. Seine Geliebte kümmerte sich um die beiden und gab ihnen die nötige Stütze, den seelischen Beistand und die nötige Kraft, den Verlust zu überstehen und zu verarbeiten. Auch François und Augustin besuchten sie regelmäßig und halfen ihnen, wo sie konnten.
„Danke für die Grüße. Ich werde Rosalie irgendwann besuchen und sie zu ihrer Heirat mit Bernard gratulieren.", hörte André seine Oscar sagen und kehrte aus seinen Gedanken zurück. Die Neuigkeit, dass Rosalie Bernard geheiratet hatte, war zwar erheiternd, aber die schweren Zeiten rückten dies an die zweite Stelle. Oscar richtete ihre nächsten Worte sogleich an ihren einstmaligen Untergebenen in der königlichen Garde. „Habt Ihr schon etwas von Graf von Fersen gehört?" Sie war ihm sehr dankbar, dass er sich beim Aufstand im Sommer für das Volk eingesetzt und den kleinen Philippe zu seiner Mutter gebracht hatte.
Victor schüttelte verneinend mit dem Kopf. „Nein, Kommandant. Seit dem Vorfall im Sommer wurde es um Graf von Fersen sehr still." Er nahm seine Tasse Tee und trank einen Schluck. Dabei warf er einen Blick auf Oscar und dachte an die vergangenen Ereignisse. Seit jener Nacht hatte sich das Verhältnis zwischen ihnen geändert. Es war nicht mehr so kühl, distanziert und geplagt von Gewissensbissen. Das Gleiche betraf auch die Zwillingsbrüder. François und Augustin redeten wieder mit ihm – so als wäre das Zerwürfnis wegen Oscar zwischen ihnen nie gewesen. Die derzeit herrschende Lage und die schwierigen Zustände im Land schienen sie zu einer Art Verbündeten zu machen. Die Gespräche über die Machtwirtschaft, die Not der Bürger und der allgemeinen Politik verdrängten die alten Gefühle zu seinem einstigen Kommandanten. Vielleicht war es auch gut so. Victor stellte seine Tasse auf dem kleinen Tisch ab und beendete seine Rede über den schwedischen Grafen. „Ich vermute, Graf von Fersen hält sich jetzt deshalb zurück, weil der König ihn auf meinen Rat nicht mehr mit seiner Armee in die Stadt schickt. Zum Glück kreuzen sich die Wege zwischen mir und Graf von Fersen in Versailles nicht, sodass er und ich nicht in einen Konflikt wegen der Sache im Sommer geraten können." Genauer gesagt, hatte er den König mit der Begründung dazu überredet, den Grafen nicht mehr in die Stadt zu schicken, dass Oberst Oscar und ihre Soldatentruppe in Paris die Aufständischen besser unter Kontrolle brachten, als der Graf aus Schweden. Und er hatte seiner Majestät die Gräueltaten von von Fersen geschildert, woraufhin der König ein Einsehen hatte und auf ihn hörte.
„Das ist gut." Oscar stand von ihrem gepolsterten Stuhl auf und ging ans Fenster. Soweit sie wusste, konnte Graf von Fersen dem wütenden Mob im Sommer sicher entkommen. Obwohl sie seinen Hass gegen die Pariser Bevölkerung nicht nachvollziehen konnte, war sie jedoch beruhigt, dass er unversehrt blieb. Ein kaum merkliches Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie draußen im verschneiten Hof ihre Tochter sah. Zusammen mit Philippe und Marie baute sie gerade einen Schneemann und hatte ihren Spaß dabei. Philippe vermisste zwar ab und zu seinen Vater, aber Dank der sorglosen Fröhlichkeit von Marguerite, kehrte er zurück ins Leben und lachte wieder. Wenigstens die Kinder hatten noch ihre Freude und Lachen nicht verloren... Bis auf François und Augustin. Die zwei verbrachten mehr Zeit bei Alain und Diane, was Oscar sehr gut verstehen konnte. Augustin verband mit Alain eine Freundschaft, durch dessen Tochter Anna und François schien in Diane mehr zu sehen als eine Freundin. Er sprach nicht über seine Gefühle, aber das brauchte er auch nicht, denn seine Eltern verstanden ihn auch ohne Worte und fühlten mit ihm mit. Ein graues Pferd preschte durch das Eisentor und erregte die Aufmerksamkeit von Oscar. „François?" Sie bekam prompt ein mulmiges Gefühl. Auch wenn sie Augustin nur halbherzig an der Seite ihres Sohnes weiterhin duldete, die immer wieder aufkeimenden Schuldgefühle gegenüber ihm verdrängte und ihn wie einen ihrer Soldaten behandelte, ahnte sie jedoch, dass etwas passiert war. Denn François sah sehr aufgebracht aus und hinter ihm ritt auch kein Augustin in den Hof des Anwesens de Jarjayes ein. Hastig sprang der braunhaarige Knabe aus dem Sattel, achtete nicht auf die spielenden Kinder, die ihm zum Gruß fröhlich zuwinkten, und eilte in das Haus. Sicherlich würde er gleich hier sein und ihnen eine unangenehme Neuigkeit mitteilen, ahnte Oscar und drehte sich zu den beiden Männern um. „François ist hier und er ist allein."
„Ohne Augustin?" André und Girodel wunderten sich gleichermaßen.
„Ja, allein und das gefällt mir ganz und gar nicht.", ergänzte Oscar mit gerunzelter Stirn und wenige Augenblicke später befand sich André schon bei ihr. Ungeachtet auf die Anwesenheit von Girodel, fasste er sachte ihre Hand und hielt sie an seiner Brust. Egal was jetzt kommt, ich bin bei dir, besagte sein sanfter Blick der smaragdgrünen Augen und Oscar fühlte sich schon wesentlich besser.
Girodel schaute nicht zu ihnen, sondern starrte die Tür an und bekam auch ein eigenartiges Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Denn wenn Zwillinge getrennt auftauchten, dann war in der Tat etwas passiert. Das war ihm letzten Sommer bewusst geworden, als Augustin ohne François mitten im Gemetzel erschienen war und er später den Grund dafür erfahren hatte.
Die Tür ging auf und François stürmte aufgebracht herein. Flüchtig grüßte er seinen Patenonkel und kam gleich zur Sache: „Vater, Mutter, ich bleibe heute zusammen mit Augustin bei Alain. Er wurde heute angegriffen und mit einem Messer am Bauch verletzt."
„Wer wurde verletzt?" Girodel sprang sogleich von seinem Stuhl auf und spannte seine Muskeln an. „Augustin?"
„Nein. Augustin geht es gut, aber Alain liegt jetzt mit einer Schnittwunde bei seiner Constance und wird von ihr versorgt.", erklärte François mit einem schnellen Wortschwall, aber auch für alle verständlich. „Die Schnittwunde ist zum Glück nicht tief und Alain wird es überleben, aber er braucht ein paar freie Tage. Deswegen bin ich hier, um euch das zu sagen."
André, Oscar und Girodel atmeten erleichtert auf. „Ich werde morgen Alain bis zu seiner Genesung selbstverständlich freistellen.", sagte Oscar und wollte sogleich das nächste von ihrem Sohn wissen: „Weißt du, wer auf Alain eingestochen hat? Und wie ist es überhaupt dazu gekommen?" Sie dachte, Alain war in einer Schlägerei verwickelt gewesen, die dann ausartete. Eine andere Erklärung dafür konnte sie nicht finden.
François kaute nervös auf seiner Unterlippe. Ja, er wusste, wer der Täter war, denn dieser Mann sehnte sich nach Rache, seit er Augustin getroffen hatte. Aber sollte er das auch seinen Eltern offenbaren? Und das auch noch in Anwesenheit von Graf de Girodel?
André merkte eine gewisse Unschlüssigkeit bei seinem Sohn, kam auf ihn zu und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Erzähl uns einfach alles.", empfahl er in einem ruhigen Ton und lächelte gar aufmunternd.
François atmete tief ein und aus, legte sich ein paar passende Worte zurecht und begann zu erzählen. „Augustin und ich wollten schon nach Hause aufbrechen, als es an der Tür geklopft hatte. Constance machte sie auf und dann kam ein Mann ins Haus, den Alain sehr gut kennt. Alain ging zu ihm, fragte ihn, was er wollte und anstelle einer Antwort bekam er ein Messer in den Bauch. Zum Glück waren Augustin und ich in der Nähe. Wir griffen sogleich ein, aber der Mann flüchtete schnell aus dem Haus." François schaute bei den nächsten Worten seinem Vater direkt ins Gesicht. „Dieser Mann heißt Armand. Er ist der ältere Bruder von Georges, den du und Alain letzten Sommer aus Notwehr erschossen habt. Armand will Rache und hat schon im Herbst in unserer Kaserne Erkundungen gemacht. Anscheinend fand er dort ein paar Freunde, traf sich mit ihnen und fand so alles heraus, was er wissen wollte."
Erinnerungen an Georges strömten auf Oscar ein. Kurz vor seinem Tod hatte er ihr etwas aus der Vergangenheit offenbart und hätte ihr vielleicht noch mehr gesagt, wenn er von André und Alain nicht getötet worden wäre. Nun tauchte jetzt dessen Bruder auf und wollte Rache. Aber warum nur? Oder war er von derselben Meinung geprägt, wie Georges? War ihre kleine Familie jetzt in Gefahr? Was konnte sie tun, um ihre Lieben zu beschützen? Sei es auch, wenn das nur ein einziger Mann war, der womöglich demselben Wahn verfiel wie sein verstorbener Bruder... Oscar traf sogleich eine Entscheidung. „Ich werde dafür sorgen, dass dieser Armand gefunden und für seinen Angriff auf Alain bestraft wird. François, du und André werdet nicht mehr alleine irgendwohin ausreiten. Solange, bis Armand nicht gefasst ist, werdet ihr euch nicht ohne Begleitung auf die Straße wagen." Sie warf einen Blick zu ihrem Gast. „Graf de Girodel, bitte begleitet François bis zum Haus von Alain und sorgt dafür, dass er dort gut ankommt. Danach kommt Ihr wieder hierher und berichtet mir, ob Euch etwas Verdächtiges aufgefallen ist."
„Selbstverständlich." Victor konnte zwar verstehen, dass Oscar sich Sorgen um ihren Sohn und auch um ihren Geliebten machte, aber nur wegen einem einzelnen Mann solche Maßnahmen gleich zu ergreifen, war für ihn unverständlich. Eher würde er ihr Handeln wegen den Unruhen und Aufständischen in der Stadt verstehen, als wegen diesem Armand. Jedoch tat er ihr den Gefallen und begleitete sein Patenkind bis zu dem Haus von dem Soldaten Alain aus Oscars Kompanie. Als François im Haus verschwand, ritt er zurück und berichtete seiner ehemaligen Kommandantin, dass er nichts Auffälliges entdeckt hatte. Die Straßen waren zwar verschneit, aber ansonsten blieb alles ruhig und die meisten Menschen bei der frostigen Kälte kamen ohnehin nicht raus und blieben lieber Zuhause.
