Szene 6: Heute kann es regnen, stürmen oder schneien!

Als Five an diesem Samstag die Augen aufschlug, war die Welt draußen war noch in einen tiefblauen Schein getaucht. Er gähnte laut und wollte sich noch einmal in im Bett umdrehen, da fiel sein Blick auf die roten Leuchtbuchstaben seines Digitalweckers: 6:55 Uhr. Sein Herz machte einen erschrockenen Hüpfer. Verdammt! Er hatte verschlafen. Hastig setzte er sich auf und schwang seine Beine aus dem Bett. Als er aufstehen wollte, verhedderte er sich jedoch in seiner Bettdecke und schlug der Länge nach auf den Boden. Na, der Tag geht ja gut los, dachte er verärgert, als er sich endlich aus der verdrehten Decke befreit hatte. Mit einer Mischung aus Wut und Müdigkeit im Bauch stapfte er aus seinem Zimmer die Treppe hinunter.

„Einen wunderschönen Guten Morgen!" rief Luther munter und gut gelaunt, als Five in die warme Küche schlurfte und sich auf einen Stuhl setzte. Der Raum war bereits mit dem Duft nach frischem Brot, Marmelade, Tee, Kaffee und Eiern erfüllt und verströmte eine heimelige Atmosphäre, die man sonst vergeblich in der Academy suchte. Seine Geschwister saßen schon beim Frühstück, unterhielten sich angeregt und klapperten dabei laut mit ihrem Besteck.

„Könnt ihr nicht etwas leiser sein?" brummte Five genervt und fuhr sich durch seine rabenschwarzen Haare. Die Müdigkeit steckte noch immer tief in seinen Gliedern.

„Nöhöhö, keine Chance!" sagte sein Bruder Diego in einem äußert nervtötenden Singsang, setzte ein fieses Lächeln auf und schlug mit seinem Löffel extra laut gegen den Rand seiner Müslischüssel. Das helle Geschepper tat Five in den Ohren weh. „Hör sofort auf damit!", zischte er und versuchte Diego den Löffel mit einem Ruck zu entreißen, was allerdings nur dazu führte, dass Diegos Müslischüssel umkippte und sich dessen Inhalt über den ganzen Tisch ergoss. Eilig versuchten die anderen ihre Teller und Tassen vor der Milch-, und Müsliflut in Sicherheit zu bringen.

„Jungs! Keine Streitereien am frühen Morgen!" mahnte Grace, wendete ihren Blick aber nicht von der Pfanne ab, in welcher sie gerade Spiegeleier briet. „Nein, Mom, natürlich nicht!" sagte Diego mit weicher Stimmer, schnitt Five dabei allerdings eine Grimasse. Fives Augen schossen zornige Blitze zurück. „Jetzt ist aber gut, ihr zwei! Ihr wollt euch doch nicht einen Tag vor eurem Geburtstag zerstreiten, oder?", sagte Grace besänftigend und stellte einen Teller mit Spiegeleiern und Speck vor Luther auf den Tisch, der sich sofort gierig darüber her machte.

Dann wischte sie ihre Hände an ihrer geblümten Schürze ab und reichte Five eine dampfenden Becher Kaffee von der Anrichte. Eigentlich war er mit seinen zehn Jahren noch etwas zu jung für Kaffee, vor allem für schwarzen, wie er ihn gerne mochte, doch seitdem er dieses wunderbare Lebenselixier einmal auf einem heimlichen Ausflug in Griddy's Doughnut Shop getrunken hatte, konnte er nicht genug davon bekommen. Es belebte sein Gehirn auf eine Weise, die er bisher nur von wissenschaftlichen Büchern kannte. Five war schlicht und einfach süchtig nach schwarzem Kaffee, sein Körper konnte ohne ihn nicht funktionieren, genauso wenig wie sein Gehirn nicht ohne Zahlen und Formeln auskam. Zum Glück hatte Grace irgendwann ein Einsehen gehabt und seiner endlosen Bettelei nach Kaffee schließlich nachgegeben und seitdem stellte sie ihm jeden Morgen eine frisch aufgebrühte Tasse an seinen Platz am Tisch, wofür er ihr überaus dankbar war.

„So, Kinder", flötete sie, „morgen ist euer großer Tag, seid ihr schon aufgeregt?" Liebevoll blickte sie in ein Kindergesicht nach dem anderen. „Geburtstag, ja, ja, JA!" brach Klaus in lauten Jubel aus und sprang von seinem Stuhl auf. Auch Luther und Diego grinsten über beide Backen und in Allisons Augen lag ein aufgeregtes Funkeln.

Five, der mit Geburtstagen so gar nichts anfangen konnte – denn für ihn waren sie einfach ein ganz normaler Tag wie jeder andere auch - blickte ans Ende des Tisches zu seinem Bruder Ben, der sich wie üblich nicht am Tischgespräch beteiligte. Neugierig reckte Five seinen Kopf nach hinten, um herauszufinden, was diesmal die Aufmerksamkeit seines Bruders fesselte. Ah! Ben war gerade in einen Superheldencomic versunken, den der heimlich unterm Tisch las. Five musste grinsen. Wie schaffte es sein Bruder nur immer, seine Comics hineinzuschmuggeln? Irgendwie hatte Ben ein magisches Talent dafür, Dinge heimlich und unbemerkt vor den Augen anderer zu tun. Auf seltsame Weise gelang es ihm stets, sich mit seiner zurückhaltenden Art irgendwie unsichtbar zu machen und Five beneidete ihn manchmal darum, denn seine voreilige Zunge hatte ihn mehr als nur einmal zur Zielscheibe der allgemeinen Aufmerksamkeit werden lassen. Und nichts hasste er mehr.

„Ich dachte", setzte jetzt Grace an, „ich könnte dieses Jahr etwas ganz Besonderes für euren Geburtstag machen, ihr seid doch meine besonderen Schätze und schon so groß. Zärtlich und ein bisschen wehmütig streichelte sie über Diegos und Luthers Kopf, denen sie am nächsten stand und sie hätte es wohl auch bei Five versucht, wenn dieser nicht schnell seinen Kopf weggeduckt hätte. „Grace, bitte! Hör damit auf!", insistierte er und ein leichter Rotton färbte seine ansonsten so blassen Wagen. Grace lächelte nachsichtig. „Aber, Five, mein Liebling, ich kann doch nicht anders, ihr seid eben ganz besonders für mich!"

„Ja, bis auf Vanya, an der ist nun wirklich nichts Besonderes", sagte Allison plötzlich mit einem hämischen Tonfall und blickte dabei zu Vanya rüber, die unscheinbar an der äußersten Ecke des Tisches saß und ihre zarten Schultern hängen ließ. Da brauchst du dir keine besondere Mühe zu geben, Mom!" stichelte sie weiter und verzog ihre hell pink geschminkten Lippen zu einem gemeinen Lächeln. Aus Vanyas Gesicht wich jede Farbe und ihre Unterlippe begann zu zittern.

Allison!", rief Klaus entsetzt, da sah Five auch schon, wie Vanya so hastig vom Frühstückstisch aufsprang, dass ihr Stuhl mit einem lauten Knall hinter ihr auf die Fliesen krachte. Ihre weit aufgerissenen braunen Augen füllten sich mit Tränen, die sie schnell mit zittriger Hand wegwischte und ohne sich noch einmal umzudrehen, lief sie aus der Küche.

Five blickte erschrocken zu seinen Geschwistern, doch die aßen mit gesengtem Kopf weiter ihr Frühstück und machten keinerlei Anstalten, ihrer Schwester nachzulaufen. Five durchlöcherte Allison mit bitterbösen Blicken, doch Allison schien vollauf damit beschäftigt zu sein, mit grimmiger Miene die Erdbeeren in ihrem Joghurt zu zermanschen und schaute nicht einmal auf, egal wie sehr Five sie auch anstarrte. Er suchte den Blick seiner anderen Geschwister, aber selbst Klaus senkte betont unbeteiligt den Kopf über sein Frühstück. Wollten sie denn gar nichts wegen Vanya unternehmen?

Er spürte heiße Wut in sich hochkochen. Sollten die Feiglinge doch bleiben, wo der Pfeffer wächst! „Ihr seid solche...solche Ärsche!" knurrte er mit zusammengebissenen Zähnen, dann sprang er von seinem Stuhl auf und lief Vanya hinterher. Er brauchte sie allerdings nicht lange zu suchen, ihre verzweifelten Schluchzer hallten schon von weitem durch die stillen Gänge der Academy. Zusammengekauert und den Kopf in ihren Armen vergraben, saß sie auf der unterste Treppenstufe und weinte, ihr Körper zitterte und bebte dabei.

Schöne Scheiße aber auch! dachte Five ratlos. Nur langsam trat er näher an seine weinende Schwester heran, er war unschlüssig, was genau er jetzt tun sollte. Er kam sich selten dämlich vor, wie er da vor seiner völlig aufgelösten Schwester herumstand, die ihren zitternden Körper vor und zurück wiegte und seine Anwesenheit nicht einmal zu bemerken schien.

Vorsichtig trat er näher an sie heran und setzte sich schließlich neben sie auf die Treppe. Seine schweißnassen Hände fuhren nervös seine Oberschenkel auf und ab. Er sollte jetzt etwas sagen, dachte er, nein, er musste jetzt etwas sagen.

„Hey...hey, Vanya" flüsterte er leise, und versuchte seiner Stimme dabei einen sanften Klang zu geben, was ihm allerdings fürchterlich misslang, denn heraus kam nur ein seltsames Kieksen. Er räusperte sich und versuchte es noch einmal. „Hey...hey,...ist ja schon gut, Vanya, es wird alles wieder gut, du wirst sehen...", beteuerte er und tätschelte dabei ungeschickt ihren schmalen Rücken.

Vanya zog hörbar die Nase hoch, schniefte, schaute jedoch nicht zu ihm auf. „Wirklich, ... in ein paar Tagen hast du schon vergessen, was Allison gesagt hat, sie...sie hat einfach nicht über ihre Worte nachgedacht, ...sie hat manchmal so eine spezielle..ähm..besondere Art", versuchte er sie trösten. Doch Vanyas Weinen wurde noch lauter, nahm einen sirenenartigen Tonfall an. Verdammt! Er konnte so etwas einfach nicht. Wieso mussten seine Geschwister immer so...gefühlsduselig sein? Er hatte schon lange damit aufgehört, so einen Schwachsinn wie Gefühle an sich ran zu lassen. Sie boten den anderen nur Angriffsfläche und machten einen verwundbar. Deshalb machte es ja so viel Spaß Diego und Luther zu ärgern, er liebte es, sie vor Wut schäumen zu sehen, wenn er mit seiner scharfen Zunge wieder einmal einen ihrer Schwachpunkte getroffen hatte. Doch Vanya beim Weinen zuzuhören, machte ihn seltsam...betroffen?

Allisons Kommentar schien sie tief verletzt zu haben, denn auch nach einer Weile hörte nicht auf zu weinen. Tränen benetzten den Boden unter ihren Füßen. Five fing an, sich furchtbar überflüssig zu fühlen. „Schhhh, Vanya, schhh, bitte, das ist doch wirklich kein Grund zum Weinen, es ist doch wirklich nicht so schlimm!", wagte er einen erneuten Versuch, sie aufzumuntern und legte dabei ungeschickt einen Arm über ihre Schulter. „Für...für dich..vielleicht nicht!", krächzte sie zwischen einzelnen Schluchzern hervor. „Du bist ja auch was Besonderes – so wie die anderen! „Nur ich, ich war noch nie besonders! An mir ist überhaupt nichts Besonderes, es ist genau so, wie Allison gesagt hat und eigentlich gehöre ich auch gar nicht zu euch, ihr schließt ihr mich eh immer aus!", schniefte sie und ihre Augenbrauen zogen sich anklagend zusammen.

„Wir...das...das stimmt nicht..." antwortete Five halbherzig. „Wir sind einfach sehr...beschäftigt mit..." Vanya ließ ihn nicht ausreden. „ Ja, beschäftigt mit besonders sein, ich verstehe schon! Lass mich einfach in Ruhe, Five! Lasst mich alle in Ruhe!" schluchzte sie, zog sich am Treppengeländer hoch und stapfte mit wütenden Schritten die Treppe in den ersten Stock hinauf. Five blickte ihr mit hämmerndem Herz nach. Na, das lief ja richtiggehend hervorragend, dachte er, kickte beim Aufstehen gegen die Treppe und machte sich wieder zurück auf den Weg in die Küche.

In dieser Nacht konnte Five nicht schlafen, unruhig wälzte er sich von einer Seite seines Bettes zur anderen. Er kniff seine Augen fest zusammen, versuchte den Schlaf herbeizuzwingen, doch das Gespräch mit Vanya spukte ihm wieder und wieder durch den Kopf und ließ ihn einfach nicht zur Ruhe kommen. Sicher, sie hatte keine Kräfte, so wie er und seine Geschwister, aber das bedeutete doch nicht, dass sie nicht zu ihnen gehörte! Sie war genauso ein Teil der Hargreeves Familie wie all die anderen auch. Nicht, dass diese Familie etwas gewesen wäre, was er sich unbedingt gewünscht hätte, doch sie hatten nun mal niemand anderen. Da mussten sie doch zusammen halten! Zornig knirschte er mit den Zähnen. Wenn sie ihn nur hätte ausreden lassen, dann hätte er ihr alles erklären können, hätte vielleicht sogar die richtigen Worte gefunden, um sie zu trösten und ihren Schmerz etwas zu lindern.

Frustriert und wütend auf sich selbst vergrub er seinen Kopf im Kissen und zog die karierte Decke bis unter seine Ohren. Warum musste ihm solche Gespräche nur so unglaublich schwer fallen? Nie schien er die richtigen Worte zu finden und zuweilen verstand er die Gefühle seiner Geschwister einfach überhaupt nicht. Es blieb ihm oft ein Rätsel, warum manche Kleinigkeiten sie so aufregten oder traurig machten. Dann stand er verwirrt daneben und beobachtete, wie die Emotionen seiner Geschwister an die Oberfläche sprudelten und Chaos anrichteten.

Wenn also jemand nicht so war wie die anderen, dann war das doch eindeutig er! Trotzdem...seine Geschwister schlossen ihn nicht aus ,wie sie es bei Vanya taten, dass musste Five zugeben. Und obwohl sie ihn stets als „Klugscheißer" und „Angeber" bezeichneten, waren sie in Notsituationen doch immer für ihn da.

Er kaute auf seiner Lippe herum. Wenn er nur eine Idee hätte, einen genialen Plan, einen Geniestreich, um die klaffende Lücke zwischen Vanya und ihnen zu schließen. Doch in seinem Kopf herrschte absolute Leere. Und das war Neuland für ihn. Sonst wusste er immer, was zu tun war, hatte einen Plan, zumindest den Hauch einer Idee. Doch dieses Mal...dieses Mal kam der zündende Funke in seinem Gehirn einfach nicht. In seinem Geist blieb es dunkel. Er drehte sich auf den Rücken und starrte in die Dunkelheit hinein. Er würde jemanden um Hilfe bitten müssen, jemanden, der sich mit so etwas auskannte. Five überlegte hin und her, bis ihn endlich ein Geisterblitz traf. Klaus, ja, natürlich! Warum hatte er nicht gleich an ihn gedacht? Klaus war gut in solchen Dingen wie Gefühlen, er hatte ein besonderes Gespür für seine Mitmenschen, wusste was sie brauchten. Klaus, ja Klaus war die Lösung.

Mit wild pochendem Herzen schlug Five seine Bettdecke zurück und schlich auf den dunklen Gang hinaus, der zu seinem Glück wie ausgestorben vor ihm lag. Auf Zehenspitzen tastete er sich im Halbdunklen zu Klaus Zimmertür vor. Sollte er anklopfen? Nein, das wäre mehr als dumm, womöglich würde er noch die anderen damit aufwecken. Blieb nur noch der direkte Weg.

Fives ganzer Körper war zum Zerreißen angespannt, als er, so leise er konnte, die Türklinke herunter drückte und in Klaus' Zimmer hinein spähte. Der leise Klang eines Windspiels drang an seine Ohren und sofort umfing ihn ein Duft aus Räucherstäbchen und...uaahh...was war denn das? Five rümpfte die Nase und trat widerwillig tiefer in die Geruchswolke, die aus Klaus' Zimmer quoll.

Überall auf dem Boden verstreut lagen Klamotten, auf die Five möglichst nicht zu treten versuchte, als er sich zu Klaus Bett vorkämpfte. Klaus lag, soweit Five es im Dämmerlicht des Mondes erkennen konnte, schlafend auf seinem Bauch und hatte alle viere von sich gestreckt, seine bunt gemusterte Steppdecke war halb auf den Boden gerutscht.

Five streckte seine rechte Hand aus und rüttelte ihn sanft an der Schulter. „Klaus, hey, Klaus!"flüsterte er, „wach auf, ich brauche deine Hilfe!" Klaus gab einen lauten Schnarcher von sich und kratzte sich im Schlaf am Po. „Klaus! Jetzt komm schon!", versuchte Five es noch einmal mit heftigerem Gerüttel an seinen Schultern. Klaus gab erneut einen grunzenden Schnarcher von sich, bevor sich seine Augen einen Spalt öffneten. „Five? Was machstn du hier?" murmelte er schlaftrunken. „Ja, ich bin's" zischte Five heiser „ich brauche deine Hilfe! Jetzt!" „Wasn für Hilfe?", gähnte Klaus und schloss seine Augen wieder. „Nein, nicht wieder einschlafen, ich brauche deine Hilfe wegen... Vanya, ich habe es irgendwie...verbockt." Das letzte Wort nuschelte er so leise, dass er bezweifelte, dass Klaus er gehört haben konnte. „Vanya ...ja..." murmelte Klaus und dann: „Kuchen, so viel...Kuchen..." Klaus schmatzte laut im Schlaf. „Kuchen? Was soll das denn heißen...? „Ich brauche jetzt keinen Kuchen!", erwiderte Five leicht angesäuert, Ich brauche..." Moment mal! Er brauchte vielleicht keinen Kuchen, er machte sich eh nicht viel aus dem süßen Pappzeug, aber Vanya würde sich vielleicht über so etwas freuen. Es würde ihr zeigen, dass es ihm wirklich leidtat, dass er Allisons Kommentar einfach so stehen gelassen und beim Trösten auch noch alles vermasselt hatte. Fives Augen blitzten. „Danke Klaus, du bist ein Genie! Ausnahmsweise wenigstens", keuchte er aufgeregt und bahnte sich seinen Weg durch das Chaos zurück zur Zimmertür.

Die Gänge der nächtlichen Akademie lagen wie tot dar, als Five die Treppe in die Küche hinunterschlich. Er versuchte, sich so leise wie möglich durch die Räume zu bewegen, kurz überlegte er, ob er seine Kräfte benutzen und sich einfach in die Küche teleportieren sollte, doch das erschien ihm dann doch zu riskant. Er hatte noch nicht so viel Erfahrung mit der Teleportation in einen anderen Raum. Was, wenn er sich mit dem Abstand verschätze und krachend gegen ein Möbelstück teleportierte? Dann würde sein ganzer Plan zu Nichte gemacht werden. Nein, er musste sich wie ein normaler Mensch durch die Räume bewegen. Auf seinen Füßen. Leise schlich er Meter um Meter vorwärts, jedes Knacken und Knarzen der Dielen unter ihm ließ ihn aufschrecken und er fürchtete schon jede Sekunde von Pogo oder schlimmer noch von ihrem Vater dabei erwischt zu werden, wie er nachts verbotenerweise durch die Gänge stromerte, aber nichts dergleichen passierte. Unbehelligt kam er in der Küche an und drückte so sacht wie möglich die Tür hinter sich ins Schloss, die ein leises Klicken von sich gab. Als er sich versichert hatte, dass die Türe auch wirklich zu war, atmete er erleichtert aus und blickte im Raum sich um. Die Küche war wie immer ordentlich aufgeräumt und das war Grace zu verdanken, denn sie konnte Unordnung ebenso wenig leiden wie er. Er ließ seinen Augen weiter durch den Raum schweifen, suchte jeden Winkel an und prüfte, ob die Luft auch wirklich rein war. Ein paar Töpfe und Pfannen standen ordentlich aufgereiht auf dem Abtropfbrett neben der Spüle und Grace geblümte Schürze hing an einem Haken am Küchenschrank. Five lauschte in die nächtliche Stille hinein. Nur die Geräusche des Hauses drangen an seine Ohren und aus Richtung der Fenster konnte er von draußen den Lärm des nächtlichen Verkehrs wahrnehmen, aber sonst...nichts. Es schien niemand außer ihm da zu sein. Gut, dann konnte er gleich mit seiner Idee anfangen.

Entschlossen schritt er in Richtung des summenden Kühlschranks, zog die schwere Tür auf und holte alles aus den Fächern, was ihm für einen Kuchen irgendwie brauchbar erschien. Er stapelte die Lebensmittel aufeinander, bis er fast nicht mehr über den Berg in seinen Armen drüber sehen konnte und schleppte sie dann zur Küchentheke, wo er die gesammelten Zutaten vor sich abstellte. „So und jetzt einfach alles zusammen mischen, so schwer kann das ja wohl nicht sein..." redete er sich selbst Mut zu, während seine Hand unschlüssig über den Gläsern mit Marmelade, der Butter, den Eiern und der Milch schwebte. Fehlten da nicht noch Sachen für einen Kuchen? Five runzelte die Stirn.

Plötzlich kam von irgendwo her ein leises Kichern und dann sagte eine Stimme: „Was solln das werden, wenns fertig ist, he?" Five sprang vor Schreck ein paar Zentimeter in die Luft und stieß dabei seinen Ellbogen an der Küchentheke. „Aua, verdammte scheiße!", fluchte er und rieb sich die schmerzende Stelle, während seine Augen die Dunkelheit absuchten. „Kein Grund, gleich so zu fluchen, ich bin es bloß, Ben." Eine Gestalt schälte sich nun aus einer finsteren Ecke der Küche und trat zu ihm an die Küchentheke. „Verdamme Kacke, Ben, hast du mich vielleicht erschreckt!", beschwerte sich Five und rieb sich den noch immer schmerzenden Arm. „Kann ja ich nix für, mach beim nächsten Mal deine Augen besser auf!", erwiderte dieser ungerührt und biss von einem Apfel ab, den er in seiner linken Hand hielt. „Sieht übrigens interessant aus, was du da machst, soll das moderne Kunst sein oder so?" spottete er und zog eine Schnute.

„Ach, halt die Klappe, das wird ein Kuchen, sieht man doch!" brummte Five und holte jetzt allerhand Schüsseln und Töpfe aus den Schränken unterhalb der Theke. „Warum machste einen Kuchen? So mitten in der Nacht? Mom backt uns doch morgen sowieso einen, das macht sie doch jedes Jahr so!" sagte er. „Der ist nicht für mich, der ist für...für Vanya, als Entschuldigung.",sagte Five zögernd und sah Ben mit festem Blick an. Bens Augen weiteten sich ungläubig.

„Du machst den für Vanya?", fragte er überrascht und hielt dabei mitten in seiner Bewegung inne, sodass der Apfel auf halber Strecke zum Mund verharrte.

„Ja, für Vanya! Hast du ein Problem damit?" fragte Five in ungeduldigem Tonfall. Wenn sie hier noch ewig weiter sinnlos rumquatschten, würde der Kuchen nie fertig werden.

„Nein, nein, überhaupt nicht..Ich hatte nur nie gedacht, dass du..so..ähhh..nett..sein kannst", stotterte Ben. Er legte seinen angebissenen Apfel auf den Küchentisch und wischte sich die Hand an der Seite seiner Hose ab. „Lass mich dir dabei helfen, ja?"

Mit Bens Hilfe ging das Kuchenbacken um einiges besser und schneller voran. Nicht nur wusste er welche Zutaten in einen Kuchen gehörten – da fehlen Mehl und Zucker, du Trottel! - sondern auch, wie man das ganze zu einem glatten Teig verrührte. Mit geschickten Händen gab Ben mal hier mal da mehr oder weniger von einer Zutat in die Schüssel und als Five die geraspelten Schokostückchen in die hellgelbe Teigmasse schüttete und sie den Kuchen in den Ofen schoben, erfüllte ein unbekanntes Gefühl der Wärme und Zufriedenheit seine Brust. Während sie darauf warteten, dass der Kuchen im Backofen hochging, räumten sie die restlichen Zutaten wieder zurück in die Schränke und spülten das dreckige Geschirr ab.

Als Five gerade eine schmutzige Schüssel in das warme Seifenwasser tauchte, fiel ihm eine Frage aus seinem Mund, die in seinem Kopf bereits die ganze Zeit lang herumschwirrte, die der er mit Ben hier zusammen in der Küche war. „Ben? Sag mal...warum weißt du eigentlich so genau, wie man einen Kuchen backt? erkundigte er sich mit forschendem Blick. Ben zögerte einen Moment, bevor er antwortete: „Weißt du...manchmal schleiche ich nachts so...in die Küche...ich übe dann immer kochen, ich möchte bereit sein für den Tag, an dem...also falls meine richtigen Eltern kommen und mich abholen. Dann sollen sie nicht den Freak sehen, der ich bin, du weißt schon..- " Er seufzte tief. „ - der seltsame Junge, aus dessen Bauch Tentakeln und so was kommen, sie sollen stolz auf mich sein, sehen, dass ich was anderes kann als nur...abnormal zu sein."

Five starrte Ben entgeistert an. Ben sah betreten zu Boden, dann fuhr et fort: Ich denke...weißt du, ich denke, meine Eltern haben mich vielleicht deshalb weggegeben, weil...weil ich ihnen Angst gemacht habe mit meinen Kräften, aber vielleicht ändern sie ihre Meinung eines Tages ja? Vielleicht suchen sie mich und für den Tag...will ich bereit sein, Five. Für den Tag, an dem sie mich hier abholen.

Ben blickte jetzt direkt in Fives Gesicht und in seinen Augen konnte Five eine so wilde und verzweifelte Hoffnung lesen, dass er es nicht wagte, ihm zu sagen, dass niemals jemand kommen würde, um sie abzuholen, dass ihre Eltern sie alle im Stich gelassen hatten. Deshalb sagte er nur – und seine Stimme klang dabei ganz rau - : „Ganz bestimmt, Ben, ganz bestimmt kommen sie bald." Ben wischte sich verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel, bevor er die Nase kraus zog, schnupperte und sagte: „Irgendwas riecht hier angebrannt, oder?"

Nachdem Five und Ben den (nur ein wenig) angekokelten Kuchen mit einer Unmenge an Zuckerguss und Streuseln verschönert hatten, gingen sie beide zu Bett. Und dieses Mal fielen Five die Augen in der Sekunde zu, in der sein Kopf das Kissen berührte und er glitt in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Am nächsten Morgen wurde er davon geweckt, dass seine Zimmertür mit einem lauten Knall aufgerissen wurde und gegen die Türangeln flog. „Five, steh auf, steh auf, STEH AUF! Wir haben Geburtstag!", schrie irgendwer so laut , das Five die Ohren klingelten. Es kam ihm so vor, als hätte erst wenige Sekunden geschlafen und nur mit allergrößter Mühe schaffte er es, seine Augen einen Spaltbreit zu öffnen, da zog auch schon jemand so heftig an seinem Arm, dass er beinahe aus dem Bett fiel. „Hey! Was soll das?!" beschwerte sich Five. „GEBURTSTAG! JETZT!", schrie die Stimme und überschlug sich fast dabei. Five rieb sich die verquollenen Augen und als er endlich wieder scharf sehen konnte, sah er zwei lila grün gemusterte Pyjamahosenbeine vor seinem Bett stehen. Natürlich, es war wieder mal Klaus, der wie ein wilder Tornado in sein Zimmer gestürmt war und jetzt mit polternden Schritten durch seine offene Zimmertür die Treppe hinab ins Erdgeschoss rauschte. Five gähnte und streckte sich, dann zog er seinen dunkelblauen Morgenmantel über und folgte Klaus in gemächlichen Schritten die Treppe hinab.

Die Küche war bereits festlich in den Farben der Academy - rot und mattschwarz- geschmückt und der Frühstückstisch war für alle gedeckt. Als Five eintrat, konnte er Grace nirgends entdecken und das erklärte wohl auch, warum es in der Küche so überaus turbulent zuging. Seine Geschwister – heute ausnahmsweise alle noch im Pyjama – diskutierten wild hin und her, was sie denn wohl dieses Jahr zum Geburtstag bekommen würden. „Du kriegst bestimmt ein Modellflugzeug, Luther!", „Allison Schmuck" , „nein, das habe ich doch schon letztes Jahr bekommen!" „warte mal, mein Geschenk hat eine komisch zackige Form!" „Deins sieht aus wie ein Buch, oder?", lärmten die aufgeregten Stimmen durcheinander. Mehr oder weniger behutsam betasteten die Kinder dabei die hübsch verpackten Pakete, schüttelten sie vorsichtig und...roch Klaus da etwa an seinem Geschenk? Tatsächlich! Klaus hielt seine Nase an das grellrosa Geschenkpapier und beschnüffelte es von allen Seiten ausgiebig, als sei er ein Spürhund, der eine spannende Fährte gewittert hatte. Five zog kapitulierend beide Augenbrauen nach oben und seufzte leise. Klaus war eben... einfach Klaus, dachte er und setzte sich an den Tisch zu seinen Geschwistern. Auch auf seinem Frühstücksteller stand ein bunt eingepacktes Geschenk und obwohl er den ganzen Trubel und Lärm, den ihr gemeinsamer Geburtstag mit sich brachte, eigentlich verabscheute, stahl sich doch ein breites Lächeln in sein Gesicht. Geburtstage im Hargreeves Haus hatten ihre ganz eigene Dimension, fand er.

Fives gute Laune verflog jedoch nur wenige Minuten später, als sein Blick auf Vanya traf, die langsam durch die Küchentür herein geschlurft kam. Ihre strähnigen brauen Haare klebten an ihrem verweinten Gesicht und sie hatte ihre dünnen Arme fest um den eigenen Körper geschlungen. Zögernd blieb sie im Türrahmen stehen, beobachtete das bunte Treiben in der Küche aus sicherer Entfernung, wobei sie es kaum wagte, ihren Blick richtig zu heben.

Five spüre einen Stich in seinem Herzen. Sie wirkte so... verloren, wie sie dastand in ihrem viel zu großen blass grauen Bademantel und den brauen Hausschuhen.

Aufmunternd hob er seine rechte Hand, winkte ihr zu, bedeutete ihr, sich zu ihnen zu setzen, doch sie schüttelte nur stumm den Kopf.

Ein Finger piekste Five unvermittelt in seine rechte Seite. Er wandte seinen Blick von seiner Schwester ab und sah zu Ben, der leise zischte: „Na, hol ihn schon!" Fives Gesicht leuchtete auf. Er sprang von seinem Stuhl, lief schnurstracks durch die Küche und riss den Schrank auf, in dem sie den Kuchen nachts zuvor versteckt hatten. Vorsichtig balancierte ihn Five auf seinen Armen zu Vanya hinüber, die sich immer noch, sichtbar unbehaglich, im Türrahmen herumdrückte. Stille war hatte sich wie ein samtener Vorhang über den Raum gesenkt, als seine Geschwister das seltsame Verhalten ihres Bruders bemerkten, und mit angehaltenem Atem beobachteten sie die Szene, um nur ja nichts zu verpassen.

Vanyas Augen wurden groß, als Five mit dem Kuchen direkt auf sie zusteuerte und verunsichert trat sie einen hastigen Schritt zurück in den Flur. „Hey, warte, nicht weggehen!" sagte Five schnell zu ihr, während er versuchte, den wackelnden Kuchen in seinen Armen möglichst gerade zu halten. „Wir haben einen Kuchen für dich!" Vanya sah ihn ängstlich und verunsichert an. „Wirklich? Für...für mich?", fragte sie zögerlich und beäugte dabei den Kuchen. Five versuchte seiner Stimme einen überzeugenden und warmen Klang zu geben, als er bestätigte: „ Ja, wirklich, für dich! Als Entschuldigung. Es...es tut mir wirklich leid, was ich gestern zu dir gesagt habe, uns allen tut es leid. Nicht wahr, Allison?" fügte er rasch hinzu und seine Stimme hatte dabei einen scharfen Unterton angenommen. Fordernd blickte er seine Schwester an.

„Ja, wirklich...leid", nuschelte Allison vom Tisch herüber, schaute Vanya aber nicht direkt an.

Five streckte Vanya jetzt den selbstgemachten Kuchen hin, die zögerlich ihre Arme ausbreitete, um ihn entgegen zu nehmen. „So, und jetzt lass uns gemeinsam Geburtstag feiern, ja?", sagte Five munter und zog Vanya sanft am Ellbogen in die Küche, wo Klaus bereits völlig schief ihr alljährliches Geburtstagslied anstimmte: „ Heute kann es regnen, stürmen oder schneien...!"