Kapitel 2
Higashi wurde nach zwei weiteren Wochen aus dem Krankenhaus entlassen und stand nun mit einer vollen Reisentasche in Saoris Wohnzimmer. Er sah genauso unbeholfen aus, wie Saori sich dabei fühlte einen ihr fast unbekannten Mann temporär als Mitbewohner bei sich aufzunehmen. Es war für sie beide eine merkwürdige Situation. Sie wusste, dass er nach wie vor damit zu kämpfen hatte, dass er nicht wieder in seine Wohnung zurückkonnte. Nur Kaito zuliebe hatte er sich darauf eingelassen übergangsweise bei ihr unterzukommen. Kaito und Yagami hatten zwischenzeitlich erneut im Earth Angel vorbeigesehen, aber die Beschreibung der Mama war ebenso dürftig ausgefallen, wie es bereits Higashis Beschreibung gewesen war. Auch die Polizei tappte bei dem Angriff auf ihn weiterhin im Dunklen. Dass es bisher zu keinen weiteren Attacken gekommen war, beschleunigte nicht gerade die Ermittlungen – allerdings war es natürlich auch eine gute Nachricht.
Ein Maunzen hinter Saori und Higashi lockerte die unbehagliche Stimmung zwischen ihnen etwas auf, als sie ihm gerade sein Zimmer zeigen wollte. „Huch, wer ist denn das?", fragte er überrascht.
Saoris schwarze Katze lugte um die Ecke und beäugte misstrauisch wie Higashi näher auf sie zu kam. Als es ihr zu viel wurde, fauchte sie ihn an und rannte hastig an ihnen vorbei.
„Das ist Tio", erklärte Saori. „Männer sind ihr nicht geheuer. Mit Hoshino ist sie nie warm geworden." Plötzlich fiel ihr ein, dass sie Tio eigentlich hätte schon zu Beginn erwähnen müssen. „Ich habe dich gar nicht gefragt, ob du allergisch bist!"
„Keine Sorge, keine Allergie."
„Sehr gut. Sie wird dir wohl aus dem Weg gehen, aber nicht aggressiv sein", sagte sie und öffnete die Tür nahe des Eingangsbereiches um ihm das sporadisch eingerichtete Gästezimmer zu präsentieren, indem sich lediglich ein kleines Bett, ein Einbauschrank und ein Schreibtisch befanden. „Meine Mutter schläft manchmal hier. Ich nutze es auch als Arbeitszimmer. Tut mir leid, dass es so klein ist. Der Schreibtisch wird dich hoffentlich nicht stören."
„Ich brauche kaum Platz", sagte Higashi. Mit wenigen Schritten hatte er den kleinen Raum durchquert und trat ans bodentiefe Fenster, um einen Blick hinaus über die im Sonnenuntergang orange schimmernden Dächer zu werfen. „Du hast eine hübsche Aussicht", stellte er anerkennend fest.
Saori freute sich über seine Worte. Sie hing sehr an der Wohnung. „Hoffentlich fällt dir nicht die Decke auf den Kopf. Ich hätte jede Menge Bücher zur Auswahl. Im Keller ist auch noch ein alter Fernseher. Wir könnten Kaito oder Yagami bitten ihn in dein Zimmer zu tragen."
Als Higashi sich wieder zu ihr umwandte, lag ein Schmunzeln auf seinen Lippen. „Du bist nervös."
Saori fühlte sich ertappt und wich unangenehm berührt seinem Blick aus.
„Ich wollte dich nicht in Verlegenheit bringen", fügte er schnell hinzu.
„Du hast es dir nicht ausgesucht hier zu sein. Ich will, dass du es schön hast."
„Ich hoffe eher, dass ich dir nicht auf die Nerven gehen werde."
Er grinste schief, fast schon verlegen und es wurde still zwischen ihnen. Saori fiel auf wie gut es ihm stand, wenn er mal nicht den selbstsicheren Higashi gab und plötzlich fragte sie sich, wie viel seines generellen Auftretens Fassade war, damit er die Wertschätzung der Yakuza hatte gewinnen können. Als Saori bewusst wurde, dass sie sich immer noch in die Augen sahen und sie ihn dabei regelrecht angestarrt hatte, war sie es plötzlich, die verlegen wurde. Schnell wandte sie ihren Blick ab.
„Du willst sicherlich jetzt erst ein bisschen ankommen", sagte sie hastig und ging zügig wieder zur Tür. „Ich muss noch ein paar Akten prüfen. Wir können ja dann später etwas bestellen?"
„Gerne."
Nachdem Saori das Gästezimmer hinter sich geschlossen hatte, musste sie tief durchatmen. Sie hatte definitiv unterschätzt was für eine innere Unruhe es auslösen konnte unerwartet die Wohnung mit jemandem zu teilen.
Saori blinzelte. Verschlafen hob sie den Kopf und registrierte mit verschleiertem Blick ihr geöffnetes Notebook vor sich, dessen Monitor mittlerweile schwarz geworden war. Sie erinnerte sich daran, dass sie nur kurz hatte ihre Augen ausruhen wollen, aber dann wohl vor ihrer Arbeit am Küchentisch eingeschlafen war. Stöhnend rieb sie sich den schmerzenden Nacken und streckte gähnend die Arme in die Höhe. Etwas rutschte dabei von ihren Schultern. Verwirrt sah Saori hinter sich und bemerkte den unbekannten Hoodie, der nun auf dem Stuhl hinter ihrem Rücken lag.
„Ich dachte, du frierst vielleicht", sagte eine Stimme.
Erschrocken zuckte Saori zusammen. Higashi saß in T-Shirt und Jogginghose gekleidet ausgestreckt mit einem Buch auf ihrer Couch. Ein Anblick, an den sie sich erst gewöhnen musste. Der Hoodie musste seiner sein. Der Gedanke, dass er ihn wohl beim Schlafen über ihre Schultern gelegt hatte, ließ sie erröten.
„Was liest du da?", fragte sie schnell in der Hoffnung von ihrem Unbehagen abzulenken. Mehr aus Reflex war Saori sogar kurz versucht sich zu ihm auf die Couch zu setzen, allerdings wollte sie den höflichen Abstand zwischen ihnen wahren, also lehnte sie sich in ihrem Stuhl zurück.
Er hob das dicke Buch in die Höhe und sie erkannte das düstere Cover mit dem Gesicht eines jungen Mädchens. Es war eines ihrer Bücher.
„Oh, schwere Kost", sagte sie. „Davon gibt es noch zwei weitere – mindestens genauso dick."
„Wenn nicht jetzt, wann dann?", sagte Higashi schulterzuckend. „Was liest du gerade?"
Noch kurioser als der Anblick von Higashi auf ihrer Couch war eigentlich, sich plötzlich mit ihm über Bücher zu unterhalten, als hätten sie einen Lesezirkel gegründet und würden sich nun jeden Freitagabend zu Kaffee und Kuchen treffen. Er bemühte sich, sie bemühte sich – alles war zu bemüht.
„Etwas neues von Stephen King."
Er schmunzelte. „Hat man als Anwältin nicht schon genug Horror in seinem Leben?"
„Es ist immer eine Gratwanderung zwischen Horror und Langeweile", sagte Saori und schloss ihr noch immer geöffnetes Notebook. Heute hatte sie nicht viel geschafft. Sie würde wohl am Wochenende etwas Arbeit nachholen müssen. Noch immer schmerzte ihr Nacken, also sollte nun Entspannung an der Tagesordnung stehen. „Was sagst du zu Essen bestellen und Film gucken?"
„Klingt gut", erwiderte er und Saori wusste in diesem Moment, dass er es ihr niemals ehrlich gesagt hätte, wenn ihm dieser Vorschlag nicht recht gewesen wäre.
„Du musst dich locker machen." Mafuyu warf Saori einen tadelnden Blick zu und stopfte sich einen großen Bissen Fisch in den Mund. „Higashi ist kein kleines Kind."
„Das ist mir bewusst, aber man sieht ihm an, dass es ihm immer schlechter geht."
Higashi hatte sich als ein ausgesprochen angenehmer Mitbewohner herausgestellt. Tagsüber hatte Saori sogar manchmal vergessen, dass sie nicht alleine war. Er versuchte nicht aufzufallen, sprach nicht viel und verbrachte die meiste Zeit in seinem Zimmer. Sie hatten lediglich miteinander gegessen, wobei er in dieser Zeit sehr geistesabwesend gewirkt hatte. Saori war aufgefallen, dass die Schatten unter seinen Augen mit jedem Tag tiefer wurden.
Umso schrecklicher fühlte sie sich, als sie heute nach dem Wochenende die Wohnung wieder für die Arbeit verlassen hatte und er nun ganz alleine war. Higashi hatte morgens so aufgesetzt fröhlich gewirkt, dass Saori nun von einer inneren Unruhe durch den Tag begleitet wurde. Nun saß sie in ihrer Mittagspause in Gendas Kanzlei zwischen Mafuyu und Hoshino und zerfloss vor Sorge um ihn regelrecht.
„Natürlich geht es ihm nicht gut", sagte Hoshino mit missbilligender Miene. „Er wäre fast gestorben und jetzt wird er gezwungen bei dir zu wohnen. Da würde es mir auch nicht gut gehen."
Mafuyu zog spöttisch die Augenbraue empor. „Als würdest du darunter leiden, wenn du mit Saori zusammenwohnen müsstest."
Ehe Hoshino empört reagieren konnte, fiel Saori ihm ins Wort. „Hört bitte auf", seufzte sie genervt und darf Mafuyu einen strengen Blick zu.
Diese sagte nichts mehr, kräuselte allerdings triumphierend die Lippen und konzentrierte sich mit unschuldigem Gesichtsausdruck wieder auf ihr Essen. Saori wusste, dass sich Mafuyu sehr wohl darüber im Klaren war wie gemein es von ihr war Hoshino wegen seiner Gefühle angesichts ihrer Trennung aufzuziehen, aber da Hoshino Mafuyu nicht selten auf die Nerven ging, hatten die beiden ebenfalls ein etwas kompliziertes Verhältnis zueinander.
„Kaito kann ihn jetzt sicher wieder auf andere Gedanken bringen", lenkte Hoshino versöhnlich ein. Saori wusste, dass ihn Higashis Zustand nicht kümmerte, sondern er lediglich ihr ein besseres Gefühl vermitteln wollte, aber er hatte einen Punkt. Dass Kaito ausgerechnet über dieses Wochenende verreist war, war schlechtes Timing gewesen. Jetzt konnte es nur bergauf gehen.
Saoris restlicher Arbeitstag war voller Termine gewesen und daher im Nu verflogen. Als sie irgendwann erschöpft den Heimweg antreten konnte, dämmerte es bereits. Dass etwas nicht stimmte, fiel Saori sofort auf, als sie von der U-Bahn die Treppen hoch in ihr Wohnviertel kam und feststellen musste, dass trotz der Dämmerung noch keine Straßenlaternen angegangen waren und alle Wohnhäuser im Dunklen lagen.
Aus den Gesprächsfetzen einiger Menschen auf der Straße registrierte Saori im Vorbeigehen den allgemeinen Unmut über den fehlenden Strom. Genervt stellte sie nach wenigen Gehminuten schließlich fest, dass der Stromausfall auch bis zu ihrem Mietshaus reichte. Missmutig stieg sie die Treppen zum vierten Stock hinauf und kam nach einer viel zu langen Ewigkeit atemlos und mit leichtem Seitenstechen vor ihrer Wohnung an. Sie fasste den Entschluss, dass sie an ihrer Kondition arbeiten musste und öfter auf den Aufzug verzichten sollte, während sie nach dem Schlüssel in ihrer Handtasche kramte.
Es war mehr die Macht der Gewohnheit, dass Saori nach dem Betreten ihrer dunklen Wohnung sofort den Lichtschalter drückte. Natürlich erfolglos. Die Ruhe machte ihr allerdings Sorgen. Saori zog ihre Schuhe im Genkan aus und schlüpfte in ihre Hausschlappen, ehe sie vorsichtig an Higashis Tür klopfte. Er reagierte nicht. Sie ging davon aus, dass er schlief und öffnete sachte die Tür, jedoch war sein Bett war leer. Ein Schreck durchfuhr Saori, doch auf den zweiten Blick erkannte sie, wie er auf der anderen Seite auf dem Boden gegen das Bett gelehnt saß und zum Fenster gewandt war.
Panik erfasste Saori. Da Higashis Verletzungen ihn noch körperlich einschränkten, war er aktuell noch nicht vollständig belastbar. Mit hektischen Schritten kam sie schnell auf ihn zu. „Bist du gestürzt?"
Higashi hob träge den Kopf und sah sie stumm an. Neben ihm schlief irritierenderweise Tio. Die Störung quittierte sie mit einem vorwurfvollen Blick. Der Moment, in dem ihre Katze Higashi – wohlgemerkt einen Mann – in ihr Herz geschlossen hatte, war wohl an ihr vorbeigegangen. Gleich danach fielen Saori die beiden leeren Bierflaschen ins Auge, die neben ihm auf dem Boden standen. Eine dritte hielt er gerade in seiner Hand. Eine Welle der Erleichterung durchströmte Saori, obwohl sein Gesichtsausdruck verriet, dass aktuell gar nichts gut war.
„Ich amüsiere mich nur etwas. Der Strom ist ausgefallen", sagte Higashi mit teilnahmsloser Stimme und sah dabei aber so gar nicht danach aus, als hätte er Spaß. Sie fühlte sich in ihrem schlechten Gefühl bestätigt.
„Es scheint die ganze Nachbarschaft zu betreffen", erklärte sie.
Unschlüssig sah sie dabei zu wie sich Higashi daraufhin einen weiteren großzügigen Schluck aus seiner Flasche genehmigte. In Situationen, in denen Feingefühl erforderlich war, würde die erste Wahl wohl nicht sofort auf sie fallen und wenn man ehrlich war, überforderte sie sein aktueller Zustand. Kurzentschlossen verließ sie aber dann das Zimmer und öffnete sich ebenfalls ein Bier aus dem Kühlschrank, ehe sie sich einige Sekunden später noch in kurzem Rock und mit Bluse bekleidet neben die schlafende Tio auf den Boden setzte.
„Wenigstens hast du noch etwas für mich übriggelassen", sagte sie und nahm ebenfalls einen Schluck. Saori verzog das Gesicht. Leider war der flüssige Inhalt durch den fehlenden Strom nicht mehr so kalt, wie sie ihn gerne gehabt hätte.
„Tut mir leid", sagte Higashi. „Ich weiß nichts mit mir anzufangen. Die zwei Wochen im Krankenhaus waren bereits der Horror."
Saori hatte Verständnis. Sie war kein Ausgehtyp, er hingegen schon. Es tat ihr leid, dass er sich hier fremd und einsam fühlte. Fast bekam sie das Gefühl es wäre alles ihre Schuld. „Es ist nur temporär", sagte sie beschwichtigend. „Du kannst jederzeit gehen, aber es wäre gut erst wieder fit zu werden."
Higashi wich betreten ihrem Blick aus. „Ich will nicht undankbar erscheinen."
„Ich verstehe, dass du deprimiert bist. Ehrlich."
Stille trat ein und Saori setzte erneut für einen weiteren Schluck an. Higashi beäugte sie aus dem Augenwinkel. „Hattest du einen harten Tag?", fragte er schließlich vorsichtig.
„Ja", erwiderte Saori wahrheitsgemäß und verschwieg dabei, dass die Sorge um ihn das Ganze noch bekräftigt hatte. „Manche Fälle gehen einem unter die Haut."
Für ihre Verhältnisse waren das ungewöhnlich viele Worte über ihren Gemütszustand an eine andere Person gerichtet – vor allem an eine, die ihr nur oberflächlich bekannt war. Deprimiert senkte Saori den Kopf und dachte an den Missbrauchsfall eines jungen Mädchens, den sie heute auf den Tisch bekommen hatte.
„Und dann sitze ich hier und bin nur am Jammern", sagte Higashi beschämt.
„Tust du mir einen Gefallen?"
Mit großen Augen sah er sie an. Alles was du willst, flüsterte dabei eine Stimme in ihrem Kopf. Ihre blühende Fantasie interpretierte eindeutig zu viel hinein.
„Solange du auf Schmerztabletten bist, verzichte bitte auf Alkohol."
„Ich bemühe mich."
Ein kleines Lächeln huschte Higashi über die Lippen, das ihm unverschämt gut zu Gesicht stand. Saori wurde von einem Wärmeschauer überrollt. Das Bier stieg ihr definitiv zu Kopf, also beschloss sie, dass es nun genug der trauten Zweisamkeit in der Dunkelheit war. Mit einem Seufzen stand sie wieder vom Boden auf und sah ihn auffordernd an. „Ich habe uns etwas zu Essen mitgebracht. Du hast heute wahrscheinlich noch nicht viel in den Magen bekommen. Gehen wir?"
Plötzlich wirkte er verlegen. „Du müsstest mir aufhelfen", sagte er zögerlich. „Ich habe schon vor einer Weile versucht aufzustehen, aber die Schmerzen von frischen Wunden sollte man wohl nicht unterschätzen."
Wenn Saori nicht bereits warm gewesen wäre, wäre es spätestens jetzt soweit gewesen. Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass sie sich bisher jemals berührt hatten. Innerlich sträubte sich alles in ihr, aber sie konnte Higashi schlecht ihre Hilfe verweigern und so streckte sie ihm ihre Hand entgegen. Eine Gänsehaut überkam sie, als sich ihre Finger berührten und sie die schwielige und etwas raue Haut seiner Hand spürte, als er ihre umschloss. Ihre andere Hand legte sie unter seinen Arm und gemeinsam hievten sie ihn unter seinem schmerzvollen Stöhnen wieder auf die Beine. Sein angenehmer Geruch nach Parfum und leichtem Zigarettenrauch vermischte sich mit dem beißenden Geruch des Alkohols. Angesichts seines Gewichts hatte Saori fast die Balance verloren. Sie spürte seinen Blick prüfenden auf ihrem Gesicht, doch sie war viel zu nervös um ihn ebenfalls anzusehen. Dass sie zuletzt einem Mann so nahe gewesen war, war bereits einige Monate her.
„Geht es?", fragte Saori vorsichtig, bereit ihn wieder loszulassen, nachdem er sicher auf den Beinen stand.
Higashi nickte bestätigend und Saori zog sich von ihm zurück. Tio erhob sich ebenfalls und streckte sich ausgiebig. Dankbar griff Saori die Ablenkung auf.
„Wie hast du sie um den Finger gewickelt?"
„Liebe geht durch den Magen", grinste Higashi schief. „Ich denke, wir sind auf einem guten Weg."
Schmunzelnd griff Saori nach den Bierflaschen auf den Boden, als es plötzlich an der Wohnungstür klingelte. Irritiert und alarmiert tauschten beide Blicke. Man könnte es Paranoia nennen, aber der Angriff auf ihn hatte sie vorsichtig werden lassen.
„Erwartest du Besuch?", wollte Higashi wissen.
Saori schüttelte den Kopf. Schnell verließen sie das Gästezimmer. Sie stellte die Bierflaschen in die Küche und warf einen prüfenden Blick durch den Spion. Schemenhaft konnte sie in der Dunkelheit Kaitos grinsendes Gesicht ausmachen. Erleichtert öffnete Saori und stellte fest, dass er auch Yagami, Mikiko und Hoshino im Schlepptau hatte.
„Nachdem Higashi wieder in Freiheit ist, soll er in den Genuss seines ersten richtigen Krankenbesuches kommen", grinste Kaito, der definitiv die treibende Kraft in dieser ungewöhnlichen Konstellation eines Krankenbesuches für Higashi war.
„Wir haben auch etwas zu Essen mitgebracht!" Mikiko hielt zwei große Plastiktüten in die Höhe. „Was habt ihr denn hier mit dem Strom gemacht?"
Saori lächelte angesichts ihrer lieben Geste. „Geht schon mal in die Küche. Er freut sich sicher. Ich ziehe mich nur schnell um und hole ein paar Kerzen."
Saori schlüpfte in ihrem Schlafzimmer in eine Leggings und einen Hoodie, ehe sie wieder zurück zu ihren Freunden ging, die es sich mittlerweile bereits am Küchentisch bequem gemacht und das Essen ausgebreitet hatten. Als sie ein paar Kerzen auf den Tisch und die Küchenzeile stellte und die Lichter entzündete, wurde der Raum in eine romantische Stimmung getaucht.
„Ich habe gesehen, dass ihr schon ohne uns eine Party gefeiert habt." Kaito machte eine gespielt empörte Geste in Richtung der Bierflaschen, die Saori zuvor noch in der Küche abgestellt hatte.
„Wer zu spät kommt, verpasst eben die Highlights", erwiderte Saori achselzuckend. Sie setzte sich auf den freien Platz zwischen Hoshino und Mikiko und warf über den Tisch hinweg einen prüfenden Blick zu Higashi. Die Erschöpfung war ihm noch immer anzusehen, aber die Anwesenheit aller schien ihn tatsächlich glücklich zu machen. Kaito erzählte gerade eine lustige Geschichte von seinem Wochenendtrip mit Mikiko, während sich Higashi mit einem breiten Grinsen Reis in den Mund stopfte. Hoshino behielt Recht. Wenn einer Higashi „heilen" konnte, dann war es Kaito.
Am nächsten Morgen begrüßte Higashi Saori mit einer bösen Überraschung. Er hatte bereits Frühstück für sie angerichtet, doch Saoris Blick galt lediglich dem dunklen Anzug, den er trug, und der Tatsache, dass er sich zum ersten Mal seit ein paar Tagen rasiert hatte. Er sah nicht so aus, als würde er es sich gleich auf ihrer Couch mit einem Buch gemütlich machen.
„Hast du mit meiner Couch heute ein besonders romantisches Date?", begrüßte ihn Saori skeptisch.
„Guten Morgen", erwiderte Higashi und stellte zwei dampfende Kaffeetassen auf den Tisch. „Soll ich dir Karotten aufschneiden? Oder Gurken?"
Er wartete ihre Antwort nicht ab, sondern wandte sich sofort wieder der Küchenzeile zu und begann das Gemüse kleinzuschneiden. Offensichtlich versuchte er dem Elefanten im Raum aus dem Weg zu gehen, aber Saori war nicht dafür bekannt besonders nachgiebig zu sein.
„Können wir bitte darüber reden was du da trägst?"
„Es ist nicht Armani. Das kann ich mir leider nicht leisten."
Saori musste tief Luft holen, weil sich allmählich Ärger in ihr breitmachte. Daraufhin lenkte Higashi schließlich ein. „Ich begleite dich in die Kanzlei und werde im Charles vorbeisehen. Es ist sicherlich einiges liegengeblieben", sagte er locker, als würde er sie bereits vor vollendete Tatsachen stellen.
„Nein!"
„Mir wird nichts passieren. Ich kann mich verteidigen. Du weißt das." Zum ersten Mal wandte sich Higashi zu ihr um und sah ihr bewusst in die Augen. Sein Blick war eindringlich und Saori hatte nicht das Gefühl dem etwas entgegensetzen zu können.
„Du bist erst Freitag entlassen worden", murmelte sie zähneknirschend. „Kannst du dich nicht einfach ein paar Tage ausruhen und zumindest warten bis deine Wunden wieder vollständig verheilt sind? Ist das zu viel verlangt? Ich musste dir gestern beim Aufstehen helfen!"
„Sei bitte nicht wütend."
„Das hat nichts mit Wut zu tun. Ich verstehe es einfach nicht. Ständig bringt ihr euch in Gefahr und ich muss mir Sorgen machen."
Saori war emotionaler, als sie es für gewöhnlich war und eigentlich zeigen wollte, aber auch sie war kein Eisklotz. Natürlich profitierte sie als Anwältin davon, aber als Saori, die Freundin, litt sie darunter, dass sich die Menschen, die sie mochte und liebte, regelmäßig in den gefährlichsten Situationen wiederfanden, die nicht selten im Krankenhaus endeten.
Higashi wirkte überrascht. „Es geht wohl nicht nur um mich?", fragte er verunsichert.
Die Diskussion war für Saori jedoch beendet. Er war ohnehin nicht davon abzuhalten und sie hatte keine Lust über persönliche Gefühle zu sprechen. Sie wandte sich von ihm ab und setzte sich mit düsterer Miene an den gedeckten Tisch. „Nur bis zum Aufzug. Ich will nicht, dass Hoshino auf falsche Gedanken kommt."
Mal abgesehen davon, dass Saori sich um Higashi Sorgen machte, war es ihr aber auch verdammt unangenehm von ihm in die Kanzlei begleitet zu werden. Die Situation spiegelte eine der vielen Merkwürdigkeiten wider, denen sie sich seit dem Zusammenleben mit ihm ausgesetzt fühlte. Nun ebenfalls gemeinsam die Wohnung zu verlassen, neben ihm in der U-Bahn zu stehen und Seite an Seite Richtung West Shichifuku Street zu laufen fühlte sich an, als wären sie in einer vertrauten Beziehung zueinander – hatten dabei aber ein paar wesentliche Schritte übersprungen.
Saoris Unbehagen und ihre Überforderung war auch Higashi nicht verborgen geblieben. Sie hatten den ganzen Arbeitsweg kaum ein Wort miteinander gesprochen und als sie den Eingang zur Kanzlei erreichten und zum Abschied voreinander stehen blieben, sah er schuldbewusst aus.
„Es tut mir leid, dass ich mich aufgedrängt habe", sagte er, doch ehe Saori etwas erwidern konnte, unterbrach sie Hoshinos Stimme mit einem kühlen „Guten Morgen".
Überrascht registrierte Saori, wie er auf sie zukam. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Exakt diese Situation hatte sie vermeiden wollen. Hoshino nickte ihnen im Vorbeigehen kurz zu, ehe er den Aufzugknopf drückte. Keine fünf Sekunden später ertönte das Klingeln und die Türen wurden geöffnet. Saori folgte ihm ohne lange zu überlegen. Bevor sich die Aufzugtür schloss, konnte sie noch sehen, wie Higashi mit verschlossener Miene nach seinen Zigaretten griff und ihr den Rücken zuwandte. Es tat ihr leid ihn so im Regen stehen zu lassen, aber sie wollte Hoshino nicht noch mehr verletzten, als sie es ohnehin bereits getan hatte.
„Er begleitet dich ernsthaft zur Arbeit?", fragte dieser spitz. Er sah sie dabei nicht an, sondern hielt den Blick starr geradeaus auf die Stahltür des Aufzugs gerichtet.
„Er wollte ins Charles."
Hoshino unterdrückte ein Schnauben. „Natürlich."
Fortsetzung folgt …
