Kapitel 3

Higashi machte keine Anstalten Saori ein weiteres Mal auf ihrem Arbeitsweg zu begleiten. Sie sprachen generell nicht mehr viel miteinander und ihre ohnehin schon distanzierte Höflichkeit wurde noch distanzierter. Saori wusste nicht, ob er nach ihr nicht ebenfalls die Wohnung verließ und sie fragte ihn auch nicht danach. Wenn ja, verbarg er es und war bereits zurück, wenn sie abends nach Hause kam.

Inzwischen war nicht mehr zu übersehen, dass es ihm immer schlechter ging. Er bemühte sich nicht sein Gesicht zu rasieren, aß kaum noch und die Schatten unter seinen Augen wurden immer tiefer. Saori begann sich hilflos zu fühlen und nicht mal Kaito schien mehr an ihn heranzukommen. Einige Male war er vorbeigekommen und wollte Higashi zum Ausgehen überreden, doch der hatte ihm jedes Mal einen Korb gegeben.

„Es ist meine Schuld", murmelte Saori, nachdem Kaito den dritten Abend in Folge kopfschüttelnd aus dem Gästezimmer gekommen war und die Tür hinter sich geschlossen hatte. „Ich hätte auf seine Bedürfnisse Rücksicht nehmen müssen, stattdessen habe ich mich albern verhalten."

„Das hat nichts mit dir zu tun. Vielleicht müsste er sogar in Behandlung. Er hat viel durchgemacht." Kaito sprach es nicht aus, aber es war offensichtlich, dass Higashi depressiv wurde. Ihm stand die Schuld ins Gesicht geschrieben. Er raufte sich verzweifelt durchs Haar. „Vielleicht war das alles eine schlechte Idee. Wir hätten ihn einfach seinen Alltag weiterleben lassen sollen. Wahrscheinlich würde es mir an seiner Stelle nicht anders gehen."

„Vielleicht übertreiben wir und er war ein Zufallsopfer, aber so wie es ihm jetzt geht fällt es mir noch schwerer ihn wieder nach Hause gehen zu lassen."

Nachdem Kaito wieder gegangen war, überwand sich Saori und klopfte zaghaft an Higashis Zimmertür. Obwohl sie keine Reaktion erhielt, öffnete sie vorsichtig. Er lag auf dem Bett, hatte die Arme hinter seinem Kopf verschränkt und starrte zur Decke. Es war stickig im Raum. Saori unterdrückte das Verlangen zu lüften.

„Ist alles in Ordnung?"

Wirr fiel ihm das dunkle Haar strähnig in die Augen, als er den Kopf zu ihr drehte. „Natürlich."

Sie beide wussten, was für eine dumme Frage sie gestellt hatte, aber er war zu höflich um es auszusprechen.

„Begleitest du mich Morgen ins Büro?"

Bis zu diesem Augenblick hatte Saori nicht gewusst wohin ihr Gespräch führen sollte. Die Frage war ihr vollkommen gedankenlos über die Lippen gekommen und sofort kam sie sich schäbig dabei vor sie gestellt zu haben. Nachdem sie vor ein paar Tagen reagierte hatte, wie sie reagiert hatte, war es nun sehr offensichtlich, dass ihr schlechtes Gewissen sie antrieb.

„Ich kann nicht", erwiderte Higashi schlicht. Das Thema schien für ihn erledigt, denn er wandte den Blick wieder ab und sah zur Decke.

Saori beschloss allerdings nicht locker zu lassen. „Warum nicht?"

„Saori?"

Ihr stockte der Atem. Er hatte sie noch nie direkt beim Vornamen genannt und sie hatte nicht erwartet, dass das Herzrasen bei ihr verursachen würde. „Ja?"

„Lässt du mich bitte schlafen?"

Das saß. Er warf sie indirekt raus.

Saori fühlte sich vor den Kopf gestoßen. Ärger begann in ihr aufzulodern. Sie war versucht mit ihm darüber zu diskutieren, dass es erst acht Uhr abends war und, warum er auf ihre Frage nicht einging, aber besann sich dann im letzten Moment eines bessern. Immerhin war er ihr Gast und es ging ihm schlecht. Ergeben verließ sie zähneknirschend sein Zimmer wieder, konnte aber nicht umhin ihm noch einen letzten bösen Blick zuzuwerfen. Da er aber weiterhin zur Decke starrte, bekam er diesen sowieso nicht mit.


Saori erwachte mitten in der Nacht aus einem unruhigen Traum, der gedanklich schon fast vergessen war, kaum hatte sie die Augen geöffnet. Ein Blick auf ihren Wecker verriet ihr, dass es kurz nach zwei Uhr morgens war und somit noch einige Stunden Schlaf vor ihr lagen. Erleichtert griff sie nach ihrer Wasserflasche, nur um dann festzustellen, dass diese fast leer und der letzte Schluck darin nicht genug war. Verschlafen und genervt stieg Saori aus ihrem warmen Bett und trottete in die Küche Richtung Kühlschrank, um eine neue Flasche zu holen.

Sie hielt inne, als sie auf dem Rückweg wieder an Higashis Zimmer vorbeiging. Das unangenehme Gespräch vom Abend zuvor drängte sich erneut in ihre Erinnerungen. Zögerlich drückte Saori die Klinke zu seinem Zimmer und lugte vorsichtig in den Raum. Das Fehlen ihrer Brille machte es ihr schwer die Konturen der Umgebung wahrzunehmen. Sie erkannte jedoch verschwommen, wie er sich unruhig im Bett umherwälzte und hörte ihn leise stöhnen.

Unschlüssig stand Saori in der Tür. Offensichtlich träumte er schlecht. So leise wie möglich kam sie an sein Bett heran. Seine Augenlider flatterten und leichte Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn. Sie wusste selbst nicht wieso sie so in seine Privatsphäre eindrang, aber sie fühlte sich schlecht bei dem Gedanken ihn seinen Albträumen zu überlassen. Higashi war nicht der Typ, der ihr gegenüber mit Ärger reagieren würde, aber sie war sich dessen bewusst, würde er jetzt aufwachen, könnte wohl auch er seinen Missmut nicht zurückhalten.

Kurzentschlossen und so leise wie möglich verließ Saori das Zimmer erneut um ins Bad zu eilen. Sie befeuchtete einen Waschlappen, ehe sie wieder zu ihm ans Bett kam und sich vorsichtig auf die Bettkante setzte. Behutsam begann sie ihm den leichten Schweißfilm von der Stirn zu wischen. Tatsächlich schien er unter ihrer Berührung ruhiger zu werden und sein Atem ging gleichmäßiger. Zufrieden strich Saori mit ihren freien Fingern sanft über sein Gesicht. Sie erschrak, als sie sich ihrer grenzüberschreitenden Geste bewusst wurde und zog ihre Hand schnell zurück. Ihre ganze Anwesenheit in diesem Raum war grenzüberschreitend, doch er wirkte entspannter, als würde ihre Nähe seine Albträume tatsächlich verjagen.

Ihr eigenes Verhalten verwirrte Saori. Sie stand von seinem Bett wieder auf. Higashi wimmerte leise, als würde er widersprechen wollen. Saori wusste nicht was sie tun sollte. Half es ihm wirklich oder war das ihre eigene Interpretation, die nichts mit der Realität zu tun hatte? Schließlich beschloss sie, dass sie noch ein paar weitere Minuten bei ihm blieb. Vielleicht würde ihm das tatsächlich helfen die restliche Nacht ruhiger zu verbringen. Sie setzte sich erneut und berührte zu seiner Beruhigung seine Hand.


Am nächsten Morgen weckte Saori Kälte. Sie griff nach der Decke und wollte sie enger um ihren Körper schlingen, spürte jedoch einen Widerstand. Allerdings wurde es auch ohne ihr Zutun wärmer. Zufrieden seufzte Saori und drückte ihr Gesicht tiefer ins Kissen. Sekunden vergingen, ehe sie begriff, dass etwas nicht stimmte. Verwirrt und verschlafen öffnete sie blinzelnd ihre Augen und blickte direkt vor sich in Higashis braune Augen, die nur wenige Zentimeter vor ihrem Gesicht verharrten. Saoris Atem stockte. Seine sonst so markanten Gesichtszüge waren auf einmal weich. Schön funkelten seine Augen sie an. Dunkel und warm, wie Schokolade. Saori dachte an kalte Wintertage auf der Couch mit einer heißen Tasse Kakao und eine wohlige Wärme breitete sich in ihr aus. Plötzlich realisierte sie allerdings, dass sie nicht träumte und es durchaus ungewöhnlich war direkt nach dem Aufwachen in Higashis Gesicht zu sehen. Erschrocken richtete sie sich auf.

„Guten Morgen", sagte Higashi fast schon belustigt. „Hast du dich verlaufen?"

Ihn so amüsiert zu erleben war ein extremer Kontrast zu dem wie er sich die letzten Tage verhalten hatte. Saori fühlte sich überfordert. Sie begriff, dass nicht Higashi in ihrem Bett war, sondern sie in seinem und erinnerte sich wieder daran, wie sie ihm heute Nacht den Schweiß von der Stirn gewischt hatte. Bereits ab diesem Zeitpunkt war alles daran schon viel zu intim gewesen. Schnell sprang sie aus seinem Bett. Glühende Lava musste sich in etwa so anfühlen wie die Hitze, die augenblicklich durch ihren Körper schoss. Sie schämte sich in Grund und Boden. Der Plan war eigentlich nicht gewesen mit ihm das Bett zu teilen.

„Es tut mir so leid", sagte sie hastig. „Ich muss wohl eingeschlafen sein."

Higashi genoss ihr Unbehagen sichtlich. „In meinem Bett?"

„Du hast schlecht geträumt. Als ich da war, wurdest du ruhiger."

Dass das noch lange nicht erklärte, warum sie in seinem Bett gelegen hatte, ignorierte sie geflissentlich, denn darauf fehlte selbst ihr die Antwort. Higashi schien das jedoch egal zu sein. Sein Blick wurde nachdenklich und er griff mit der Hand an seine Stirn, als würde er seine Temperatur überprüfen wollen. Insgeheim fragte sich Saori, ob er vielleicht mehr von der Waschenlappenaktion mitbekommen hatte, als ihr lieb wäre.

„Ich fühlte mich tatsächlich fitter", sagte er schließlich.

„Dann scheint es wenigstens geholfen zu haben. Ich gehe duschen."

Saori versuchte beiläufig zu klingen und etwas Coolness zurückzugewinnen. Sie war sich aber auch darüber im Klaren, dass sie anschließend regelrecht aus seinem Zimmer stürmte und das alles andere als cool war.


Higashi kam gerade aus dem Badezimmer, als Saori bereits dabei war die Wohnung für die Arbeit zu verlassen. Verwirrt sah er sie an, doch Saori registrierte nur, dass er frisch rasiert war und wie sich kleine Wasserperlen aus seinem vom Duschen nassen Haar lösten, seinen Hals entlangwanderten und sich unter sein weißes T-Shirt stahlen. Die Erkenntnis wie verdammt attraktiv er war, traf sie unvorbereitet. Sie spürte wie die Lava wieder durch ihre Adern pulsierte.

„Du gehst schon? Was ist mit deinem Kaffee?"

Saori fühlte sich ertappt. Sie wohnten gerade mal eine Woche zusammen und dennoch kannte er bereits ihren morgendlichen Tagesablauf. Nie verließ sie ohne eine Tasse Kaffee die Wohnung, allerdings war sie so durch den Wind, dass sie es schlicht und ergreifend einfach vergessen hatte. Außerdem wollte sie aktuell so viel Abstand wie möglich zwischen sie bringen, um ihre Hormone wieder zu beruhigen.

„Keine Zeit mehr. Gleich kommt ein Klient", erwiderte Saori schnell, schlüpfte in ihre Schuhe und wollte bereits zur Tür hinaushetzen, als seine Hand ihre Finger zu fassen bekamen und er sie zurückhielt.

Irritiert wandte sie sich zu ihm um und entzog ihm schnell wieder ihre Hand. Seine plötzliche Nähe ließ sie zurückweichen. Er spürte ihr Unbehagen und trat ebenfalls einen Schritt zurück. Verlegen wich er ihrem Blick aus.

„Deine Bluse", sagte er mit gedehnter Stimme. „Die Knöpfe …"

Verwirrt sah Saori an sich herab und nun riss sie der Lavastrom endgültig mit sich. In ihrer Hektik hatte sie vergessen die oberen Knöpfe ihrer Bluse zu schließen und bot jetzt einen einladenden Blick auf ihr Dekolleté. Hastig wandte sie ihm den Rücken zu und richtete ihr Erscheinungsbild, während sie ein „Danke" nuschelte.

Saori hoffte inständig, dass der Tag nicht genauso unangenehm weitergehen würde.


Gegen Mittag kam ein besorgter Kaito in Gendas Kanzlei. „Hat Higashi gestern noch etwas gesagt?", fragte er ohne Umschweife, ehe er sich schwerfällig in einen der Ledersessel fallen ließ.

Saori wurde gedanklich wieder in Higashis Bett teleportiert und spürte, wie sie errötete. Sie musste nicht zu Hoshinos Platz hinübersehen um zu wissen, wie er sie mit einem skeptischen Blick regelrecht aufspießte. „Ich glaube, es geht ihm besser", antworte Saori, klang dabei aber kleinlauter als beabsichtigt. Wie jemand, der etwas zu verbergen hatte. Aber hatte sie denn etwas zu verbergen? Immerhin war nichts vorgefallen und eigentlich machte nur ihr Kopf aktuell ein Drama daraus.

Überrascht hob Kaito die Augenbraue. Augenblicklich richtete er sich wieder aufrecht auf. „So plötzlich? Hat er etwas gesagt?"

„Er war heute Morgen wie ausgewechselt", erklärte Saori. „Hatte wohl viele Albträume. Vielleicht hat ihm einfach der Schlaf gefehlt."

Kaito wirkte erleichtert. „Vielleicht will er heute Abend etwas trinken gehen?", fragte er sie hoffnungsvoll.

„Einen Versuch wäre es wert."

„Ich ruf ihn sofort an und check mal die Lage ab", sagte er, sprang aus dem Sessel auf und verabschiedete sich von ihnen.

Saori wandte sich wieder ihrem Notebook zu und ignorierte stoisch, dass Hoshino sie nach wie vor nicht aus den Augen ließ. Er erwartete wohl, dass sie seinen Blick erwiderte, aber den Gefallen wollte sie ihm nicht tun.

„Warum bist du rot geworden?", fragte er irgendwann und hatte damit scheinbar sein bloßes Starren aufgegeben. „Du wirst nie rot."

Saori fühlte sich ertappt. Er war ein verdammt guter Anwalt. Sie wünschte sich, Genda wäre aktuell nicht im Urlaub. Vor ihrem Chef hätte er dieses Thema niemals zur Sprache gebracht.

„Wieso sollte ich rot geworden sein?", erwiderte Saori so unbeeindruckt wie möglich und ließ das Display ihres Notebooks nicht aus den Augen.

„Und jetzt wirst du nervös."

Genervt verdrehte Saori die Augen, lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. „Hast du schon mal daran gedacht wie unangenehm es ist, wenn man unter permanenter Beobachtung steht? Wie soll man sich so auch normal verhalten können?"

Hoshino schnaubte. „Du tust ja fast so, als würde sich meine ganze Welt um dich drehen."

Am liebsten hätte Saori ihm direkt gesagt, dass sie nicht nur so tat, sondern dem auch wirklich so war. Allerdings besann sie sich im letzten Moment, denn die Konsequenz daraus wäre wohl ein übler Streit und sie waren immerhin auch Arbeitskollegen. „Ich gehe in die Pause", erwiderte sie stattdessen, schnappte nach ihrer Tasche und verließ eilig die Kanzlei.

Es begann wohl Routine zu werden, dass sie zwischen sich und die Männer so viel Abstand wie möglich bringen wollte.


Als Saori am späten Abend von der Arbeit kam, war Kaito bereits anwesend. Er saß mit vergnüglicher Miene alleine in ihrer Küche. „Higashi zieht sich gerade um", erklärte er ihr sofort.

Saori war erleichtert. Zum einen bedeutete das, dass es Higashi tatsächlich besser ging, zum anderen freute sie sich auf einen Abend ohne ihn und dieser Verwirrung in der Luft. „Achte aber bitte darauf, dass er Alkohol meidet. Er nimmt noch Tabletten."

„Ich werde artig sein", erwiderte Higashi hinter ihr. Er klang lässig und cool wie eh und je – wogegen in Saori begann ein Wirbelsturm an Gefühlen loszubrechen. Er stand im Türrahmen seines Zimmers, knöpfte sich gerade die Hemdärmel zu und sah dabei genauso attraktiv aus, wie er es bereits heute Morgen gewesen war. Saori war stark versucht auf ihn zuzugehen und ihm dabei zu helfen – und musste sich gleichzeitig fragen, woher dieser alberne Impuls kam.

„Endlich siehst du wieder wie ein zivilisierter Mensch aus", kommentierte Kaito anerkennend. Er erhob sich vom Küchentisch und sah Saori erwartungsvoll an. „Willst du auch mitkommen?"

Sie hob abwehrend die Hände. „Oh nein, das ist euer Männerabend und ich bin erledigt."

„Ich bleibe nicht lange weg."

Higashi suchte ihren Blick und ein intensiver Schauer jagte Saori über die Haut. Ihr schoss dabei eine unausgesprochene Frage in den Kopf, von der sie glaubte, dass sie auf ihre blühende Fantasie zurück zu führen war: Wartest du auf mich?


Saori wartete.

Sie redete sich ein, dass es an ihrem spannenden Buch lag, aber seit einigen Seiten konnte sie bereits nicht mehr der Handlung folgen. Eigentlich müsste sie ein ganzes Kapitel wiederholen. Die Erschöpfung des Tages machte sich bemerkbar, doch auch der Gedanke an Higashi lenkte Saori ab. Es war frustrierend wie präsent er plötzlich in ihrem Leben war. Das was sie Hoshino noch vor wenigen Stunden vorgeworfen hatte, galt eigentlich in Bezug auf Higashi genauso für sie und diese Erkenntnis gefiel ihr ganz und gar nicht.

Trotzig klappte Saori ihr Buch zu und verschwand ins Bad, um sich bettfertig zu machen. Gerade als sie im Schlafzimmer in ihre Pyjama-Shorts und das Schlaf-Shirt schlüpfte, hörte sie den Schlüssel im Türschloss. Nur wenige Sekunden später klopfte es sachte an ihrer Zimmertür.

Higashi öffnete vorsichtig und wirkte erleichtert, als er bemerkte, dass sie noch wach war. „Ich hab dich noch erwischt."

Sein Haar war leicht zerzaust und ein Knopf seines Kragens geöffnet, der bei der Verabschiedung definitiv noch geschlossen gewesen war. Saori fragte sich unwillkürlich, ob eine Bekanntschaft bei was auch immer ihre Hand in seinem Haar vergraben und seinen Hemdkragen geöffnet hatte – oder es einfach nur recht warm gewesen war. Viel zu blühende Fantasie, ermahnte sie sich erneut in Gedanken.

„Hattet ihr einen schönen Abend?" Saori versuchte beiläufig zu klingen, während sie die Bilder von ihm mit einer unbekannten Schönheit versuchte vor ihrem inneren Auge zu verdrängen.

„Ja", erwiderte Higashi lächelnd. „Vielleicht kommst du das nächste Mal auch mit?"

„Vielleicht."

Er starrte sie an und es wurde still zwischen ihnen. Saori begann sich unwohl zu fühlen.

Higashi schien sich ebenfalls der unangenehmen Stille zwischen ihnen bewusst zu werden. „Dann will ich dich mal in Ruhe lassen", sagte er zögerlich. „Gute Nacht."

„Gute Nacht."

Aber er ging nicht. Statt blieb er unschlüssig im Türrahmen stehen. Saori spürte, dass er noch etwas sagen wollte. Er war nervös. Noch nie hatte sie ihn nervös erlebt.

„Ich weiß, dass es viel verlangt ist …" Er brach ab. Seine Augen huschten kurz über ihr Bett und plötzlich dämmerte es Saori. Es war nicht mehr nötig sich zu erklären.

„Willst du bei mir schlafen?", fragte sie geradeheraus ohne vorher eine Sekunde darüber nachgedacht zu haben, was das für sie bedeuten würde. Überraschend souverän hatte sie ihr Angebot über die Lippen gebracht, obwohl sie innerlich beinahe vor Aufregung platzte.

„Nein!", rief Higashi sofort erschrocken.

„Okay."

Sie hatte die Situation wohl falsch interpretiert. Saori fühlte sich vor den Kopf gestoßen, wich seinem Blick aus und griff beschämt nach ihrem Kissen, um es aufzuschütteln und sich damit Beschäftigung zu verschaffen.

„Ich meine, du musst das nicht anbieten", fügte er schnell hinzu.

„Ich weiß. Da ist nichts dabei, wirklich."

Sie tat es als lapidare Kleinigkeit ab, aber das war es nicht. Das wussten sie beide. Es überschritt eine Grenze und würde eine ganz neue Art der Intimität zwischen ihnen schaffen. Dieses Mal war es nicht das versehentliche Einschlafen in seinem Bett. Dieses Mal wäre es eine bewusste Entscheidung im schutzlosen Zustand nebeneinander zu liegen.

Tio tapste hinter Higashi mit gewohnt kritischer Miene in den Raum, sprang auf Saoris Bett und streckte sich genüsslich gähnend. Wie immer war Tio zur perfekten Zeit am perfekten Ort, als würde sie genau wissen wann sie gebraucht wurde. „Sie könnte eventuell etwas dagegen haben, aber sie wird es verkraften", sagte Saori lässiger als sie sich fühlte, um die Situation wieder aufzulockern.

Higashi schmunzelte. „Nur diese Nacht?", fragte er dann vorsichtig und brachte Saoris Herz damit zum Rasen.

Es lag an dem befremdlichen Augenblick, redete sie sich ein, nicht an ihm.

„Nur diese Nacht", wiederholte sie.

„Ich verschwinde kurz ins Bad."

Higashi ließ sie im Schlafzimmer zurück und Saoris Aufregung drehte ihr beinahe den Magen um. Tio bewegte sich keinen Zentimeter am Fußende ihres Bettes als sie schnell unter ihre Decke schlüpfte. Sie drehte ihrer freien Bettseite den Rücken zu und versuchte die Augen zu schließen, doch ihre Nervosität hatte alle Müdigkeit vertrieben. Unzählige Minuten verstrichen. Saori ging fast davon aus, dass er es sich doch anders überlegt hatte bis er irgendwann wieder ins Zimmer kam. Sie vermied es ihn anzusehen. Mit ihm erfüllte ein angenehmer Seifengeruch den Raum. Er hatte wohl geduscht. Vorsichtig schob Higashi die Decke beiseite und legte sich neben sie, was Tio ein empörtes Miauen entlockte. Ihre neu entdeckte Zuneigung zu ihm hatte wohl noch ihre Grenzen. Schnell sprang sie wieder vom Bett auf und hetzte aus dem Zimmer.

„Ich habe wohl gerade alle meine Credits verspielt", stellte er fest.

„Du warst auf einem so guten Weg."

Saori löschte das Licht und schloss die Augen, während Higashi neben ihr nach einer angenehmen Schlafposition suchte. Sie versuchte seinen ruhigen Atem und damit auch seine Anwesenheit auszublenden, um wieder etwas runterzukommen, doch ihre Nervosität war kaum zu bezwingen.

„Saori?", fragte er irgendwann.

Wieder ihr Vorname. Saori dachte daran wie unangenehm enttäuschend dieser Moment gestern für sie geendet hatte, nachdem er ein paar Sekunden vorher damit noch ihr Herz hat höher schlagen lassen.

„Hm?"

„Danke."

Saori huschte ein Lächeln über ihre Lippen. Wie ein steifes Brett war sie neben ihm gelegen, doch der Schutz der Dunkelheit machte es nun leichter sich zu ihm umzudrehen. Er lag zu ihr gewandt. Sie sahen sich ins Gesicht und Saori war froh, dass sie dieses Mal nicht die Farbe seiner Augen erkennen konnte und an Schokolade und Wärme denken musste. Dennoch rannte ihr in diesem Moment ein angenehmer Schauer über die Haut. „Ich hoffe, dass es dir wirklich helfen kann hier zu schlafen."

„Halt mich bitte nicht für schwach", flüsterte er.

„Das würde ich niemals."

„Ich will alles im Blick behalten, verstehst du? Und wenn ich dann doch mal einschlafe, kommt alles wieder hoch. Der Schmerz, die Kälte – es war lähmend."

Saori verspürte kurz den Drang ihn beschützend in den Arm zu nehmen, aber diese Geste wirkte dann doch etwas zu grenzüberschreitend und entsprach auch so gar nicht ihrem Naturell. „Ich passe auf dich auf", wisperte sie stattdessen und wusste selbst nicht woher aus ihr diese Worte eigentlich kamen.

„Ich wünschte, es wäre andersrum."

„War es doch schon oder hast du es bereits vergessen?"

Er war vor vielen Monaten genau zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen, als Mari und sie in Kamurocho unterwegs waren und von mehreren Mitgliedern der RK bedroht worden sind. Wenn Saori ehrlich zu sich selbst war, hatte er bereits damals ihr Herz das erste Mal zum Hüpfen gebracht. Es hüpfte nun ein weiteres Mal, als sie durch das schummrige Licht ein kleines Lächeln auf Higashis Lippen erkennen konnte.

„Wie könnte ich?"


Am nächsten Morgen raubt etwas Weiches Saori den Atem. Ein Kitzeln an ihrer Nase zwang sie dazu die Augen zu öffnen und sie konnte direkt vor sich Tios felligen Hintern erkennen. Saori wollte sich murrend auf die andere Seite drehen, aber als sie auch Higashi neben sich liegen sah war an Schlaf nicht mehr zu denken. Gestern in der Früh hatte seine Anwesenheit sie so schockiert, dass ihr ihr äußeres Erscheinungsbild egal gewesen war, jetzt wünschte sie sich, sie hätte daran gedacht wie zerzaust sie nach dem Schlafen immer aussah, bevor sie ihm das Angebot gemacht hatte das Bett zu teilen.

Higashi schlief noch seelenruhig, also versuchte sich Saori so leise wie möglich aus dem Bett zu stehlen. Tio folgte ihr direkt aufgeregt und stieß ein herzzerreißendes Miauen aus. Zum Glück erst, nachdem sie sachte die Schlafzimmertür hinter sich geschlossen hatte. Saori wollte sich etwas Zeit mit dem Frischmachen lassen, also stellte sie zuerst sicher, dass Tio nicht den sicheren Hungertod starb, ehe sie ins Badezimmer verschwand und ihr Spiegelbild kritisch unter die Lupe nahm. Viel zu lang und wirr hing ihr das dunkle Haar ins Gesicht. Sie beschloss, dass es dringend Zeit für einen Besuch beim Friseur war.

Als Saori nach dem Duschen das Badezimmer wieder verließ, saß Higashi bereits am Küchentisch und nahm gerade einen großen Schluck aus seiner Kaffeetasse. In ihrer hastigen Flucht aus dem Schlafzimmer hatte sie vergessen sich Wechselkleidung mitzunehmen, also war sie nun nur mit einem Handtuch bekleidet. Sie hatte gehofft Higashi würde noch schlafen und sie konnte sich noch einmal unbemerkt ins Schlafzimmer schleichen. Stattdessen tauschten sie nun einen verschämten Morgengruß und betretene Blicke, ehe sie hastig wieder ins Schlafzimmer verschwinden konnte.

Saori stand ungewöhnlich lange vor ihrem Kleiderschrank. Zum einen brauchte sie die Zeit um ihr verfluchtes Herz zu beruhigen, zum anderen beschäftigte es sie plötzlich was sie anzog. Heute war es frisch und draußen prasselte der Frühlingsregen unerbittlich gegen die Fensterscheiben, also entschied sie sich für einen dicken Pullover und Leggins, ehe sie wieder zurück in die Küche kam. Higashi hatte Frühstück für sie vorbereitet und auf sie mit dem Essen gewartet. Als sie sich zu ihm setzte, schenkte er ihr ebenfalls eine heiße Tasse Kaffee ein.

„Danke für das Frühstück."

„Danke für dein Bett."

Saori hoffe, sie war nicht rot geworden und versuchte schnell ihr Gesicht hinter der Tasse zu verstecken, indem sie einen großen Schluck daraus nahm. Sie bereute es sofort. Der Kaffee war noch viel zu heiß. Ihr Mund brannte wie Feuer. Saori sog scharf die Luft ein und würgte schnell die Flüssigkeit ihre Kehle hinunter. „Hat es denn geholfen?", krächzte sie, nachdem sie wieder Luft bekam.

Higashi hatte währenddessen zwei Schüsseln Reis vorbereitet und zum Glück nichts von ihrem Missgeschick mitbekommen. „Ja, das hat es", sagte er und setzte sich zu ihr an den Tisch. „Vielleicht kann ich bald wieder mit dem Sport beginnen."

Skeptisch hob Saori die Augenbraue. „Übertreib es aber nicht." Sie konnte sich bereits bildlich vorstellen wie sie im Krankenhaus saß und tausend Ängste durchstand, weil seine Verletzungen wieder aufgerissen waren.

Higashi grinste. „Macht sich da jemand Sorgen?"

Saori konnte ihn nur verärgert anfunkeln. Am liebsten hätte sie ihm sein freches Grinsen aus dem Gesicht gewischt, aber vor allem deswegen, weil er damit wieder unverschämterweise für erhöhten Puls bei ihr sorgte, der leider auch dieses Mal nichts mit Ärger zu tun hatte. „Bild dir nicht so viel ein. Ich habe bloß keine Lust darauf dich ins Krankenhaus zu bringen."

Unbeeindruckt zwinkerte er ihr zu. „Du würdest mich vermissen. Ich seh's dir doch an."

Der nachgeholte Schlaf hatte ihn wohl besonders wagemutig gemacht. Sie verdrehte die Augen und versuchte ihren Blick starr auf ihr Essen zu richten. „Du bildest dir zu viel ein."


Saori verbrachte den Samstag mit Haushalt und damit, Arbeit für die Kanzlei nachzuholen. Higashi ließ sich den Tag über wieder kaum blicken. Er trainierte tatsächlich im Gästezimmer und Saori war einfach nur froh, dass er abends unversehrt und gutgelaunt neben ihr und einer dampfenden Schüssel Curry auf der Couch saß. Sie hatten sich auf einen gemeinsamen Film geeinigt. Sogar Tio hatte sich zu ihnen auf die Couch gesellt und schmiegte tatsächlich ihren Kopf gegen Higashis Bein. Zaghaft versuchte er sie dabei kraueln, was sie tatsächlich mit sich geschehen ließ. Ein unerwartetes Glücksgefühl machte sich in Saori breit, als das Intro des Films über den Fernseher flimmert.

Zum ersten Mal löste seine Nähe nicht Unbehagen und Stress in ihr aus, sondern eine wohlige Wärme. Zum ersten Mal bekam sie in ihrer Wohnung wieder das sichere Gefühl von Zuhause und Geborgenheit. Es begann sich gut anzufühlen.

Es war kurz vor Mitternacht, als der Abspann des Thrillers einsetzte. Saori musste ein Gähnen unterdrücken und fing dabei Higashis Blick ein. Gänsehaut rannte ihr über den Rücken.

„Nur diese Nacht?", fragte er fast atemlos.

„Nur diese Nacht."


Fortsetzung folgt …