51. Wer hätte gedacht, dass das noch zu übertreffen war… - TEIL 2


Was zuvor geschah…

Nachdem Jacob gemeinsam mit Jess den Cullens die Nachricht über die Auflösung des Vertrages überbracht hat, wollen diese die Nachricht nicht ohne weiteres hinnehmen. Nicht nur Edward, Emmet und Bella wagen sich auf das Gebiet der Wölfe, sondern auch Renesmee begibt sich in diese Gefahr. Sie stellt Jacob zur Rede und unterstellt ihm, sich wegen Jess von ihr getrennt zu haben. Als er klarstellt, dass er seine Entscheidung getroffen hat, provoziert sie Jess genug, sodass diese sich verwandelt und angreift. Jacob stellt sich ihr entgegen und kann die Situation entschärfen. Nachdem Jess im Wald verschwindet, einigt er sich auf ein weiteres Gespräch mit Renesmee.


Der Wind war schärfer und kühler geworden, als wir uns auf der Wiese hinter dem Haus niedergelassen hatten. Renesmee wahrte Abstand zu mir, aber sie war besorgt: „Hast du Schmerzen?"

Ich antwortete nicht, denn es hätte uns beiden nichts gebracht.

Sie rieb ihren Unterarm, als hätte Jess doch Spuren auf ihr hinterlassen, die nicht rein psychisch waren.

„Ich habe nicht darüber nachgedacht, was passieren kann… Das wollte ich nicht."

Ihre Stimme war leise und sie wirkte eingeschüchtert. Ob die Tränen auf ihren Wangen frisch waren, konnte ich nicht beurteilen.

Jess hatte überreagiert, keine Frage, aber Renesmee hatte sie auch bewusst provoziert. Wie viel wussten die Cullens wirklich? Und wie viel von all dem, das Jasper scheinbar inzwischen erzählt hatte, entsprach überhaupt annähernd der Wahrheit?

„Du musst damit aufhören.", sagte ich und zwang mich, sie direkt anzusehen: „Das bringt niemandem etwas. Auch, wenn ich verstehen kann, dass du aufgebracht bist. Und dass du es nicht unbedingt nachvollziehen kannst." Sie wirkte nun viel ruhiger und auch zurückhaltender als zuvor. Wieder rieb sie ihren Unterarm, aber ich konnte keine Verletzung erkennen. Ihr Puls rauschte in meinen Ohren und unsere Blicke trafen sich.

„Dann erklär es mir."

Ich schüttelte den Kopf: „Das habe ich bereits."

Wir betrachteten einander und ich erinnerte mich an viele Momente mit ihr, die ganz ähnlich verlaufen waren. Die Welt war heil, solange wir ihren Vorstellungen folgten. Lange hatte mich das nicht gestört, aber inzwischen war es anders geworden. Und wie es schien, war nicht viel von meinen Anmerkungen dazu übriggeblieben.

Ich setzte erneut an und konnte meine Empörung nicht verbergen: „Und genau das ist der Punkt, Renesmee. Du hörst meine Meinung, aber du akzeptierst sie nicht." Ich wollte es ihr nicht noch einmal erklären, ich wollte es wirklich nicht. Aber welche Wahl hatte ich denn, um ihr Verständnis zu erlangen?

Ich dachte an unsere Verbindung und unsere Liebe, oder was davon übriggeblieben war. Ich hatte einen so großen Teil meines Lebens mit ihr verbracht wie mit noch niemandem zuvor. Aber irgendwann…irgendwie hatte es sich in Luft aufgelöst. Das nervöse Prickeln, das Zugehörigkeitsgefühl und auch das Pflichtbewusstsein.

„Du hast deine eigenen Wünsche und Träume und das ist gut so. Du gehst deinen Weg. Und ich war lange an deiner Seite, als dein Begleiter, dein Freund, vielleicht sogar als dein Seelenverwandter. Aber Zeiten ändern sich, und wir auch.", versuchte ich, es ihr auf sanfte Art und Weise beizubringen: „Ich bin nicht mehr der Richtige für dich, auch wenn ich es einmal war. Und nichts und niemand gibt mir das Recht, auf dich zu bestehen oder dir dabei im Weg zu stehen. Genauso ist das auch andersherum." Ihre Augen wurden erneut rot und nass, aber anders als beim letzten Mal. Sie wollte etwas sagen, aber sie tat es nicht. Und das, obwohl ich für mein Empfinden die bestmögliche Wortwahl getroffen hatte, um keinen weiteren Eklat auszulösen.

Renesmee, die immer eine Antwort auf alles hatte und nichts auf sich beruhen lassen konnte, schwieg mich an und zog sich immer weiter zurück. Ich versuchte, ihr weiter entgegenzukommen.

„Die Prägung hat mich immer geführt und gezeigt, was zu tun ist. Und das tut sie auch jetzt."

„Aber wieso gerade zu diesem Zeitpunkt? Was hat das mit dem Vertrag zu tun?", kam es dann zögerlich von ihr, währenddessen sie ihr Make-up mit den Händen über das ganze Gesicht hinweg verwischte. Noch einmal musste ich mich fragen, ob sie mir tatsächlich zugehört und auch all das verstanden hatte. Wie kam sie jetzt darauf?

„Gar nichts.", sagte ich fest: „Diese beiden Dinge…haben rein gar nichts miteinander zu tun." Einen Augenblick betrachtete sie mich stumm, im nächsten kamen erneut Tränen. Sie heulte, wie ich es noch nie bei ihr gesehen hatte. Als gäbe es kein Morgen. Keinen Weg, der ihr jetzt noch zu gehen blieb.

Sie schluchzte: „Ich l-liebe dich, Jake." Aber in meinem Herzen blieb es still. Diese Entscheidung, so unfair sie auch erst erscheinen mochte, war die einzig richtige gewesen.

Trotzdem versuchte ich, sie in den Arm zu nehmen. Doch sie stieß mich weg. Nicht fest, nicht wütend, aber unendlich verzweifelt. Sie sank in sich zusammen, weinte und weinte. Und ich konnte es nicht ertragen.

Ich wagte noch einen Anlauf, aber sie kroch von mir weg und stand träge auf: „Du hast alles kaputtgemacht." Ihr Gesicht war so verheult und geschwollen, dass man sie kaum wiedererkannte. Selbst ihre Stimme klang nun anders, kraftlos und leer.

„Ich liebe dich! Ich würde alles für dich tun! Verstehst du das denn nicht? Wie kannst du…w-wie kannst du das alles nur so wegwerfen…"

Das darauffolgende Schluchzen brachte ihren Körper zum Beben und ich wollte nichts weiter, als sie nun beruhigen. Aber sie drehte sich weg und lief davon. Schritt für Schritt, langsam und weinend und fluchend.

Mein Wunsch, dass dieses letzte Zusammentreffen besser verlaufen und friedlicher enden würde, war passé. Ich brauchte mir nichts vormachen…ich hatte sie bis ins Mark gekränkt und verletzt.

Womöglich würden wir uns nicht wiedersehen. Renesmee würde von nun an versuchen, mich von sich fernzuhalten. Oder sie brach alle Zelte ab, um endlich das zu tun, was ich ihr ermöglichen wollte. Was auch immer passierte…ich würde es wahrscheinlich nie herausfinden.

Jess kam ganz von selbst zurück und das nach nur kurzer Zeit.

Ich hatte vergeblich versucht, mich auf dem Sofa zu entspannen, weil meine Schulter einfach keine Ruhe geben wollte. Aber Jess nahm sich dessen wortlos an, erkannte das Problem und verhalf meinen Knochen in die richtige Position. Sie legte einen neuen, stabilisierenden Verband an und massierte meinen Nacken. Ihre Mimik verharrte die ganze Prozedur über in demselben, nichtssagenden Gesichtsausdruck. Eine Kunst für sich, wenn man mich fragte. Scheinbar biss sie sich dermaßen auf die Zunge, um nichts zu den letzten Geschehnissen zu sagen, dass sie ihren Mund nicht bewegen konnte.

Aber was sollte sie auch dazu sagen? Vielleicht gab sie sich selbst die Schuld, vielleicht mir. Oder, was weitaus wahrscheinlicher war: sie gab sie Renesmee.

Als sie plötzlich von mir abließ, griff ich nach ihrer Hand. Irgendwie war das meine Art, eine Verbindung zu ihr aufzubauen. Ihr verständlich zu machen, dass ich etwas zu sagen hatte – obwohl ich das auch so tun könnte.

„Jess.", sagte ich, weil mir nichts Besseres einfiel. Weil es einfach nichts gab, das ich hätte sagen können, um sie hier bei mir zu behalten.

„Danke."

Sie nickte und entfernte sich von mir, um die Überbleibsel meines alten Verbands zu entsorgen. Danach beobachtete ich, wie sie im Bad verschwand, sich die Hände wusch und schließlich wieder im Flur auftauchte. Ihre Haare waren wirr und sie wirkte gehetzt.

Und wieder sagte ich: „Jess." Sie drehte sich zu mir, blieb aber, wo sie war. Wir starrten uns an, gefühlt minutenlang. Und dann konnte sie sich nicht länger beherrschen.

„War das die richtige Entscheidung?"

Schweigen.

Nachdem Tage und Wochen vergangen waren, in denen sie kein einziges Mal das Wort gegenüber meinen Entscheidungen erhoben hatte, schien jetzt der Moment gekommen zu sein. Sollte ich nun froh oder wütend darüber sein? Was erhoffte sie sich?

„Es war die einzig richtige.", antwortete ich also.

„Und für wen?"

Jess stand wie festgefroren da und bewegte sich nicht. Ihre Blicke waren suchend, aber ich fragte mich, was sie zu finden gedachte.

„Was wird das?", erwiderte ich, weil ich nicht gerade scharf darauf war, schon wieder eine Diskussion zu führen, die nirgendwo enden würde.

„Sie ist verletzt. Und sie versteht es nicht. Vielleicht, weil es da nichts zu verstehen gibt."

Ich wusste nicht, was sie meinte. Und ebenso wenig wusste ich, wie sie nun darauf kam. Vorhin noch hatten sich beide wie Rivalen gegenübergestanden und nur darauf gewartet, dass der jeweils andere einen Fehler machte. Und nun…verteidigte sie sie?

Sie kam auf mich zu und kniete sich vor mir auf den Boden. Irgendetwas war anders mit ihr, so als wäre im Wald etwas passiert. Ihre gelben Augen durchdrangen die meinen und ich glaubte zu fühlen, wie sie gerade in mir las.

„Du bist auf sie geprägt, Jacob."

Das war ich, ja. Und wie es schien, war es die Prägung, die mich dazu brachte, jede Entscheidung nach Renesmees Glück auszurichten.

Meine Vermutung bestätigte sich, als Jess den Kopf schüttelte: „Bist du sicher?" Was genau wollte sie von mir? Eine Bestätigung, dass es auch wirklich so war? Dass wir nun geschiedene Leute waren?

Worauf wollte sie hinaus – hatte das etwas mit uns zu tun? Und wenn ja…mit welchem Teil von uns?

„Das ist es eben, was eine Prägung tut, oder nicht?", fragte ich zurück, weil es keine andere Erklärung dafür gab. Schließlich konnte sich das alles nicht in Luft auflösen. Oder vielleicht doch? Wir beide würden es wohl nie erfahren.

„Glaubst du, dass es wieder anders werden wird?"

Ich nahm Jess' Hände in meine, weil sie es zuließ. Tatsächlich konnte ich ihr keine Antworten darauf geben. Ich konnte ihr nicht erklären, wie all das funktionierte, weil ich es nicht wusste. Genauso wenig, wie es irgendjemand hier wusste. Außer vielleicht einer der Ältesten. Aber wen interessierte das schon? Ändern konnte ich es sowieso nicht, egal wie es kam.

„Ich schätze, das werde ich herausfinden."

Jess betrachtete unsere Hände, dann meine Schulter, dann mein Gesicht. Nur zu gerne wollte ich wissen, was passiert war. Oder was sie dachte. Sie war nicht Renesmee, die ihr Herz auf der Zunge trug und der man jedes Wort von den Lippen ablesen konnte. Jess überraschte mich jedes Mal, wenn auch nicht immer positiv. Tatsächlich aber hatten sie und Renesmee allgemein wenige Parallelen, und das war auch gut so.

Sie gab mir die Ruhe und Bestimmtheit, die ich brauchte, nach allem, das passiert war. Sie gab mir ein Zuhause, obwohl ich geglaubt hatte, keines mehr zu besitzen.

Und all das wirkte wie ein Sog, den ich nur allzu gut kannte, aber dennoch nicht zuordnen konnte. Ich wusste, was hier passierte, aber ich wusste es auch nicht. Ich ließ mich leiten, immer weiter und weiter, zu einem unbekannten Ziel.

So gut es mit der Schulter möglich war, lehnte ich mich nach vorne und setzte einen seichten Kuss auf ihre Stirn. Mit großen Augen sah sie mich an, ließ es jedoch geschehen. Ihr Atem ging beinahe so unregelmäßig wie ihr Herzschlag. Währenddessen wir uns ansahen, wanderte ich langsam tiefer. Und küsste sie.

Weil mich alles in diese Richtung drängte. Und weil ich wusste, dass mich jeder weitere unserer gemeinsamen Momente immer wieder an diesen einen Punkt bringen würde, an dem ich es versuchen würde. In dem ich mich…ihr hingeben und es keine Sekunde lang bereuen würde.

Mit offenen Armen empfing ich die Wärme und Geborgenheit, die mich durchströmte. Es fühlte sich zu gut an. Zu natürlich.

Und es war viel zu schnell vorbei.

Jess trennte sich von mir, stand auf und betrat mit langsamen Schritten den Flur. Ich dachte, sie würde wieder davonlaufen. Aber sie tat es nicht.