: Mitternacht im Mausoleum, Teil 2

Five

Als Five wieder auftauchte, stach ihm eisige Nachtluft ins Gesicht, sein Atem stieg in weißen Wölkchen direkt vor ihm auf. Er zog den Kragen seines Mantels höher und sah sich um. Das war nicht der Friedhof, er war irgendwo zwischen dicht beieinanderstehenden Bäumen gelandet. Ihre knorrigen blattlosen Äste stachen wie Nadeln in den schwarzen Nachthimmel. Es war totenstill um ihn herum, nur gelegentlich knarrten die Äste bedrohlich, wenn der kalte Nachtwind an ihnen rüttelte.

Five seufzte, er konnte nur hoffen, dass der Friedhof nicht allzu weit weg von seinem Ankunftsort lag. Er durfte keine Zeit verlieren, ihr Vater und Klaus konnten jede Minute dort ankommen, während er irgendwo in einem Wald herumspazierte. Er sah sich in nach allen Seiten um, doch überall bot sich ihm das gleiche Bild. Schwarze Baumstämme, die sich in der Ferne in der Dunkelheit verloren. Das Licht des Mondes reichte kaum hinunter bis zum Waldboden, obwohl er ihn durch das Gewirr von Zweigen hell am Himmel leuchten sehen konnte.

Er biss sich auf die Lippe, bis er Blut schmeckte. Er steckte gewaltig in der Klemme. Sollte er versuchen nochmal zu teleportieren? Das wäre sicher der einfachste und auch schnellste Weg aus diesem Wald hinaus. Der metallische Geschmack des Blutes breitete sich unangenehm in seinem Mund aus, lag ihm bitter auf der Zunge. Nachdenklich zog er die Augenbrauen zusammen und fuhr sich durch seine rabenschwarzen Haare, während er seine Optionen abwägte.

Nein, Teleportieren war leider nicht die Lösung seines Problems, auch wenn es noch so verlockend schien. Es barg einfach zu viele Risiken, es gab zu viele Variablen, von denen jede einzelne dafür sorgen konnte, dass etwas gewaltig schief ging. Sich über weite Distanzen zu teleportieren war zudem auch äußerst gefährlich, vor allem, wenn man kein genaues Bild vom Zielort im Kopf hatte. Zu groß war die Gefahr mit irgendetwas, das sich dort befand, zusammenzustoßen. Er konnte von Glück reden, dass er bei seinem jetzigen Versuch zwischen und nicht in den Bäumen gelandet war. Aber genau diese Bäume waren das Problem, sie sahen alle gleich aus, verdammt noch mal! Er musste sich erst einmal Orientierung verschaffen, musste raus aus dem dichten Gestrüpp und den endlosen Reihen von Bäumen.

Eine Richtung schien ihm so gut wie jede andere und so marschierte er einfach los. Gefrorene Zweige knackten laut unter seinen Füßen, als er sich durch das dichte Unterholz vorwärts kämpfte.

Sein Blick glitt zwischen dem Mond, an dem er sich orientierte, und dem Boden unter seinen Füßen hin und her. Solange er einfach immer geradeaus in eine Richtung ging, musste er unweigerlich auf das Ende des Waldes stoßen. Er durfte bloß nicht stolpern oder die Richtung verlieren.

Fives Gedanken trieben hin und her zwischen seiner Angst um Klaus und dem innigen Wunsch, nicht mit dem Kopf auf dem gefrorenen Waldboden aufzuschlagen und so verfiel er in eine Art unregelmäßigen Laufschritt, der ihn mal schneller, mal langsamer vorantrieb und manchmal sogar fast zum Stehenbleiben zwang. Jedes Mal schaute er dann panisch auf seine Armbanduhr und zuckte zusammen, wenn er sah, dass der Minutenzeiger wieder ein Stück vorgerückt war. Sein Vater und Klaus waren bestimmt schon längst am Friedhof angelangt, während er hier im Finsteren orientierungslos herumirrte.

So eine verdammte Scheiße aber auch! Five war gerade dabei, sich selbst zu verfluchen, als sich endlich die Baumgruppen lichteten und den Blick auf eine offene Fläche freigaben. Sein Herz klopfte wie wild vor neuer Hoffnung. Gleich, gleich würde er hoffentlich erkennen können, wo genau er gelandet war. Zwar glaubte er nicht an Gott oder generell an höhere Mächte, doch in diesem Moment flehte inständig jede höhere Macht an, dass er alles für sie täte, wenn er nur endlich bald den verdammten Friedhof und seinen Bruder finden würde. Klaus brauchte ihn doch!

Er trat einen beherzten Schritt aus dem Wald hinaus und wäre vor Freude fast in die Luft gesprungen, als er die sorgfältig gekiesten Wege sah, die im Mondlicht unwirklich und fast wie magisch schimmerten. Er hatte sich also in den Wald teleportiert, der an den Stadtpark angrenzte. Das Glück war wieder auf seiner Seite! Irgendwo hier im Park musste auch der Friedhof sein, das wusste Five. Hoffentlich nicht am anderen Ende, er hatte keine Zeit mehr zu verlieren, die Zeiger der Uhr schritten erbarmungslos voran.

Five ging weiter, Kies knirschte unter seinen Sohlen, als er in einen unruhigen Laufschritt fiel. Eine Abzweigung. Wohin sollte er gehen? Nach rechts oder links? Panisch sah er sich um, machte einen Schritt in die eine, dann wieder in die andere Richtung. Jede falsche Entscheidung kostete Zeit, Zeit, die Klaus nicht hatte.

„Logisch! Denk logisch!", schrie er sich selbst an. „Du musst eine Entscheidung treffen, jetzt sofort!" Während sein Verstand noch verzweifelt zu analysieren versuchte, welcher Weg nun die bessere Wahl war, wurde ihm die Entscheidung mit einem Schlag abgenommen, als entfernte Schreie durch die Nacht an sein Ohr drangen.

„Dad! Nein! Ich sagte, ich will … ! Bitte, hör auf, ich … Hause! Dad! Neeeeeein! Lass … looos! Dad!"

Klaus!Das war die Stimme seines Bruders Klaus! Und er schrie! Five rannte so schnell ihn seine Beine trugen, rannte in die Richtung, aus der Klaus' Schreie kamen. Seine Lungen brannten wie Feuer, doch er hielt nicht an, erlaubte sich nicht eine Sekunde langsamer zu werden.

Eine erneute Abzweigung, an der er sich nach rechts wandte, noch eine Kurve und dann sah er ihn, den Friedhof.

Er hielt jetzt direkt auf die niedrige Mauer zu, die den Friedhof einfasste, ein beherzter Sprung und er war auf der anderen Seite. Sein Blick glitt über die Gräber. Auf manchen leuchteten Lichter, der Kerzenschein flackerte in der Dunkelheit und verlieh der Szenerie eine düstere, geisterhafte Stimmung, der Five jedoch keine Beachtung schenkte. Tote konnten einem, im Gegensatz zu Lebenden, nichts anhaben. Lebendige Menschen waren grausam und erbarmungslos, ihr Vater war dafür das beste Beispiel.

Five knirschte mit den Zähnen. Was dieses Monster seinem Bruder schon alles angetan haben mochte, während er hier wertvolle Zeit vergeudete, weil er beim Teleportieren versagt hatte. Heißer Zorn loderte in ihm auf, er hasste sich in diesem Moment selbst. Nur seinetwegen war Klaus ihrem Vater schutzlos ausgeliefert. Weil er seine Kräfte nicht unter Kontrolle hatte.

Aber jetzt war nicht die Zeit, sich selbst zu bedauern, jetzt musste er etwas unternehmen. Noch war es hoffentlich nicht zu spät. Fieberhaft scannten Fives Augen den gesamten Friedhof ab. Keine Spur von Klaus oder ihrem Vater. Die Schreie waren auch verstummt. War sein Bruder etwa...Nein das konnte nicht sein! Das durfte nicht sein! Klaus lebte, da war sich Five ganz sicher. Er musste leben, ansonsten würde Five in tausend Scherben zersplittern. Ein Leben ohne Klaus konnte er sich nicht vorstellen.

„Komm schon, na komm schon! Wo bist du, Klaus?", knurrte er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Seine Augen suchten immer noch hektisch die Umgebung ab, suchten nach einem Zeichen, irgendeinem Hinweis auf seinen Bruder, während er hektisch die Gräberreihen auf und ab lief.

Plötzlich blieb sein Blick an etwas hängen. Da, hinter dem großen Gebäude zu seiner rechten trat eine schlanke, hochgewachsene Gestalt hervor. Five duckte sich schnell hinter einen Grabstein, suchte Deckung. Sein Herz raste wie wild, denn auch im Dunklen hatte er sofort erkannt, wer da in der Nacht herumschlich – es war Reginald Hargreeves, ihr Vater. Und er war allein.

Klaus

Der Horror begann in dem Moment, in welchem Sir Reginald Hargreeves die schweren Flügeltüren mit einem Quietschen hinter Klaus Schloss drückte. Ohrenbetäubende Stille senkte sich über die Gruft, doch in Klaus' Innerstem rumorte es. Ein dröhnender summender Schmerz, wie von einem wütenden Bienenschwarm, erhob sich in den Tiefen seiner Eingeweiden, stach ihn von innen heraus. Klaus versuchte tief durchzuatmen und sich für das zu wappnen, was ihn in den nächsten Sekunden erwarten würde. Die Hölle, aus der es kein Entkommen gab.

Schon erhoben sich die Geister der Verstorbenen wieder aus ihren Ruhestätten, glitten direkt auf ihn zu, als ob sie magisch von ihm angezogen würden. Klaus Augen weiteten sich vor panischer Angst, er versuchte zurückzuweichen, sich irgendwo zu verstecken, doch die Grabkammer des Mausoleums bot keinen Schutz, keine Versteckmöglichkeit. Rings um ihn herum reihte sich Grab an Grab bis zur den schmalen Oberlichtern in der Decke. Die schwarzen Löcher in der Wand gähnten, rissen ihre Mäuler auf und spien mehr und mehr unheimliche Gestalten aus, die langsam auf ihn zu krochen und ihn langsam von allen Seiten umzingelten.

Klaus drehte sich hilflos um die eigene Achse, die Fäuste so fest geballt, dass die Fingernägel halbmondförmige Abdrücke in seinen Handflächen hinterließen. Was sollte er bloß tun? Angst schnürte ihm die Kehle zu. Es gab keine Lücke, keine Chance zu entkommen. Die Geister berührten ihn jetzt fast, streckten ihre knochigen Hände nach ihm aus und stießen dabei grässliche Laute aus, die fast wie Hilferufe klangen. Klaus ging in die Knie, rollte sich auf dem Boden zusammen und machte sich so klein wie möglich.

„Was wollt ihr von mir? Haut ab! Geht weg! Lasst mich endlich in Ruhe! Bitte, haut ab!", schrie er perlweiß schimmernden Gestalten immer wieder mir rauer Kehle entgegen, doch entweder konnten die Geister ihn nicht verstehen oder sie wollten es nicht, denn ihr Münder öffneten sich bloß noch weiter, entließen grauenhafte Zischlaute und Schreie, die Klaus bis ins Rückenmark fuhren.

In Todesangst presste er sich die Hände auf die Ohren und schloss die Augen, um die Geister auszusperren, doch es spielte keine Rolle, ob er die Augen und Ohren verschloss, die Fratzen drangen bis in seine Seele vor, quälten ihn mit ihren Schreien und rissen ihn von innen heraus in Stücke, bis nichts mehr von ihm übrig war.

Klaus rollte sich wimmernd auf dem kalten Steinboden zu einer Kugel zusammen. Tränen der Angst und Verzweiflung strömten über seine Wangen. Er konnte es einfach nicht mehr aushalten, er konnte nicht mehr, keine Sekunde länger. Sein Herz raste davon, zog sich schmerzhaft bei jedem Schlag zusammen. Klaus fühlte sich, als ob eine eiserne Faust ihn von innen heraus zerquetschte und dann... fraß ihn die Dunkelheit.

Sir Reginald Hargreeves

Sir Reginald Hargreeves stand mit einem Klemmbrett und einer Stoppuhr bewaffnet vor dem Mausoleum. Emsig füllte er Zeile um Zeile und lächelte. „Interessant, höchst interessant!" murmelte er dabei vor sich hin. „Wer hätte gedacht, dass Versuchsobjekt Nummer Vier solche Resultate erzielt? Das ist erstaunlich, sehr erstaunlich..."

Die Mine des Kugelschreibers glitt flink über die Seite, füllte sie bis zur Unterkante des Blattes mit schwarzer Farbe. Höchst zufrieden tippte er schließlich ein letztes Mal mit dem Kugelschreiber auf und legte das Klemmbrett beiseite, um ein kleines Diktiergerät aus seiner Manteltasche zu ziehen. Er räusperte sich ein paar Mal, dann hielt er es direkt vor seinen Mund und drückte auf Start.

„Beginn der Aufnahme,

Sir Reginald Hargreeves mit Versuchsobjekt Nummer 4, Testreihe 1, 20.10.1994, 00:20 Uhr.

Nummer Vier leistet weiter Widerstand und weigert sich, bei der Ausbildung seiner Kräfte zu kooperieren. Trotzdem ist mir ist ein Durchbruch gelungen.

Dieser lautet wie folgt: Nummer Vier gab über 30 Minuten lang Schreie von sich, bevor die erste Ruhephase eintrat. Da sind 5 Minuten mehr als bei der letzten Versuchsmessung.

Folgende Einzelbeobachtungen konnten getätigt werden:

öfter man Nummer Vier der Testumgebung aussetzt, desto mehr verbalen Widerstand zeigt die Testperson beim Interagieren mit dieser. Der verbale Widerstand besteht zu über 95 % aus Schreien.

Dies muss insofern genauer beurteilt werden, als dass bislang nur die Zeit und Intensität der Schreie gemessen wurde sowie die Pausenzeiten dazwischen.

Der genauere physische Zustand der Testperson zu den Ruhezeiten bleibt weiterhin unklar. Es bleibt zu vermuten, dass es sich entweder um einen Zustand der Bewusstlosigkeit handelt oder aber um einen tatsächlichen Todeseintritt. Genauere Beobachtungen dazu folgen in Kürze.

Fähigkeiten als Medium von Nummer Vier scheinen in direktem Zusammenhang mit dem Gleichgewicht seiner Emotionen zu stehen. Je größer das Ungleichgewicht, desto empfänglicher scheint die Testperson für die andere Welt. Als Versuchsleiter erwäge ich Nummer Vier zusätzlichem emotionalem Schmerz auszusetzen, um seine Empfindsamkeit weiter zu steigern. Dies könnte zu einem wesentlich schnelleren Erfolg bei der Ausbildung seiner Kräfte als Medium beitragen. Des Weiteren kommt eine mögliche Einbeziehung von Pogo oder der anderen Nummern in Frage, um Nummer Viers emotionale Schwachstellen auszuloten. Nummer Sechs scheint dafür der geeignetste Kandidat zu sein, da enge emotionale Bindung vorhanden.

Fazit: Versuchsreihe Nummer 1 tritt nach dem heutigen Tag in eine neue Phase ein. Weitere Variablen werden dem Experiment hinzugefügt.

Aufnahme Ende."

Five

„Geh weg, geh einfach weg, mach schon!", flehte Five innerlich, während er geduckt hinter dem Grabstein kauerte. Vorsichtig lugte er mit angehaltenem Atem um die Ecke. Mist, verdammter! Ihr Vater stand immer noch da und notierte sich Sachen auf einer Art Klemmbrett.

Von Klaus war keine Spur zu sehen, doch Five konnte gedämpfte Schreie aus dem Gebäude neben sich hören. Five war sich zu einhundert Prozent sicher, dass es Klaus war, der da schrie. Er fühlte sich, als ihm das Herz in der Brust zerquetscht würde.

Was tat ihr Vater Klaus an? Und wie? Und wieso war er hier draußen und Klaus da drinnen? Da waren doch nur die Überreste von Toten oder etwa nicht? Er musste nachsehen, was da drinnen vor sich ging. Sofort. Doch wie kam er an ihrem Vater vorbei? Es schien ihm unmöglich, sich einfach an ihm vorbeizuschleichen, während er die Tür bewachte wie Zerberus die Pforte zur Hölle.

Es gab nur eine Möglichkeit. Risiko hin oder her, er musste teleportieren. Wenigstens war er jetzt in unmittelbarer Nähe seines Ziels, auch wenn er keine Ahnung davon hatte, wie der Raum von innen aussah. Das war ein Problem, denn von außen in einen geschlossenen Raum zu teleportieren benötigte äußerste Präzision und Kontrolle der Kraft. Welche er nicht hatte, das hatte er ja bei Versuch sich auf den Friedhof zu teleportieren gesehen. Egal. Es ging hier um Klaus! Er durfte einfach nicht nochmal versagen. Das Schicksal seines Bruders lag wortwörtlich in seinen Händen.

Five ließ sich hinter dem Grabstein auf die Knie sinken, schloss die Augen und atmete tief ein und aus, wobei er versuchte, das so leise zu machen, wie er nur konnte. Wenn ihn ihr Vater entdeckte, wäre sowieso alles vorbei. Dann wäre er endgültig ein Versager und das würde er nicht zulassen. Es war seine Aufgabe, seine Geschwister zu beschützen, sie kamen zuerst, dann er.

Adrenalin rauschte durch seine Adern, als er sich zur Teleportation bereit machte. „Mit Kontrolle, wie auf einer Murmelbahn, einfach einen ganz kleinen Schubs" rief er sich Pogos Worte vom Teleportationstraining in Erfahrung. „Nur einen winzigen Schubs". Hellblaues Licht umgab seine Fäuste, überzog seine Haut mit einem Glühen.

„Ja! Ja! Genauso!", jubelte er innerlich. Er würde es schaffen, er hatte die Kontrolle!

„Nur noch ein bisschen mehr und ich...".

Just in diesem Moment durchschnitt eine laute Stimme die Dunkelheit: „Beginn der Aufnahme, Sir Reginald Hargreeves mit Versuchsobjekt Nummer 4, Testreihe 1...".

Five schreckte auf, verlor die Kontrolle, das Licht um seine Fäuste explodierte und dann war hinter dem Grabstein nichts mehr als die leere Luft zu sehen.

Klaus

„Dunkel, wieso ist es hier eigentlich so dunkel?", dachte Klaus verwundert. Er fühlte sich seltsam schwebend, irgendwie losgelöst von seinem Körper. Das Gefühl machte ihm keine Angst, es war auch nicht unangenehm, es war einfach nur...ungewohnt.

Das Schwarz wob und waberte um ihn herum, umhüllte seinen ganzen Körper wie in eine sanfte liebevolle Umarmung. Klaus ließ sich in diese Umarmung fallen, schwebte in der Schwärze, ließ sich in ihrem sanften Fluss treiben.

Eine innere Ruhe und Gelassenheit überkam ihn. Wo auch immer er war, hier war er sicher, geschützt, fern von allem Schrecklichen. Nichts konnte ihm in dieser friedvollen Dunkelheit etwas anhaben. Klaus schloss die Augen, gab sich ganz dem Gefühl der Schwerelosigkeit hin und versank schließlich in ihren Tiefen.

Five

Als Five wieder Gestalt annahm, bemerkte er als erstes ein nasses, seltsam brennendes Gefühl an seinem linken Bein. Verwirrt schaute er an sich runter, betrachtete eingehend seine linke Seite. Sie sah irgendwie seltsam verformt aus. Sein linkes Hosenbein war bis zum Oberschenkel aufgerissen und aus dem Schlitz heraus tropfte eine dunkle und merkwürdig dickflüssige Substanz, die matt im schummrigen Dämmerlicht des Mausoleums schimmerte. Die Flüssigkeit durchtränkte seine Hose, tropfte in stetem Rhythmus auf den staubigen Boden und zeichnete ein wirres Muster aus schwarzen Punkten und Linien.

Five zog verwirrt seine Augenbrauen zusammen, sein Verstand konnte - oder wollte? - das brennende Gefühl und das, was er sah, nicht in Einklang miteinander bringen.

Ein paar lange Sekunden starrte Five wie gebannt auf sein Bein hinunter, dann auf den Boden, dann wieder auf sein Bein, während sein Hirn die Informationsflut verarbeitete, sie wie Puzzleteile zu einem Gesamtbild zusammensetzte. Als das letzte Puzzleteil an seinem Platz war, brach der Schmerz wie ein heiß glühendes Inferno durch sein Bewusstsein und Fives Mund öffnete sich zu einem gellendem Schrei.

Klaus

„Friedlich, so friedlich", freute sich Klaus, während er den Strom weiter hinabglitt. Er breitete die Arme aus und ließ sich auf den sanften Wellen aus Schwarz treiben. Hier und da schlug er mit seinen Beinen, schob sich in den Wellen vorwärts als schwömme er im seidigen Wasser. Das Schwarz umspülte seinen Körper, liebkoste in und hüllte ihn ein. Klaus' Erinnerungen verblassten, wurden neblig und trüb, sein früherer Schmerz ein weit entferntes Echo, das langsam verhallte.

Ja, so konnte es bleiben, dachte er glücklich, hier in der Schwärze war es angenehm und friedvoll und...ahhhhh! Er zuckte heftig zusammen. Ein hohes, schrilles Kreischen drang von irgendwo aus der Dunkelheit und bohrte sich direkt in seine Trommelfelle.

Das Kreischen schwoll an, wurde lauter und plötzlich fühlte er sich, als würde er ertrinken, die Wellen aus Schwärze, eben noch sanft und freundlich, schlugen nun brausend über ihm zusammen, rissen ihn mit Gewalt hinunter in einen unsichtbaren Abfluss, bei dem der Stöpsel gezogen worden war.

Klaus wirbelte hilflos in dem Strudel herum, er wollte nach Luft schnappen, atmen, aber es ging nicht. Wieso war ihm nicht eher aufgefallen, dass es in diesem Schwarz keine Luft gab? Er brauchte Luft! Jetzt! Sein Mund öffnete und schloss sich vergeblich, ein ungeheurer Druck quetschte seinen Brustkorb zusammen, dann ein Gefühl, als würde er durch ein Nadelöhr gepresst und auf einmal lag ein staubiger, metallener Geschmack auf seiner Zunge. Klaus keuchte und hustete, schnappte nach der seltsam schmeckenden Luft.

Der eiserne Ring um seine Brust weitete sich, er konnte wieder atmen. Gierig sog er noch mehr Luft ein, pumpte seine Lungen mit Sauerstoff und dem staubig metallenen Geschmack voll. Auch die friedliche Dunkelheit war verschwunden, war ersetzt worden durch das fahle Mondlicht, das durch die milchigen Oberlichter des Mausoleums fiel. Klaus blinzelte in die ungewohnte Helligkeit hinein.

Langsam kehrten auch seine Erinnerungen zurück. Er war noch immer hier im Mausoleum gefangen. Aber eben, da war er weg gewesen, oder nicht? Wo war er hingegangen? Wo war es nur schwarz und friedlich? Und warum war es zurück? Er wollte doch gar nicht in dieses Loch zurückkehren! Es war alles so merkwürdig, nichts passte zusammen. Klaus faltete die Hände über seinem Kopf zusammen, sein Schädel tat so weh. Nachdenken tat weh. Aber er brauchte Antworten.

In den Tiefen seines Bewusstseins blubberten verzerrte Bilder und Töne. Ob Traum oder Wirklichkeit vermochte Klaus nicht zu sagen, dazu war alles viel zu verschwommen. Ahh! Sein Kopf tat so unendlich weh! Eigentlich schmerzte sein ganzer Körper, es fühlte sich irgendwie so an, als sei sein Inneres in einen zu engen Schlafsack gestopft worden. Jede einzelne Faser, jeder Muskel und Knochen zog und zerrte und fühlte sich Fehl am Platz an. Seine Haut fühlte sich zu eng an.

Auch lastete ein ungeheurer Druck auf seiner Brust. Fühlte sich so sterben an? War er vielleicht schon...tot? Panisch legte er seine Hand auf seine Brust. Badum. Badum. Badum. Nein, den Göttern sei Dank! Tot konnte er nicht sein. Er spürte, wie sein Herz beständig und zuverlässig unter seiner Hand klopfte. Klaus atmete erleichtert aus.

Allerdings hielt die Erleichterung nicht lange an, denn schließlich war er immer noch in der Gruft eingesperrt. In der Gruft, in der die Geister wohnten. Er würde sie wieder sehen müssen, ihre grässlichen Schreie hören müssen. Er spürte, wie blinde Panik in ihm hoch kroch und ihn von innen heraus lähmte. Wenn er einfach die Augen schloss und sich mucksmäuschenstill verhielt, vielleicht würden die Geister ihn dann gar nicht bemerken? Es war ein letzter Strohhalm, an den sich Klaus klammerte, doch es war alles, was er hatte.

Er schloss die Augen und hielt die Luft an. „Eins...zwei...drei". Keine Geister. „Vier... fünf...sechs", zählte er innerlich. „Sieben...acht...neuuuun." In Klaus flammte Hoffnung auf. „Zehn". Er blinzelte vorsichtig durch halb geöffnete Augenlider. Keine Geister, sie schienen ihn dieses Mal verschont zu haben. Klaus öffnete die Augen ganz. Keine Geister weit und breit. Ja! Ab jetzt begann seine Glückssträhne. Eine, in der Geister niemals mehr auftauchten. Alles, was er jetzt noch tun musste, war zu warten, bis es hell würde, dann würde Dad ihn hier rausholen. Und wenn er ihm erzählte, dass er gar keine Geister mehr sah, müsste er vielleicht nie mehr hierher zurückkommen. Das Glück war ab jetzt auf seiner Seite, das spürte er einfach!

Leider schien das Glück nichts von der Partnerschaft mit Klaus zu wissen, denn nur wenige Atemzüge später erhoben sich die Geister wieder aus ihren Grabstätten und machten Klaus Hoffnungen auf ein geisterfreies Leben ein für allemal zu Nichte.

„Nein, Nein, NEIN, WARUM?!", kreischte Klaus schrill, als die Geister wie schon zuvor direkt auf ihn zuflogen und dabei ihre fürchterlich stöhnende Schreie ausstießen. Er konnte es nicht noch einmal ertragen. Keine Sekunde konnte er das noch einmal durchstehen. Klaus schrie sich die Seele aus dem Leib, Angst flutete seinen Körper und ließ ihn beinahe ohnmächtig werden, doch das hielt die Geister keineswegs auf. Sie schwebten näher und näher, Klaus Schreie wurden immer schriller. In purer Verzweiflung warf sich Klaus flach auf den kalten Steinboden und bedeckte den Kopf mit seinen Hä , gleich war es soweit, die Geister würden ihn kriegen und ihn dann bei lebendigem Leib auffressen.

Doch nichts dergleichen geschah. Die Geister schwebten einfach weiter, über ihn hinweg. Sie kümmerten sich gar nicht weiter um ihn. Klaus war so verdattert, dass er den Kopf hob und den Gespenstern nachblickte. Die Geister sammelten sich jetzt in einer Ecke, schwebten über etwas, das wie ein schmutziger schwarzer Haufen aussah.

Klaus hob den Kopf noch weiter, um besser sehen zu können. Er konnte es im Dämmerlicht nicht genau zog die Geister an, wenn nicht er? Was war dieser schwarze Haufen da in der Ecke? Klaus war sich absolut sicher, dass das, was immer es auch war, vorher noch nicht da gewesen war. Vielleicht war es ein Tier, das irgendwie hereingekommen war? Sollte er näher herangehen? Was, wenn es gefährlich war? Wenn es ein Tier war, das ihn dann biss oder kratzte?

Klaus war hin- und hergerissen, einerseits wollte er sich auf keinen Fall den Geistern und dem unbekannten Ding in der Ecke nähern, andererseits musste er herausfinden, was die Geister von ihm fern hielt. Vielleicht war es etwas Nützliches, eine Art Waffe oder sonst etwas, womit er sie endgültig besiegen konnte? Wilde Hoffnung durchströmte ihn, das war vielleicht seine Chance, die Geister ein für alle mal loszuwerden.

Vorsichtig kroch er auf allen Vieren näher an das schwarze Bündel heran. Er war immer noch weit genug weg, sodass die Geister ihn auf keinen Fall berühren konnten, aber er konnte die Umrisse des Haufens jetzt besser erkennen. Das war eindeutig kein Tier, das da in der Ecke lag, es sah eher aus wie ein...

Das Bündel stöhnte auf und zuckte. Ein Mensch! Es war ein Mensch! Hier bei ihm in der Gruft! Klaus ließ alle Vorsicht fahren und krabbelte so schnell er konnte auf den Kleiderhaufen zu. Die Geister wichen zur Seite, machten ihm Platz, doch Klaus bemerkte ihr seltsames Verhalten gar nicht, seine Aufmerksamkeit galt alleine dem Menschen, der jetzt sein Schicksal mit ihm teilte.

„Hey! Hey du! Hallo!" rief er voller Aufregung, während er sich näher an ihn ran schob. „Was machst du hier? Wer bist du? Wie heißt du? Ich bin Klaus. Klaus Hargreeves! Mein Dad hat mich hier eingesperrt. Wurdest du auch hier eingesperrt? Hallo? Hallo, du da, bist du wach?"

Der Kleiderhaufen antwortete nicht, sondern stöhnte nur auf, als Klaus ihm in die Seite stupste. „Hey, du, was ist los mit dir? Jetzt ist nicht die Zeit, um zu schlafen! Wach auf!"

Klaus beugte näher sich über das aschfahle Gesicht des Bündels und als er erkannte, wer da vor ihm auf dem Boden lag, weiteten sich seine Augen vor Entsetzen.

„FIVE? Was zum Henker machst DU denn hier? Hat Dad dich hier auch eingesperrt?" Keine Antwort. Fives Augen blieben weiter geschlossen und auch das gequälte Wimmern hatte aufgehört. Sein Bruder lag regungslos auf dem Boden. Klaus rüttelte an seinen Schultern „Five! Five! Wach auf!" Was ist passiert? Bruder, jetzt komm schon! WACH JETZT ENDLICH AUF!"

Klaus rüttelte noch heftiger, aber alles, was passierte, war, dass sein Bruder einen lang gezogenen Schmerzensschrei ausstieß, wobei sein Kopf auf dem staubigen Boden hin und her rollte.

Verzweiflung drohte Klaus zu überwältigen, fraß sich durch seine Eingeweide. Wieso wachte sein Bruder nicht auf? Was war bloß mit ihm los?

Tränen verschleierten Klaus Sicht. „Five! Bitte, BITTE!, wach doch endlich auf!", flehte er, während er weiter vergeblich an den Schultern seines Bruders rüttelte. Heiße Tränen quollen aus Klaus' Augen und zeichneten eine Spur aus verschmiertem Dreck auf seinen Wangen. „FIVE! Ich brauche dich! Ich will nicht mehr alleine sein!", schrie er ihn an. Doch auch auf Klaus' verzweifelte Schreie reagierte Five nicht.

Klaus weinte jetzt hemmungslos, das Heulen der Geister schwoll ebenso wieder an, vermengte sich mit seinem und echote durch die Grabstätte. Es war, als wollten sie ihn verhöhnen.

„Was soll ich tun? Sag mir was ich tun soll, Five!", schrie Klaus hilflos. „Five, bitte hilf mir! Ich kann das nicht alleine!" Klaus beugte sich noch weiter über seinen bewusstlosen Bruder, stützte seine Hände zu beiden am Boden auf. Fives Gesicht sah so friedlich aus, fast würde er schlafen. Doch warum wachte er nicht auf? Er war doch nicht etwa...?

Zitternd hob Klaus seine rechte Hand, strich Five die verklebten Haare aus der Stirn und hinterließ dabei einen dunkle schmierige Spur auf dessen Gesicht. Erschrocken zog Klaus die Hand zurück, hielt sie ganz nah vor sein eigenes Gesicht. Was war das? Seine Handfläche war überzogen mit einer dunklen klebrigen Flüssigkeit. Klaus roch dran, streckte die Zunge raus, leckte vorsichtig an einer Fingerspitze. Es schmeckte metallisch.

Dann traf ihn die Erkenntnis wie ein Blitz. „Five! Scheiße, du bist ja verletzt!" Fieberhaft suchten Klaus' Augen jetzt Fives gesamten Körper ab, fanden schließlich den Riss im Hosenbein, aus dem noch immer dunkle Tropfen quollen.

Klaus wurde übel. Scheiße, scheiße, scheiße! Das sah schlimm aus, richtig schlimm. Er musste etwas tun, jetzt sofort! Hastig zog er seinen Pulli aus, wickelte ihn um Fives Bein und verknotete die Ärmel fest über der Wunde.

Five wimmerte. Ein Lebenszeichen von seinem Bruder! Er war nicht tot und das war alles, was zählte. Klaus versuchte ihn zu beruhigen.„Halt durch Five! Bleib bei mir! Ich mache so schnell und gut ich kann, ja? Aber du musst bei mir bleiben, hörst du?"

Vorsichtig hob Klaus Fives verletztes Bein an und überprüfte, ob der Verband richtig saß. Five schrie unter der Belastung auf. „Schhh, schhhh, schon gut, Five, es wird alles wieder gut!", murmelte Klaus beschwörend. „Du musst nur ein wenig länger durchhalten, ja?"

Ein krächzender Laut war zu hören, dann kaum verständlich: „ich versuch's ja."

Klaus Herz machte einen Hüpfer. „Five! Du bist wach!" Er beugte seinen Kopf ganz nah an Fives Gesicht. „Sag, was ist passiert? Was machst du hier?" , sprudelten die Fragen aus Klaus hervor. „Nein,warte, sag nichts, man soll nicht sprechen, wenn man schwer verletzt ist oder doch? Ich habe nicht richtig aufgepasst, als Pogo..."

Ein heiseres Lachen, das in ein Husten überging. „Du passt doch nie auf, Klaus." Five verzog sein Gesicht zu einem halben Schmunzeln, dann keuchte er schwer: Ich bin hier, um dich retten, was sonst?" Er hustete wieder, wobei er vor Schmerz zusammenzuckte.

„Mich retten?", wiederholte Klaus und strich ihm beruhigend über den Kopf. „Wirklich? Sieht eher aus, als ob ich dich retten müsste. Wenn ich nur Nadel und Faden hätte. Ich kann ziemlich gut nähen, weißt du?", sagte er und blickte dabei auf den provisorischen Verband.

Five lächelte schwach. „Du hast mir schon so oft geholfen, Klaus. Meinst du, ich weiß nicht, wer mich nachts gehalten hat, während die Alpträume mich quälten? Wer außer Dir kann mich überhaupt leiden? Ich weiß, ich bin manchmal schwierig, ich..." Fives Stimme klang rau, schmerzverzerrt, Tränen glänzten in seinen Augenwinkeln. Stammelnd fuhr er fort: „und ich, ich habe schon wieder schon wieder versagt, ich bin einfach ein..."

„Schhh jetzt! Nicht soviel reden, du musst dich ausruhen!", unterbrach ihn Klaus mit ungewohnt strenger Stimme. Sanft bettete er Five Kopfs auf seinem Schoß. „Und du bist kein Versager, du bist zwar manchmal eine unerträgliche Nervensäge, aber wir lieben dich. Ich liebe dich, du bist mein Bruder, Five. Ich werde immer für dich da sein, muss ich ja anscheinend auch, bei der Unfallgefahr, die du hast," versuchte Klaus die Situation mit einem Scherz aufzuheitern.

Five streckte die Arme nach seinem Bruder aus und Klaus drückte ihn fest an sich. „Brüder für immer, ja?, murmelte Five mit tränen erstickter Stimme in Klaus Ohr. Klaus nickte. „Brüder für immer!"