Liebe, Lüge, Wahrheit
Kapitel 67 – Verschollen
Alain trennte sich ungern von seiner Constance, aber er musste zurück in die Kaserne - noch bevor die Sonne aufging. Vor etwa zwölf Jahren kam sie als Ehefrau eines Kaufmannes aus Nizza nach Paris und er hatte sie vor sechs Jahren kennengelernt. Constance war zu diesem Zeitpunkt bereits verwitwet und wegen einer Fehlgeburt konnte sie keine Kinder mehr bekommen. Vielleicht war es genau das, was Alain zu ihr hinzog. Natürlich abgesehen von ihrem hübschen Äußeren und ihren körperlichen Reizen, denen er niemals widerstehen konnte. Auf jeden Fall reichte ihm eine Tochter vollkommen aus und er erzählte seiner Geliebten gerne über sie. Nach Annette blieb Constance seine einzige Liebschaft und er hätte gerne mit ihr den ganzen Tag im Bett verbracht, aber das ging nicht. Alain küsste die nackte Schulter von Constance, zog sich an und verließ das Haus. Als er in der Kaserne ankam, begann die Dunkelheit der Nacht zu verblassen. Seine Kameraden schnarchten noch immer um die Wette, stellte Alain fest und grinste anzüglich, als er das leere Bett von André im dämmrigen Licht des Morgens sah. Also hatte nicht nur er eine heiße Nacht mit einer Frau verbracht. Er ging in das Offiziersbüro, um seine Rückkehr zu melden und klopfte vorsichtig an. „Alain de Soisson meldet sich zurück zum Dienst, Oberst!", sagte er laut und wartete auf überraschte Stimmen zweier Liebenden hinter der Tür.
Allerdings kam ein schnelles und festes „Herein!" von Oscar, was ihn einerseits verwunderte. Das klang nicht nach der Stimme einer Frau, die gerade Liebe machte. Aber andererseits waren sie und André vielleicht schon fertig? Wie dem auch sei. Alain verzog ein ernstes Gesicht und betrat das Offiziersbüro. Oscar saß am Tisch in ihrer blauen Uniform und unterschrieb irgendwelche Dokumente – von André weit und breit nichts zu sehen. „Ich bin von der Nachtpatrouille zurück, Oberst.", meldete er und bekam ein mulmiges Gefühl. „Wo ist André?", wollte er gleich wissen.
Oscar legte ihre Schreibfeder beiseite und schaute ihn verwundert an. „Ich vermute, er liegt noch im Bett."
„Nein, tut er nicht." Das Licht des Morgens breitete sich überall aus und die ersten Sonnenstrahlen kündigten den Anbruch des neuen Tages an. Alain sah immer mehr die feinen Linien von Oscars Gesicht und den verwunderten Blick ihrer blauen Augen, die ihn irritierten. Wenn André nicht hier war, wo war er dann?
„Was willst du damit sagen, André ist nicht im Bett?" Oscar entfiel bei dieser Frage sogar die höfliche Anrede. Ein ungutes Gefühl ergriff sie. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er fort war ohne ihr Bescheid zu sagen. „Wo ist er dann?"
Alain vernahm ein leichtes Zittern in der Stimme von Oscar und das mulmige Gefühl verstärkte sich. Mit André musste bestimmt etwas passiert sein. Aber nur was? Um nicht lange schweigend zu stehen, musste Alain seinen Besuch bei Constance preisgeben. „Nach Mitternacht habe ich André geweckt und zu der Nachtpatrouille mitgenommen. Nach der Patrouille habe ich eine Freundin besucht und André ist zu Euch in die Kaserne gegangen."
Die Tatsache, dass Alain im Dienst jemanden unerlaubt besuchte, überhörte Oscar. Die Sorge um ihren geliebten André stieg in ihr höher. Wo war er? Was war mit ihm passiert? Sie glaubte nicht daran, dass André ohne sie und François auf das Anwesen der de Jarjayes oder woanders hin gegangen war. Und soweit sie wusste, hatte André keine Bekannten in der Stadt. „Du hast ihn alleine gelassen?"
Alain konnte zwar ihre Sorge um André verstehen, aber der Vorwurf war für ihn doch eine Spur zu viel. Vielleicht würde sie ihn auch noch beschuldigen, dass er etwas mit dem Verschwinden von André zu tun hatte? Nein, das wäre völlig absurd! Was bildete sich diese Aristokratin in Uniform überhaupt ein?! „Was ist dabei?! André ist ein erwachsener Mann! Vielleicht ist er auch zu einer Freundin gegangen?"
„André würde so etwas niemals tun!", fauchte Oscar und stürmte aus dem Offiziersbüro. André würde sie niemals betrügen, das wusste Oscar mit Sicherheit! Also musste bestimmt etwas anderes vorgefallen sein – das spürte sie tief in ihrem Inneren! Vielleicht war er Opfer eines Überfalls geworden und lag irgendwo verletzt auf der Straße? Hoffentlich nicht..., betete Oscar und erreichte die Unterkunft der Soldaten. Mit Wucht riss sie die Tür auf und brüllte aus voller Kehle: „Alle sofort aufstehen!"
Ihr hoher und auffordernder Befehlston weckte die Männer auf der Stelle. Allerdings keiner von ihnen gehorchte und alle schauten sie verschlafen an. Nicht weit von der Tür setzte sich träge ein Soldat in seinem Bett auf. „Erklärt uns, warum so eilig, Oberst?", krächzte er mit vor Schmerz verzogenem Gesicht und hielt einen Arm um seine Mitte. Er war gerade von einem nächtlichen Spaziergang zurückgekehrt und wollte noch schlafen. Aber das sollte ja niemand wissen.
Oscar warf einen scharfen Blick in seine Richtung und erkannte in ihm den Mann, mit dem sie sich gestern duelliert hatte. „Euer neuer Kamerad André Grandier wird vermisst und ich will, dass ihr einen Suchtrupp bildet!" Sie schaute zwar nur den einen Soldaten an, aber ihr Befehl galt für alle.
„Vater ist weg?", fragte François bangen Herzens und begann sich schnell anzuziehen. Selbstverständlich würde er nach ihm suchen, auch wenn er noch nicht den Grund kannte, warum sein Vater überhaupt verschwunden war. Das letzte Mal hatte er ihn gestern gesehen, als er ins Bett ging.
Auch Augustin stieg von seinem Bett herunter, aber im Gegensatz zu François, starrte er verwirrt seine Mutter an. „Was soll das heißen, Vater wird vermisst?" Sein Körper spannte sich an. Wenn das stimmte und mit seinem Vater etwas passieren sein sollte, dann würde er nur einen einzigen Mann dafür verantwortlich machen und ihn bezahlen lassen! Augustin formte seine Hände zu Fäusten und warf einen vernichteten Blick auf Georges.
Oscar derweilen ließ ihren Blick über alle Köpfe der Soldaten schweifen und hob erneut ihre Stimme: „Ich erwarte euch alle auf dem Exerzierplatz!" Mit den Worten drehte sie sich um und hastete hinaus. In ihrer Eile stieß sie beinahe mit Alain zusammen, der hinter ihr an der Tür gestanden hatte. Schnell trat er ein Stück zur Seite und Oscar sauste an ihm vorbei, ohne ihn weiter zu beachten.
Ein verrücktes Weib, dachte Alain, aber irgendwie konnte er sie schon verstehen. Wenn einem ihm geliebten und teuren Menschen etwas zustoßen sollte, würde er genauso reagieren. Er betrat das Zimmer und umfasste mit seinem dunklen Blick alle seine Kameraden, die sich, bis auf François und Augustin, noch immer in ihren Betten befanden. „Ihr habt den Oberst gehört! Unser neuer Kamerad muss gefunden werden! Also aufstehen, Männer!"
Einige der Soldaten stiegen widerwillig aus ihren Betten und begannen sich anzuziehen. Die anderen dagegen machten keinen Anstalten und blieben ungerührt, wo sie waren. Zu ihnen gehörte auch Georges. Träge stand er auf und baute sich vor Alain auf. „Seit wann bist du auf der Seite dieser Aristokratin?"
„Ich stehe auf keiner Seite. Aber jeder Neuling steht unter meinem persönlichen Schutz und das ist jedem hier bekannt!", wiederholte Alain die Worte von gestern und holte nebenbei einen Dolch aus seiner Jacke. „Wo warst du heute Nacht, Georges?"
Sollte das jetzt eine Befragung werden? Georges ließ sich nicht einschüchtern. „Ich war hier im Bett und habe geschlafen! Falls du es vergessen hast, hat dieses Weib mich gestern geschlagen, sodass ich mich kaum bewegen konnte! Oder verdächtigst du etwa mich?"
Noch bevor Alain etwas sagen konnte, tauchte unerwartet Augustin zwischen ihm und Georges auf. „Wen denn sonst!", spie er wutentbrannt und stieß Georges nach hinten. Der Soldat mit der grässlichen Narbe im Gesicht taumelte etwas überrascht zurück, aber behielt sein Gleichgewicht. Augustin ließ sich davon nicht abhalten und schlug auf ihn mit blanken Fäusten ein. „Wo ist mein Vater? Antworte!"
Alain und François waren sofort zur Stelle und schoben Augustin mit Mühe von Georges zurück. „Ruhig!", befahl Alain.
Georges spuckte Speichel mit Blut aus. „Ihr habt keine Beweise!", knurrte er verächtlich. „Halte mir diesen Bengel vom Leib, Alain!" Er stand auf und ging zu einer Waschschüssel. „Wir sollen uns lieber für die Suche bereit machen."
„Das wirst du mir büßen!", rief Augustin wütend und versuchte sich aus den haltenden Armen von Alain und François zu befreien. Erfolglos.
„Beruhige dich, habe ich gesagt!", befahl Alain erneut, packte Augustin noch kräftiger und schob ihn außer Reichweite von Georges. „Zieh dich lieber an! Je schneller wir auf die Suche gehen, desto schneller werden wir André finden!"
Niemand sah das schäbige und hämische Grinsen von Georges. Schnell wusch er sein Gesicht, zog seine Uniform an und brach mit seinen Kameraden auf der Suche nach André auf, der in irgendeiner stinkender Gasse, in eigener Blutlache, zwischen Unrat und Abfall, ohne Uniform und Gewehr bereits leblos lag. Georges hatte sich in der Nacht Mühe gemacht, dass seine Tat wie nach einem gewöhnlichen Raubüberfall mit Todesfolge aussah. Vielleicht sollte er seinem neuen Befehlshaber den Leichnam von André zeigen?
Nein, das wäre eine schlechte Idee. Alain und die Zwillinge würden ihn dann erst recht verdächtigen. Aber solange er so tat, als würde er nichts wissen und mit anderen Kameraden nach André suchen, konnte ihm niemand eine Schuld zur Last legen.
„Georges! Louis! Jules! Wir haben etwas gefunden!" Ein Soldat preschte ihnen auf seinem Pferd entgegen. Damit die Suche schneller ging, hatte Oberst de Jarjayes sie in kleinen Gruppen aufgeteilt. Georges war froh, nicht mit Alain oder den Zwillingen durch die Stadt zu reiten und ihnen falsche Hinweise geben zu müssen.
So schnell, dachte Georges leicht überrascht. Sie befanden sich in einem ganz andren Teil der Stadt und weit weg vom Tatort entfernt. Jedoch zeigte sich Georges gelassen. „Endlich, Pierre, das ist eine erfreuliche Nachricht.", meinte er zu dem angerittenen Kameraden. „Ich habe keine Lust mehr nach diesem André zu suchen."
„Wir auch nicht.", bekräftigten Louis und Jules und ritten mit Pierre zu der Fundstelle.
Am Ufer der Seine hatten sich bereits der Oberst, Alain, die Zwillinge und der Rest des Suchtrupps versammelt. Oscar und die Zwillinge knieten fassungslos vor einer blauen, nassen, blutbefleckten Uniform mit einem großen Loch drin. Gleich daneben lag ein Gewehr. „Das haben sie gerade aus der Seine gefischt.", sagte Pierre leise.
„Dann war das ein gewöhnlicher Überfall.", stellte Louis fest.
Jules musste ihm zustimmen. „Und weil André neu in der Kaserne war, war er den Übeltätern ausgeliefert."
„Ich frage mich, wo seine Leiche ist.", meinte Georges und verzog eine entsetzliche Miene, um genauso fassungslos zu wirken wie alle anderen.
Als hätte Oscar seine Gedanken gelesen, stand sie auf, stieg auf ihr Pferd und verlautete mit heiserer Stimme ihren Befehl: „Ich glaube nicht, dass André tot ist! Deswegen sucht ihr nach ihm weiter! Seine Uniform und sein Gewehr bringt ihr zu mir in das Offiziersbüro!"
„Verdammtes Weib...", knurrte Georges und wendete sein Pferd. Seine Kameraden taten es ihm mürrisch nach und zerstreuten sich in alle Richtungen. Nebenbei entdeckte er, wie die Zwillinge auch ihre Pferde bestiegen und entlang der Seine fortritten. Also gut, dann würde er woanders so tun, als suche er nach André, beschloss Georges und wählte einen ganz anderen Weg, der zur Notre Dame de Paris führte.
Alain bemerkte die Unzufriedenheit der Männer sehr wohl und konnte die miese Laune verstehen. Er sammelte die Uniform und das Gewehr vom Ufer, legte alles über sein Pferd und stieg auf. „Die Männer sind müde.", wies Alain auf die Unzufriedenheit der Soldaten hin. „Sie brauchen einen dienstfreien Tag."
„Niemand bekommt einen freien Tag, bis André gefunden wird!", giftete Oscar ihn an. Ihr Herz zerriss sich in tausende Stücke. Nein, ihr André konnte nicht tot sein, sauste es immer wieder in ihrem Kopf und am liebsten hätte sie ihren seelischen Schmerz herausgeschrien! Aber doch nicht vor den Soldaten! Nur die Hoffnung, dass André noch lebte und sie ihn bald finden würde, ließ sie nicht verzweifeln oder wütend werden. Aber wo war er? Wo konnte sie nach ihm noch suchen?
„Wisst Ihr, Oberst, einige Männer wollen schon eine Beschwerde an den König schreiben.", hörte sie Alain sagen und erinnerte sich prompt an einen Abend, als Graf von Fersen sie letztes Mal besucht hatte. Er war gegen André und wollte, dass sie sich von ihm trennte. Nur weil André ein Bürgerlicher war und sich das einfache Volk gegen die Monarchie und Aristokratie auflehnte. Vielleicht hatte Graf von Fersen aus diesem Grund etwas mit dem Verschwinden von André zu tun?
„Das ist mir egal, ich muss André finden!" Oscar stieß ihrem Pferd heftig in die Seiten und galoppierte in das Stadtteil, wo adlige und vornehme Menschen lebten.
„Wie Ihr wollt." Alain salutierte und ritt in die Kaserne.
Oscar ritt geschwind zu Graf von Fersen. Sie hatte den Verdacht, dass er vielleicht mehr wusste, aber wurde enttäuscht. „Oscar, seht ein, dass ich recht hatte.", bekundete Graf von Fersen, nachdem Oscar ihm das Verschwinden von André mitgeteilt hatte. Er war über ihren Besuch verwundert, denn sie hatte die Freundschaft zu ihm gekündigt. Oder kam sie zu ihm, weil sie ihn verdächtigte? Lächerlich! Sie sollte lieber ihre Augen öffnen und der Wahrheit ins Gesicht sehen. „Euer André hat Euch verlassen und sich dem gemeinen Volk angeschlossen!"
Oscar dachte, sie hörte nicht richtig. Zwar sah Graf von Fersen danach aus, als hätte er wirklich nichts mit dem Verschwinden von André zu tun, aber er zeigte auch kein Mitgefühl. Im Gegenteil, er versuchte erneut sie gegen André aufzubringen. Das konnte er vergessen! Nur mit Mühe gelang es Oscar ihre Rage und Verzweiflung zu unterdrücken. „Das wird André niemals tun!", erwiderte sie erbost. „Ihm ist sicherlich etwas zugestoßen und er braucht Hilfe!"
„Das glaube ich nicht.", entgegnete Graf von Fersen von sich überzeugt. „Ich bin mir sicher, er ist Euch überdrüssig geworden, weil Ihr adlig seid."
„Schweigt!", fauchte Oscar und verpasste ihm eine kräftige Ohrfeige.
„Ihr seid immer noch so blind und wollt die Wahrheit nicht sehen!" Graf von Fersen war erneut von ihrem Verhalten gekränkt und hielt sich an der brennenden Wange. „Euer André ist nicht besser wie Eure Adoptivkinder! Wisst Ihr, was sie getan haben? Der Blonde wollte mich umbringen!" Er erzählte Oscar knapp über den Vorfall mit der Schlange.
Oscar hatte genug gehört! Sie wollte nicht mehr hier bleiben. „Das war nur ein dummer Kinderstreich und die Ringelnattern sind nicht giftig!", erwiderte sie außer sich vor Wut, drehte sich um und verließ augenblicklich sein Haus. Es war ein Fehler und verlorene Zeit, zu Graf von Fersen zu reiten! Seit dem letzten Gespräch hatte er seine Meinung über André und die armen Menschen nicht geändert und womöglich würde er das niemals tun. Aber was hatte sie von ihm noch erwartet? Dass er sie unterstützt? Oder wenigstens ihr einen Hinweis gibt?
Oscar ritt auf das elterliche Anwesen, während der Tag zu Ende ging. Ein Tag ohne André und sie wusste nicht, wo sie nach ihm noch suchen sollte.
