Kapitel 59 – Das trostlose Dorf
Etwa zwei Stunden verfolgten sie den schwarzhaarigen Mann mit dem roten Halstuch und das Herz von Augustin schlug immer aufgeregter, aber nicht wegen des schnellen Ritts. Er kannte diesen Weg. Zwar wusste er nicht mehr woher, aber ihm kam alles so bekannt vor – so, als wäre er schon einmal hier gewesen. François spürte seine Aufregung und bekam auch das Gefühl, als würde er jetzt etwas entdecken, was ihm sehr bekannt war.
Ein spitzer Turm einer kleinen Kirche zeichnete sich in der Ferne ab und deutete darauf hin, dass sie zu einem Dorf ritten. Augustin erkannte diesen Turm und hätte am liebsten sein Pferd gewendet und wäre nach Hause geritten. Aber das tat er nicht und sein vierbeiniger Gefährte trug ihn weiter.
Die kleine Kirche zeigte sich immer näher, die Reiter erkannten die uralten Umrisse des Kirchenschiffs und auch das Dorf, das nur aus eben dieser alten Kirche, einem Wirtshaus und fünf Häusern bestand. Der schwarzhaarige Mann zügelte sein Pferd vor dem Wirtshaus, stieg ab und führte ihn in den nahe stehenden Stall. Also war er kein Reisender, sondern ein Einheimischer, begriffen die Zwillingsbrüder und bewogen ihre Pferde zum Stehen. Dabei hämmerte das Herz von Augustin noch wilder. Nie im Leben hatte er gedacht, dass er jemals hierher zurückkehren würde. Wie in einem Alptraum tauchten die Bilder seiner trostlosen Kindheit in seinem Kopf auf: Ein kleiner Junge, der tagtäglich verprügelt wurde, der im Winter Schnee aß und im Sommer Regenwasser aus Pfützen trank, um nicht zu verdursten und der nur Essensreste vom Tisch bekam. Nur weil er ein Niemand war und eigentlich sterben sollte. Aber er starb nicht, er lebte für seine Familie weiter und führte jetzt ein besseres Leben. Was machte er dann noch hier?
„Ich kenne diesen Ort, ich habe schon einmal davon geträumt...", flüsterte François neben ihm fassungslos. „Da waren zwei Knaben, die mich so stark schlugen, dass mir sogar nach dem Aufwachen die Nase blutete... Aber in der Wirklichkeit warst du es gewesen, von dem ich geträumt habe, nicht wahr Augustin?"
Augustin nickte zustimmend und in seiner Kehle sammelte sich ein dicker Kloß, den er nicht herunterschlucken konnte. „Ich bin hier geboren..."
François erinnerte sich an das eine Gespräch mit seinen Eltern. Sie hatten ihm seine Herkunft offenbart, wo er geboren wurde und dass sie seine wirklichen Eltern waren. Das war also das Dorf seiner Geburt und der Ort des Leidens von Augustin. „Wir sind hier geboren.", korrigierte François seinen Bruder und in dem Moment kam der schwarzhaarige Mann aus dem Stall heraus. Er bemerkte die zwei Reiter nicht und verschwand in dem Wirtshaus.
„Lass uns lieber von hier verschwinden." Augustin wollte schon sein Pferd wenden, als sich die Tür vom Wirtshaus wieder öffnete und der schwarzhaarige Mann mit einem Mädchen an der Seite rauskam. Augustin erstarrte augenblicklich, als wäre er in Stein verwandelt worden. Das Mädchen war nicht älter als er und ihr rabenschwarzes Haar hing ihr in einem langen Zopf fast bis zur Körpermitte. Anstelle eines Kleides trug sie einen alten Kartoffelsack und damit es nicht lose an ihr hing, hatte sie es mit einem Seil um die Hüften gebunden. Das Kleidungsstück reichte ihr bis zu den Knöcheln und öffnete einen Blick auf ihre abgetragenen Holzschuhe. Und nur ein von Motten zerfressenes Wolltuch bedeckte ihre Schultern und nackten Arme. Sie hüllte sich darin ein, um ihren mageren Körper vor der Kälte zu schützen. Seite an Seite mit dem Mann ging sie in die Richtung der Kirche und Augustin folgte ihr auf seinem Pferd, ohne dass es ihm bewusst war. „Anna...", formten seine Lippen tonlos und erneut sah er die Bilder aus der Vergangenheit in seinem Kopf: Der kleine Junge war in seinem Leid nicht ganz allein und einsam, wie er dachte. Ein kleines Mädchen, das nur zwei Tage älter war als er, war immer bei ihm und behandelte ihn immer wie einen Menschen. Sie war seine einzige Freundin in diesem trostlosen Dorf des Leidens.
„Kennst du sie?", hörte Augustin seinen Bruder fragen und antwortete ihm leise: „Ja. Anna ist meine Milchschwester. Ihre Mutter hat mich zusammen mit ihr aufgezogen." Bis er keine Milch mehr von der Brust nahm und an die Hebamme abgegeben wurde. Aber das sagte Augustin nicht. Zu schmerzhaft waren diese Erinnerungen, um über sie sprechen zu können.
François verstand und fragte nicht mehr weiter. Der schwarzhaarige Mann und das Mädchen an seiner Seite bogen hinter der Kirche ab und bleiben stehen. Augustin und François zügelten ihre Pferde an der Ecke der Kirche, blieben im Verborgenen und lauschten dem Gespräch der beiden zu.
„Wir warten hier auf Melisende, bis sie aus der Kirche kommt und dann gehen wir gemeinsam zu ihr.", meinte der schwarzhaarige Mann und das Mädchen nickte einvernehmlich zu.
„Ich freue mich sehr, dass du wieder hier bist, Vater.", sagte Anna in einem freundlichen Ton, aber mit trauriger Stimme. „Seit Mutter vor zwei Wochen starb, lässt mich Armand nicht mehr in Ruhe. Er will, dass ich seine Geliebte werde."
Augustin kochte vor Wut, als er das hörte und ihm war danach, zu Armand zu gehen und ihm den Hals umzudrehen. Dieser Mistkerl! Einzig die Anwesenheit von François hinderte ihn daran, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen. Sein Bruder würde ihm sicherlich folgen und Augustin wollte nicht, dass er seinetwegen in Schwierigkeiten geriet. So ähnlich wie damals in Paris, als sie beide mit Armand und dessen Bruder Georges in einer Gasse gekämpft hatten.
Der Vater von Anna schien von Armand auch nicht begeistert zu sein. „Wenn er dich nur anrührt, dann mache ich mit ihm das Gleiche, was ich mit seinem Bruder gemacht habe, als er es gewagt hatte, meine Schwester zu bedrängen!"
Diese Worte beruhigten Augustin ein wenig. Wenigstens hatte Anna einen Beschützer, der sich um ihr Wohl sorgte und sich um sie kümmerte. Aber was passierte, wenn ihr Vater nicht hier war? Solange sich Augustin erinnerte, war er selten in diesem Dorf. Meistens im Frühling und Herbst zu Saat- und Erntezeit, um den Dorfbewohnern auf den Feldern zu helfen und sich auch mit der Mutter von Anna zu treffen. Dieser Mann war mit ihr aber nicht verheiratet und trotzdem trug Anna seinen Namen, an den Augustin sich allerdings nicht mehr erinnern konnte. Aber er erinnerte sich, dass dieser Mann noch ein paar Frauen in Paris besuchte, wenn er nicht in diesem Dorf war.
„Wirst du Armand etwa eine genauso grässliche Narbe im Gesicht verpassen, wie Georges?" Die Stimme von Anna riss Augustin aus den Gedanken zurück in die Wirklichkeit.
„Und nicht nur das! Ich werde ihm die Eier abschneiden und sie ihm in die Kehle stopfen!", bekräftigte der schwarzhaarige Mann seine vorherige Aussage und wechselte sogleich das Thema. „Hör zu, meine Kleine, ich bin heute noch zusätzlich gekommen, um dich abzuholen. Ich habe auch schon mit Constance gesprochen und sie ist einverstanden, dass du für eine Weile bei ihr wohnst. Sie ist eine gute Frau und wird dir bestimmt gefallen."
„Ich danke dir, aber ich kann nicht, Vater... Die Menschen brauchen mich hier..." Ihre Ablehnung überraschte nicht nur ihren Vater, sondern auch Augustin und François. Was wollte sie in diesem trostlosen und verdammten Dorf? Wenn ihr Vater weg sein würde, dann würde sie bestimmt Armand ausgeliefert sein! Augustin war sehr nahe dran, sich einzumischen.
„Du bist genau wie deine Mutter.", sprach ihr Vater nach kurzem Schweigen weiter. „Sie wollte auch nicht nach Paris gehen und hatte auf mich hier gewartet." Dann unterbrach er sich kurz und hob eine Augenbraue. „Und auf wen wartest du?"
Anna senkte den Blick. „Du weißt auf wen ich warte, Vater. Jean wird irgendwann zurückkehren, das spüre ich... und er braucht mich."
„Denk nicht an ihn, Kleines, er hat jetzt ein anderes Leben als du und er hat dich ganz bestimmt schon längst vergessen.", widersprach ihr Vater und bei Augustin zog sich schmerzlich der Brustkorb zusammen. Anna war schon immer gut zu ihm gewesen und hatte mit ihm ihr Essen und ihr Schlafplatz geteilt, damit er nicht hungern und nicht im Stall wie die Tiere schlafen musste. Augustin bekam ein schlechtes Gewissen, weil er sie verlassen hatte, ohne sich zu verabschieden. Er wusste, dass er keine Wahl hatte, als sein Großvater ihn mitnahm, aber es schmerzte ihn trotzdem sehr.
François fühlte sich genauso unwohl wie sein Bruder und zog seine Schlussfolgerung daraus. Dieses Mädchen, Anna, musste Augustin sehr viel bedeuten... „Wer ist Jean?", wollte er wissen. „Kennst du ihn?"
Augustin konnte nichts sagen. Seine Gedanken kreisten nur um Anna. Sie hatte ihn nicht vergessen! Seine einzige Freundin wartete auf ihn und wusste nicht, dass er schon da war! Und was machte er? Er belauschte sie nur und traute sich nicht, sich ihr zu zeigen. Das war feige! Aber er war kein Feigling und er hatte an sie auch oft gedacht. Dann warum versteckte er sich vor ihr?
Angetrieben von seinen Gefühlen stieg Augustin vom Pferd herunter und ging zu den Beiden. François staunte über das Verhalten seines Bruders und machte es ihm gleich. Anna hörte Schritte und schaute sich um. Ihr Herz machte einen Satz und ihre Augen weiteten sich, als sie die zwei Knaben mit den Pferden sah. Ihr Blick konzentrierte sich jedoch nur auf einen von ihnen und ihre Wimpern wurden feucht. „Jean, bist du das?"
Augustin kam näher und blieb direkt vor ihr stehen. Seine Gefühle überschlugen sich. Anna hatte sich kaum verändert und ihre eisblauen Augen schenkten ihm noch immer diese Wärme wie in ihrer gemeinsamen Kindheit. „Ich habe dich nicht vergessen, Anna...", sagte er mit belegten Stimme und Anna warf sich ihm unverhofft um den Hals. „Oh, Jean, ich wusste, dass du zurückkommst!"
Augustin wusste nicht, was er machen sollte. Er hatte diese herzliche Umarmung von Anna nicht erwartet. „Ich..." Augustin versuchte den dicken Kloß in seiner Kehle herunter zu schlucken und seine Stimme wiederzufinden. Zaghaft nahm er Anna bei den Armen und schob sie etwas von sich. „Ich heiße jetzt Augustin... und das ist mein Bruder François." Er zeigte mit seinem Kinn auf François, um nicht noch länger in die glasigen Augen von Anna zu schauen und dabei nicht noch mehr ein schlechtes Gewissen zu bekommen.
Nur kurz schaute Anna auf den zweiten Knaben und schenkte ihm ein freundliches Lächeln. „Herzlich willkommen, François. Es ist schön, dich kennenzulernen." Das war also der Zwillingsbruder von ihrem Freund und der Melisende oft in ihren tagtäglichen Gebeten erwähnte.
„Die Freude ist ganz meinerseits." François lächelte zurück. Anna war ein hübsches und nettes Mädchen, gestand er. Es war irgendwie beruhigend zu wissen, dass Augustin eine Freundin in seiner trostlosen Kindheit gehabt hatte.
Der Vater von Anna stand die ganze Zeit baff in der Nähe und ihm klappte der Mund auf. Er konnte nichts sagen und musste vorerst seine Gedanken ordnen. Woher kam dieser Bursche auf einmal? Natürlich kannte auch er den Freund von seiner Tochter, aber im Gegensatz zu ihr hätte er ihn nicht erkannt. Jean sah jetzt wie ein rausgeputzter Edelmann aus und war mit dem verwahrlosten Jungen von einst nicht zu vergleichen. Was wollte er hier?
François dagegen rührte die Szene zwischen Augustin und Anna. Gleichzeitig begriff er, dass Augustin früher Jean hieß. Ein Name, welcher auch er nach seiner Geburt getragen hatte und der später in François geändert wurde.
Anna nahm weder ihren Vater, noch François wahr. Sie sah nur Augustin mit glasigen Augen an und lächelte matt. „Für mich bleibst du für immer Jean."
„Schön, dass du wieder hier bist, Alain, wir haben schon auf dich gewartet." Eine alte Frau, gestützt auf einen Krückstock, kam um die Ecke der Kirche und blieb wie erstarrt stehen, als sie die zwei Knaben sah. „Oh, gütiger Gott, erbarme dich meiner armen Seele und vergib mir meine größte Sünde, die ich begangen habe...", wisperte sie und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie bekreuzigte sich, ihr Körper zitterte und sie konnte nur mit Mühe und dank dem Krückstock noch auf den Beinen stehen.
François kam verwundert zu seinem Bruder. „Wer ist diese Frau?"
Augustin hätte es ihm gerne erklärt, aber er verlor endgültig die Sprache. Er fühlte sich schuldig, weil er auch diese Frau ohne Abschied verlassen hatte. Ähnlich wie Anna war diese Frau immer nett zu ihm gewesen und er hatte unter ihrem Dach wohnen dürfen. Bis er von seinem Großvater und Graf de Girodel geholt worden war...
Der Vater von Anna, den die Frau „Alain" genannt hatte, kam derweilen wieder zu sich und beantwortete François die Frage: „Das ist Melisende. Sie hat euch beide auf die Welt geholt."
Augustin nickte nur darauf zustimmend und François verstand nun alles. Das war also die Hebamme, die Augustin nach seiner Geburt von seinen Eltern versteckt hatte. Melisende bewegte langsam ihre Füße und als sie die Zwillinge erreichte, fasste sie Augustin zitternd am Arm. „Vergib mir, mein Junge, dass ich dich deinen Eltern genommen habe. Aber du hast kaum geatmet und ich dachte, du würdest nicht lange leben... Deine Mutter und dein Vater waren so gut zu uns, dass ich es nicht übers Herz gebracht habe, ihnen die Wahrheit zu sagen..."
„Ich weiß..." Augustin brannten selbst die Augen vor anlaufenden Tränen, die er krampfhaft unterdrückte. „Ihr wolltet nur das Beste für mich... Deswegen vergebe ich Euch."
Melisende fühlte sich etwas erleichtert. „Ich danke dir von Herzen. Du bist ein guter Junge, Jean." Sie schaute zu François. „Lasst uns ins Haus gehen, bevor Armand euch hier sieht. Er hegt nämlich einen großen Groll gegen euch und eure Familie."
„Das ist eine gute Idee, ins Haus zu gehen.", befürwortete Alain und zeigte auf das nahestehende Gebäude mit einem schiefen Dach, modrigen Holzwänden und zwei kleinen Fenstern. „Ihr seid gut beraten, wenn ihr mitkommt, denn ich will hier keine Kämpfe sehen."
„Wir können auch gehen und euch keine Unannehmlichkeit mehr bereiten.", schlug François vor. Zugegeben wollte er diesen Armand erst gar nicht sehen.
Augustin war mehr mit dem Vorschlag seines Bruders einverstanden und wollte gerade ihm seine Zustimmung geben, als Anna seine Hand nahm und ihn anflehte: „Nein, bitte, bleibt. Du bist gerade gekommen, Jean und es gibt so vieles zu erzählen. Bitte, Jean, ich bitte dich, nur für ein paar Minuten..."
Augustin geriet in einen Zwiespalt und haderte mit sich selbst. Einerseits wollte er von hier so schnell wie möglich fort, aber andererseits konnte er die Bitte von Anna nicht ablehnen. Alain nahm ihm die Entscheidung schnell ab. „Wenn du ablehnst und meiner Kleinen das Herz brichst, dann breche ich dir alle Knochen."
„Wir bleiben.", entschied sich Augustin. Nicht die Drohung von Alain bewog ihn dazu, sondern er hatte noch einige Fragen bezüglich Armand. Er schaute zu seinem Bruder. „Ist das in Ordnung für dich?"
„Natürlich ist das in Ordnung für mich!" François seinerseits hatte zugestimmt, weil er mehr über die Vergangenheit von Augustin erfahren wollte.
„Eine gute Entscheidung.", hörten die Brüder Alain sagen und sie begaben sich zu fünft zum Haus von Melisende. Die Pferde banden sie draußen an einem Pfosten und betraten das Haus.
François war noch nie in einem Bauernhaus gewesen und schaute sich neugierig um. Seine Neugier verwandelte sich in Bestürzung, denn die innere Ausstattung war hier ganz anders als er es auf dem Anwesen der de Jarjayes kannte. Seine Augen erfassten nur einen großen Raum, getränkt vom schwarzen Ruß und Gerüchen nach undefinierbaren Pflanzen, Kräutern und anderen, unbekannten Sachen. Die innere Ausstattung bestand nur aus einem Tisch, ein paar Stühlen, einem Bett, einer Kochstelle und einem kleinen Vorratsraum. Und der Boden bestand aus einem Gemisch aus Erde und Stroh. So viel Armut hatte François noch nie gesehen und ihm schmerzte das Herz. Wie konnten die Menschen hier nur überleben? Und warum half ihnen niemand?
Augustin dagegen kannte diese Armut nur zu gut. Ihm kamen so viele Erinnerungen durch den Kopf geschossen und die meisten von ihnen waren keine Guten. Melisende bat sie alle zum Tisch. „Ich habe nur nichts anzubieten.", entschuldigte sie sich.
„Wir wollen auch nichts.", sagten die Brüder im Chor und Augustin fügte noch hinzu: „Ich möchte wissen, was nach meinem Fortgang passiert ist."
