Liebe, Lüge, Wahrheit
Kapitel 62 – Falsche Schlange
Im Kamin knisterte das Feuer und wärmte den kleinen Raum auf, wo Oscar und Graf von Fersen sich gegenüber in gepolsterten Stühlen saßen. Zwischen ihnen stand ein kleiner Tisch und zwei Gläser wurden gerade mit rubinrotem Wein gefüllt. „Danke, Sophie.", sagte Oscar, als die Großmutter ihres Geliebten die Weinflasche auf dem Tisch abstellte und mit einem Korken zumachte. „Du kannst gehen und wenn du André siehst, schicke ihn zu mir."
„Jawohl, Lady Oscar." Sophie verließ die Gemächer und bemerkte nicht ihren Enkel, der sich wie ein Schatten hinter der Tür und im Schutz des dunklen Korridors versteckte. Eigentlich wollte er zu Oscar gehen, aber etwas hielt ihn auf. Er wüsste gerne, was der Graf wirklich von Oscar wollte und das würde funktionieren, wenn die beiden von seiner Anwesenheit nichts mitbekamen. André betrat zwar den Salon, aber blieb hinter dem Eingang zum Kaminzimmer von den beiden unentdeckt.
Graf von Fersen nahm sein Glas und lächelte Oscar an. „Da dienen wir beide in Versailles.", begann er mit dem Gespräch. „Ihr dem Garderegiment und ich in der Armee. Und dennoch haben sich unsere Wege seit Jahren nicht mehr gekreuzt. Wisst Ihr, wann wir uns das letzte Mal begegnet sind, Oscar?"
Auch Oscar nahm ihr Glas, aber trank nichts. Mit dem Grafen alleine zu sein, bescherte ihr ein mulmiges Gefühl. Wo blieb nur André? Sie hätte ihn gleich mitnehmen sollen, als sie mit ihrem Gast hierher ging. „Ich bin mir nicht ganz sicher.", meinte sie auf seine Frage und schaute lieber in die gelbroten Flammen des Feuers im Kamin.
Fersen hob sein Glas. „Wie auch immer, Ihr seht wirklich bezaubernd aus." Ja, Oscar sah in der Tat bezaubernd aus. Ihr blondes, lockiges Haar verdeckte ihren schlanken Hals und lag ihr wie dunkles Gold über die Schultern. Der Ausschnitt ihres Hemdes entblößte nicht viel von ihrer feinen Haut, aber von Fersen wusste, wie sie unter ihrem Hemd aussah. Er erinnerte sich noch deutlich, was er einstmals an dem Jagdhaus am See beobachten konnte. Die Leidenschaft und Liebe, die sie mit André teilte, passte gar nicht zu dem hartherzigen und disziplinierten Soldaten, den sie tagtäglich vorgab. Aber das gehörte nicht hierher. Heute kam der Graf wegen einem anderen Grund zu ihr. „Man erzählt viel von Euch. Zum Beispiel die Geschichte mit dem schwarzen Ritter."
„Dabei hatte ich mich geirrt." Oscar schaute noch immer in das Feuer im Kamin und fragte sich, wann dieses Gespräch zu Ende sein würde. „Der Mann, den wir festgenommen haben, war leider der Falsche." Zeitgleich dachte sie an François und Augustin und was der Graf ihr bezüglich der Strafe empfohlen hatte. Warum nur? Was bewog ihn, so etwas Grauenhaftes zu empfehlen? Wenn es der Herzog de Germain wäre, der das gesagt hätte, der vor einiger Zeit einen kleinen Jungen auf einer Straße von Paris erschossen hatte, wäre Oscar nicht überrascht. Aber von Fersen? Von ihm hatte Oscar solche Worte niemals erwartet.
„Tja, ich schätze, es gibt viele Dinge auf dieser Welt, für die es nicht sofort eine Lösung gibt.", hörte sie den Grafen sagen und entriss ihren Blick vom Kamin. Oscar wollte nicht mehr über den schwarzen Ritter reden und lenkte das Gespräch auf ein anderes Thema: „Sagt, Graf von Fersen, wie steht es mit Euch? Wie ist es Euch in letzter Zeit ergangen?"
„Was soll ich sagen?", antwortete Graf von Fersen zwar mit einem Lächeln, aber mit gewissem Kummer in seinen grauen Augen. Er litt noch immer wegen der unmöglichen Liebe zu der Königin von Frankreich. „Von mir gibt es eigentlich nichts Neues zu berichten. Nichts Erfreuliches und auch nichts Trauriges." Er verstummte und sah wieder im geistigen Auge, wie Oscar und André in dem Jagdhaus am See die Leidenschaft verlebten. Das gefiel ihm nicht. Er musste Oscar bezüglich André warnen und deshalb war er heute hier. „Oder doch, wartet. Neulich ist mir doch etwas Lustiges passiert. Als ich auf einem dieser Bälle war, wie auf dem, wo ich zum ersten Mal Marie Antoinette begegnet bin, habe ich Euren André mit einer wunderschönen Dame tanzen sehen. Sie sah Euch sehr ähnlich. Man sagte mir, sie sei eine ausländische Gräfin. Aber dann dachte ich mir, was machte André dort und mir kam sofort die Antwort. Ihr ward es Oscar. Ich bin mir ganz sicher, dass Ihr das ward. Egal wie sehr Ihr es versucht, Ihr könnt Eure Erziehung nicht verleugnen."
Oscar starrte ihn erst einmal entgeistert an. Graf von Fersen hatte sie mit André tanzen sehen? Oscar bemühte sich um Beherrschung. „Ihr scheint eine gute Beobachtungsgabe zu haben, Graf, aber vielleicht habt Ihr Euch geirrt."
Von Fersen glaubte ihr nicht und stellte sein Glas beiläufig auf dem Tisch ab. Sein Lächeln erstarb auf seinen Lippen, seine Augenbrauen zogen sich zusammen und der Ton in seiner Stimme klang rau. Das, was er vor hatte zu sagen, würde Oscar sicherlich nicht gefallen, aber er musste es tun, um ihr die Augen bezüglich André zu öffnen. „Ihr solltet Euch von André und euren Findelkindern trennen."
„Wie bitte?" Oscar glaubte, sie hörte nicht richtig und wurde wütend. Was ging in dem Grafen vor? Hastig stellte sie ihr Glas auf dem Tisch ab und erhob sich aufgewühlt. „Wisst Ihr überhaupt, was Ihr da von mir verlangt? Ich will sofort den Grund wissen!"
Natürlich wollte sie das. Von Fersen hatte mit dieser Reaktion gerechnet und stand auch von seinem Platz auf, um mit ihr auf gleicher Augenhöhe zu sein. Er schaute Oscar fast mitleidig an und klärte sie schonungslos auf. „Wisst Ihr das etwa nicht? Das Volk ist gegen die königliche Familie. Die Menschen aus niederen Schichten verpönen und verachten die Königin und die Adligen. André und Eure Findelkinder gehören zu diesem gemeinen Volk und können Euch schaden. Das seht Ihr doch selbst, wie sie Euch bestehlen. Versteht Ihr? Ihr dürft ihnen nicht trauen."
Nun verstand Oscar, warum von Fersen ihr empfohlen hatte, Augustin und François auszupeitschen. Aber das rechtfertigte nicht, was er von ihr verlangte! Der Graf musste bestimmt verrückt geworden sein! „Eure Anschuldigungen sind falsch und absurd!", zischte Oscar außer sich vor Wut und zeigte mit ihrem Arm auf den Ausgang des Zimmers. „Verlasst auf der Stelle mein Haus!"
Von Fersen war zu tiefst gekränkt. Er hatte zwar gewusst, dass ihr die Wahrheit nicht gefallen würde, aber mit dem Rauswurf hatte er nicht gerechnet. Sein Stolz war verletzt. Jedoch einfach so zu gehen, ohne sie zu überzeugen, stand nicht auf seinem Plan. „Das sind die Tatsachen, Oscar, und ich will Euch nur von den falschen Menschen warnen! Seht Ihr denn nicht, was die Bürgerlichen anstellen? Sie hassen die königliche Familie, überfallen die Adligen und versuchen die geregelte Ordnung der Monarchie zu zerstören! Deswegen solltet Ihr Euch von André und Euren Findelkindern trennen und sie am besten vor die Tür setzen. Sie verdienen Eure Barmherzigkeit und Güte nicht."
Oscar kochte innerlich vor Wut und ihr Körper zitterte. Sie senkte ihren Arm und ballte ihre Hände zu Fäusten. „Habt Ihr Euch überhaupt gefragt, warum die Menschen aus dem niederem Volk das machen? Sie sind verzweifelt, sie sterben an Hunger und Krankheiten! Augustin und François haben nur deshalb gestohlen, weil sie einer Freundin helfen wollten, die nichts zu Essen hat!"
„Ihr seid zu gutgläubig, Oscar.", unterbrach von Fersen sie. „Ihr dürft niemanden von ihnen vertrauen, weil sie Eure Gutmütigkeit ausnutzen!"
„Hinaus!", fauchte Oscar und bereute, dass sie jemals Mitleid und Mitgefühl zu diesem Mann empfunden hatte. Was war nur aus Graf von Fersen geworden? War er etwa so sehr von der Liebe zu Marie Antoinette geblendet, dass er das Leiden von einfachen Menschen nicht mehr sah? „Die Freundschaft ist zwischen uns somit beendet." Es war zwar nicht leicht für sie, dies zu äußern, aber das war richtig so, spürte Oscar und fügte noch hinzu: „Ich will Euch nie wieder sehen!"
Wie konnte Oscar nur so blind sein, dachte von Fersen verbittert und zerknirscht. „Ihr steht auf der falschen Seite, Oscar. Eines Tages werdet Ihr es verstehen, aber dann wird es zu spät sein.", sagte Fersen bevor er ging. Auch er übersah André in der Dunkelheit des Salons und verließ überstürzt und frustriert den Salon von Oscar. Wie konnte sie ihm das antun?! Anstelle ihm zu glauben, kündigte sie ihm auch noch die Freundschaft! Wie töricht und unverschämt von ihr!
Graf von Fersen passierte den langen Gang, eilte die Treppe herunter und steuerte draußen geradewegs auf den Stall zu. Der Tag ging zur Neige und die Sonne war bereits untergegangen. Nur schemenhaft konnte von Fersen erkennen, wie sein Pferd von zwei Stallburschen zu ihm geführt wurde. In ihnen erkannte der Graf die Findelkinder von Oscar, was ihn zornig machte. Egal, was Oscar ihm gesagt hatte, er würde trotzdem bei seiner Meinung bleiben. „Wenn ihr Oscar schadet, dann werde ich euch eigenhändig auspeitschen!", knurrte er und entriss grob einem der Burschen die Zügel seines Pferdes.
Augustin und François sagten nichts dazu und grinsten nur hämisch. Als Graf von Fersen die Zügel des Pferdes an sich gerissen hatte, war Augustin hinter ihm geschlichen und hatte ihm eine Schlange über die Schulter gelegt. Der schwedische Graf bemerkte in seinem Zorn zuerst nichts. Erst als die Schlange sich um seinen Arm wickelte und zu der Hand kroch, mit der er die Zügel hielt, sah er sie und erstarrte. Sein Pferd geriet in Panik und nahm Reißaus. Durch diese ruckartige Bewegung fühlte sich die Schlange bedroht und biss in die Hand des Grafen. Von Fersen schrie und warf sie zu Boden. „Hilfe! Ich wurde gebissen, holt sofort den Arzt!"
Niemand reagierte auf seine Hilferufe. Er hatte Recht, das gemeine Volk wollte den Adel vernichten, dachte Graf von Fersen wütend und wünschte, Oscar wäre jetzt hier, um zu sehen, wozu ihre Findelkinder fähig waren! Anstelle ihm zu helfen, fing François das Pferd ein, beruhigte ihn mit sanftem Streicheln und brachte es zurück. Augustin hob dagegen unerschrocken die Schlange, vergewisserte sich, dass sie noch lebte und schenkte von Fersen ein grimmiges Lächeln. „Ihr werdet nicht sterben, Graf. Eine Ringelnatter ist nicht giftig und lebt ganz friedlich in unserem Gartenteich."
„Was?" Von Fersen war empört. Hieß das etwa, dass er nicht sterben würde?
„Ihr habt gehört, Graf.", bestätigte François die Aussage seines Bruders und reichte von Fersen die Zügel seines Pferdes, das sich mittlerweile beruhigt hatte. „Diese Schlangenart lebt bei uns im Gartenteich und hat noch niemandem geschadet. Also braucht Ihr keinen Arzt und könnt getrost nach Hause gehen."
„Ihr widerwärtigen Bastarde!", knurrte von Fersen, riss die Zügel seines Pferdes an sich und stieß François rüde zur Seite. „Ihr werdet für eure Machenschaften bezahlen, das schwöre ich euch! Ihr werdet die Monarchie niemals stürzen können!", spie er verachtend, während er in den Sattel stieg und in Windseile davon ritt.
„Jetzt sind wir ihn los." Augustin lachte und François stimmte mit ein, aber gleich darauf wurden sie ernst. „Wir bringen die Schlange zurück und schauen, was die Eltern machen.", empfahl Augustin und ging mit François zu dem Gartenteich zurück.
Oscar fiel in ihren Sessel zurück und vergrub ihren Kopf in den Händen, als Graf von Fersen fort war. Was war nur mit ihm geschehen, fragte sie sich zum wiederholten Male. Früher verhielt er sich neutral gegenüber den Menschen aus dem dritten Stand, aber jetzt hatte er sich verändert und betrachtete sie als Bedrohung für die königliche Familie und den Adel. Aber sah er denn nicht, dass das Volk verzweifelt war und die Unterdrückung durch die Monarchie nicht mehr aushalten konnte? Von Fersen wollte ihr angeblich die Augen öffnen, aber selbst verschloss er seine Augen vor den gravierenden Umständen der armen Menschen. Hungersnot und Elend verbreiteten sich rasanter, als noch vor zehn Jahren und es würde kein Ende nehmen. Es musste unbedingt etwas unternommen werden, sonst würde noch schrecklichere Dinge passieren! Oscar seufzte tief. Egal, was Graf von Fersen zu ihr gesagt hatte, sie würde für die Rechte der Menschen kämpfen und auf gar keinen Fall würde sie sich von ihrem André und ihren Kindern trennen. Als hätte sie ihre Gedanken laut ausgesprochen, hörte sie leise Schritte hinter sich und es wurde ihr wärmer ums Herz. Das konnte nur ihr Geliebter sein. Warum aber war er nicht schon früher da gewesen?
„Ich habe alles gehört.", sagte er mit sanfter Stimme, aber mit Unbehagen in seinem Herzen. Oscar war noch immer wütend und es war nicht ratsam, sie in dieser Verfassung in den Arm zu nehmen und zu trösten. André wäre gerne schon früher eingeschritten und hätte Graf von Fersen bei seiner abscheulichen Rede gestört, aber das konnte er nicht. Der Graf hätte bestimmt nicht weiter geredet und aus diesem Grund hatte André das Gespräch weiter beobachtet, ohne entdeckt zu werden. Jetzt war von Fersen fort und er brauchte sich nicht mehr zu verstecken.
Oscar richtete sich auf und schaute zu ihm. „Wenn du alles gehört hast, warum kommst du dann erst jetzt aus deinem Versteck heraus? Ich habe dich so sehr neben mir gewünscht." Sie mühte sich um einen beherrschten und ruhigen Tonfall, aber ihr stechender Blick verriet, dass sie verärgert war. Oder waren das die Reste der Wut wegen von Fersen?
André umrundete den Sessel, ging vor seiner Geliebten in die Knie und nahm sachte ihre Hände an sich. „Verzeih, dass ich mich nicht eingemischt habe. Ich dachte, wenn ich mich einmische, dann wird der Graf seine wahren Absichten nicht äußern."
Oscar gestand sich ein, dass ihr André womöglich recht hatte. Graf von Fersen hätte in seiner Anwesenheit bestimmt nichts offenbart und sie auch nicht versucht zu überreden, sich von André und von ihren Kindern zu trennen. „Ich vergebe dir." Oscar nahm ihre Hände aus den seinen, legte sie ihm um seinen Nacken und ihr Körper glitt dabei vom Stuhl auf seinen Schoß. „André, ich habe mich gerade entschieden. Ich werde den Dienst beim königlichen Garderegiment quittieren."
Damit hatte André nicht gerechnet und es überraschte ihn sehr. „Aber wieso, Oscar?"
„Weil ich nicht mehr kann." Oscar zog sich näher an ihn heran und lehnte sich an ihn. „Ich will nur mit dir und unseren Kindern zusammen sein. Ohne Verstecken und Lügen. Als Frau und Mutter mit euch ein normales Leben führen."
„Das bist du doch, Oscar." André umarmte sie zärtlich, spürte wie ihr Körper erzitterte und strich beruhigend über ihren Rücken. „Du führst ein normales Leben. Du bist meine Frau, wir haben zwei wundervolle Kinder und einen Adoptivsohn. Verstecken und lügen tust du auch nicht. Zumindest nicht du alleine. Wir machen das alle, weil wir eine Familie sind und wir halten zusammen."
„Ach, André, mein geliebter André..." Oscar schob sich etwas von ihm und schaute ihm tief in die Augen. Ihre Wimpern wurden feucht und obwohl sie es nicht wollte, rollten die ersten Tränen herab.
André wischte ihr die Tränen weg von den Wangen. „Weine nicht, meine liebste Oscar, es wird alles gut."
„Ich weine doch gar nicht, es sind Tränen der Freude, die du mir gerade wiedergegeben hast." Oscar wischte die Tränen mit ihrem Ärmel weg.
„Aber ich habe doch gar nichts gemacht."
„Doch, mein André, das hast du und ich danke dir dafür." Oscar lächelte und gab ihm einen Kuss, der immer inniger wurde.
