50. Das mit den Gefühlen ist so eine Sache. – TEIL 2
Was zuvor geschah…
Nachdem Jacob gemeinsam mit Jess den Cullens die Nachricht über die Auflösung des Vertrages überbracht hat, wollen diese die Nachricht nicht ohne weiteres hinnehmen. Edward, Emmet und Bella wagen sich auf das Gebiet der Wölfe, weil sie sich von Seth Antworten erhoffen – doch stattdessen werden sie gejagt und vertrieben. Jess nimmt die Verfolgung auf, scheinbar um für Sam Informationen zu sammeln – denn Jacob ist nicht eingeweiht und verlangt nach einer Erklärung.
„Wo bist du gewesen?", umschiffte ich meine Gedanken vorerst, doch mein Herzschlag ließ sich davon nicht im Zaum halten. Zu meiner Überraschung antwortete sie ganz offen: „Ich habe meine Befehle befolgt. Sicherlich hat Sam mit dir darüber gesprochen." Ja, nur leider viel zu spät. Und nach meiner Meinung zu fragen, bevor etwas passieren konnte, war auch zu viel verlangt. Vielleicht wusste sie auch, dass ich nicht informiert war, aber es war ihr egal.
„Ich bin nicht damit einverstanden, was da gelaufen ist. Erklär mir das."
Sie sah mich an, als erwartete sie, dass ich so eine Frage an Sam richtete, statt an sie. Und tatsächlich könnte ich ihn dasselbe fragen – vermutlich würde ich das auch tun. Um ihm mit gehobener Faust anzudrohen, was er zu befürchten hatte, wenn er noch einmal etwas von ihr verlangte.
„Im Gegensatz zum Rest meiner Geschwister habe ich die Möglichkeit, mehr zu erfahren. Sam hat mir vorgeschlagen, bei der nächstbesten Gelegenheit die Verfolgung aufzunehmen, um ihre Schritte vorherzusehen. Ich weiß, was sie denken und was passieren wird, aber dessen bist du dir ja bewusst."
Ich schaffte es, den Raum zu betreten, im Versuch, ihr zugleich sowohl körperlich als auch geistig näher zu kommen: „Jess, wir beide wissen, dass du dich damit in Gefahr gebracht hast. Und ich will wissen, warum." Sie begann, Besteck zu holen und es neben den Tellern zu platzieren. Als wollte sie ihre Antwort hinauszögern, um es für mich qualvoller zu machen. Jedoch wirkte sie so unbeirrt dabei, dass ich ihr das nicht vorwerfen konnte.
„Wir alle versuchen, unsere Familie zu beschützen. Jemand muss sich opfern, für das größere Wohl. Ich musste nicht einmal wirklich etwas opfern und kann damit trotzdem sehr hilfreich sein."
Irgendwie traute ich dieser Ruhe nicht. Dieser kühlen Überlegtheit und ihrer plötzlichen Aufopferungsnummer. Es wäre ja nicht das erste Mal, dass sie sich in Gefahr begab, um etwas aus Jasper Whitlock herauszubekommen. Als sie erneut am Tisch ankam, wollte ich ihren Arm festhalten, aber sie entzog ihn mir ruckartig: „Jess, was soll das?" Sie starrte mich an mit Blicken, die einen bei lebendigem Leib durchbohren konnten.
„Glaubst du, ich merke es nicht? Glaubst du, ich verstehe nicht, was du da vorhast?"
Sie antwortete leise, fast schon drohend: „Wenn du Einwände hast, dann rede mit Sam. Nicht mit mir."
„Woher kommt dieses Verhalten? Was willst du von ihm?", fragte ich, weil es mich inzwischen ehrlich interessierte. Sie musste doch begreifen, dass ich ihr kein Wort glaubte?
„Ach, daher weht der Wind."
Sie trieb mich in den Wahnsinn mit ihrem Geruch, dessen Präsenz mir plötzlich wieder bewusst wurde. Diesmal erwischte ich sie am Ellenbogen und hielt ihrer jetzt eher zaghaften Gegenwehr stand. Worum genau ging es hier eigentlich?
„Ich sorge mich um dich.", machte ich ihr klar: „Und ich bin nicht einverstanden mit Sams Entscheidung. Ich weiß, dass du das mit einem Hintergedanken machst. Aber was erhoffst du dir? Reicht es nicht, dass er dich fast umgebracht hat?" Unsere Gesichter kamen sich viel näher als beabsichtigt. Und ich konnte ihr kaum widerstehen. Ich sah sie vor mir, wie auf dieser Lichtung. Ihre Haut in Licht gebadet, ihre gelben Augen strahlend. Und mit einem Blick in ihr Gesicht wusste ich, sie sah es auch.
Ich ließ ihren Arm los und versuchte, mich zu sammeln. Diese Spannung zwischen uns gefiel mir nicht und ich wusste nicht recht, wie damit umzugehen war.
Ich zwang mich, zu sagen: „Als dein Alpha befehle ich dir, dass du nichts dergleichen wieder tun wirst. Du gehorchst mir und niemand anderem."
Es fiel mir schwer, so mit ihr zu reden. Und ich konnte mir nicht einmal sicher sein, dass sie auch wirklich verpflichtet war, diese Anweisungen zu befolgen. Um ehrlich zu sein: ich wusste mir nicht anders zu helfen.
Als ich ihr halb den Rücken zuwandte, waren bereits mehrere Augenblicke vergangen: „Ich bräuchte da eventuell deine Hilfe bei einer Sache."
Jess hatte meine Schulter abgetastet und dabei keine schmerzende Stelle ausgelassen. Und ich hätte schon ahnen können, dass sie keine gute Nachricht für mich hatte. Immerhin war nichts neu oder wieder gebrochen – es war schlichtweg nicht komplett verheilt.
„Ich muss wissen, was dort passiert ist.", sagte ich, nachdem sie mir eine weitere Woche Ruhe verordnet hatte. Einen Moment sahen wir uns stumm an.
„Sie waren zu dritt. Edward, Emmet, Bella. Jemand der redet, jemand der verteidigt, und jemand, der uns vom Angriff abhalten soll. Als ich kam, war es bereits passiert und sie hatten die Grenze überquert.", erzählte sie und weckte mit ihrem plötzlichen Redefluss nur weitere Fragen in mir: „Seth und Leah waren gut, sie haben nicht gezögert und waren sehr effektiv. Bella scheint ein Bein verloren zu haben, aber da sie in der Lage waren, es mitzunehmen, gehe ich davon aus, dass sie bald wieder laufen wird."
„Warte – was?"
Bella war verletzt worden? Beim ersten Aufeinandertreffen nach der Vertragsaufhebung gab es bereits Verwundete? Wenn ich ehrlich war, hatte ich mir das alles ein wenig anders vorgestellt. Allein die Tatsache, dass Sam diese Information scheinbar nicht als wichtig genug erachtet hatte, war schon eine einzige Frechheit.
„Das waren eure Befehle, nichts weiter."
Ich stöhnte, und es war ausnahmsweise nicht aufgrund von Schmerzen. Ich hatte die Situation unterschätzt. Es war nicht abzusehen, was daraus noch werden sollte. Im Gegensatz zu Sam war ich nicht für all das bereit, was da kommen würde.
„Und dann?"
Jess machte einen verständnisvollen Gesichtsausdruck, der nichts davon besser machte, dann fuhr sie fort: „Ich habe sie nicht eingeholt, falls du das wissen willst. Aber ich war ihnen auf den Fersen, immer weit genug entfernt, um unentdeckt zu bleiben. Mein Ziel waren ihre Gedanken und über deren Hintergrund bin ich mir noch nicht so sicher."
Sie stand auf und obwohl ich gar nicht wusste, ob sie nun gehen wollte, fasste ich nach ihrer Hand. Ihre Finger glitten durch meine, warm und schlank. Wie zu oft wanden sie sich aus meinem Griff.
„Ich werde sie weiterhin beobachten müssen. Diese Angelegenheit kann sich sonst schnell zu unserem Nachteil entwickeln.", rechtfertigte sie ihren Leichtsinn und ihre Neugier gleichermaßen.
„Tut mir leid, aber das werde ich dir nicht überlassen. Zumindest nicht allein. – Was hast du herausfinden können?"
Jess schüttelte den Kopf und wirkte so hilflos dabei, dass ich am liebsten noch einmal nach ihrer Hand greifen wollte: „Nichts."
„Was, nichts?"
Sie zuckte mit den Schultern und sagte dann noch einmal: „Gar nichts! Sie wissen praktisch nichts über mich. Nichts, abgesehen von den allgemeinen Dingen… Es ist, als hätte Jasper kein Wort verloren. Als würde er sie komplett im Dunkeln darüber lassen, was er weiß, und ich kann mir einfach keinen Grund ausmalen, warum. Ich verstehe es nicht." Sie sah mich an, und ich fühlte mich in meinem Glauben nur bestätigt. Es tat ihr nicht gut, sich dieser Aufgabe anzunehmen. Sie verstrickte sich damit selbst nur weiter in ihr Gedankenkarussell um die Vergangenheit.
„Ich muss wissen, welchen Plan er verfolgt.", beharrte sie, und bevor ich es verhindern konnte, zog ich sie in eine Umarmung. Für einen kurzen Augenblick schien sie sich zu beruhigen. Ihr Herzschlag war stark und schnell, aber ihre Atemzüge wurden langsamer.
Immer mehr wurde mir bewusst, in welche Gefahr wir alle hier gebracht hatten. Nicht nur den Stamm an sich, auch und gerade Jess wurde praktisch zur Zielscheibe…was ganz in Jaspers Sinne war.
„Wir finden es heraus.", murmelte ich in ihre Haare und bemerkte, dass wir uns immer noch hielten. Langsam löste ich mich daraufhin von ihr, aber nur halb. Unsere Gesichter waren so nah beieinander, dass die Erinnerung an ihren Geschmack meine Sinne vernebelte. Ich wollte der Versuchung widerstehen, aber vor allem wollte ich ihr nachgeben. Wollte ihr das Haar hinter das Ohr streichen, ihre Wange streicheln… Und ich wollte sie küssen.
Ich wollte es so sehr, dass ein nervöses Prickeln in mir aufstieg und ich mich ihr entgegen drängte. Aber sie nahm meine Hände und führte sie von ihr weg. Langsam, aber bestimmt drückte sie mich zurück in den Stuhl.
„Ich hole noch etwas Verbandszeug von drüben."
Und dann ließ sie mich einfach dort sitzen.
‚Drüben', das war die Garage, in der sich ein Teil der notwendigen Utensilien befand. Tatsächlich gab es dort weit mehr, als nur Schraubzubehör. Selbst einige von Billys alten Sachen hatten seit unserer Renovierung den Weg dorthin gefunden. Einerseits, weil ich sie nicht die ganze Zeit vor mir haben wollte, andererseits, weil Jess viel zu ordentlich war, um es im Haus herumliegen zu lassen. Da sie selbst fast nichts besaß, war das für sie aber auch nie eine schwierige Aufgabe gewesen.
Dafür, dass die zur Rumpelkammer degradierte Garage direkt neben dem Haus war, ließ sie sich aber erstaunlich viel Zeit. Oder aber, sie versuchte erneut den Abstand zwischen uns zu bringen, den ich ihr heute schon mehrmals verwehrt hatte. Ich…konnte einfach nicht aufhören. Ich konnte es nicht dabei belassen, dass sich da etwas entwickelt hatte, das beinahe greifbar für mich war. Es fühlte sich an, als hätte jemand etwas angeknipst, wie man das Licht anmachte. Von jetzt auf gleich, unvermittelt. Und vor allem: wenn man es einmal angeschaltet hatte, wie sollte ich es wieder zum Erlöschen bringen?
Ich lehnte mich zum Fenster und linste nach draußen. Ich hatte keinen guten Blickwinkel und hätte genauso gut gegen eine Wand starren können.
Also stand ich auf, ging gemütlich zur Küche und befüllte mir ein Glas Wasser. Als ich es mir an die Lippen setzte, vernahm ich eine Stimme, die nicht Jess gehörte. Sie war sehr leise und unverständlich, und ich hätte nur raten können, wem sie gehörte. Ich trank einen Schluck, stellte das Glas auf den Tisch und näherte mich dem Ursprung des Gesprächs. Auf halbem Weg im Flur begann Jess zu antworten.
„Was willst du?"
Nicht nur ihre Worte, sondern auch die Schärfe, die in ihrer Stimme lag, versetzten mich in Alarmbereitschaft. Ich hatte wirklich keinen Bedarf mehr an Besuchern, egal wer es auch sein mochte. Und sie scheinbar ebenso wenig.
So geräuschlos wie möglich bewegte ich mich durch den Flur, und bereits nach wenigen Schritten ereilte mich eine ebenso unerfreuliche wie unglaubliche Erkenntnis. Ich war mir sicher, weil ich diesen Geruch nur zu gut kannte, der mich all die Jahre begleitet hatte. Süß und lieblich und inzwischen eine pure Folter für mein Geruchsempfinden.
Renesmee hatte zweifellos die dümmste wohl mögliche Entscheidung getroffen.
