2. Und das sollte heißen: Lass mich in Ruhe, ich will die Überraschung in deinem Gesicht sehen! – TEIL 1
Was zuvor geschah…
Sie gab mir noch einen Kuss auf die Wange und flüsterte mir ein fast unhörbares ‚Bis bald.' ins Ohr, bevor sie sich mit Edward auf den Weg machte. Ich stöhnte, schloss die Tür von außen und rannte in den Wald, wo ich mich auszog und meine Hose mit dem Gummiband zusammenknotete. Dann verwandelte ich mich und nahm das Päckchen ins Maul. Ich grub meine Krallen tief in die Erde und schoss davon.
Nicht viel später kam ich auch schon an meinem Ziel an, bei Emily. Ich verwandelte mich zurück und zog mich an, dann ging ich hinein. Wie zu erwarten, traf ich auf Sam und dessen Rudel. Im Vorbeigehen schlug ich ihm als Begrüßung leicht auf die Schulter. Ohne eine Erwiderung bekommen zu haben, setzte ich mich auf den freien Stuhl neben Paul, der abgelenkt an einem Muffin knabberte, und warf ein paar fragende Blicke in die Runde. Es war ungewöhnlich ruhig hier, war ich denn der einzige mit guter Laune? Irritiert sah ich wieder zu Paul, dem Einzigen, der sich überhaupt bewegte. Seine geschundenen Finger wirkten tiefrot neben der dunklen Schokoladenglasur. Ich sah genauer hin, konnte aber nicht feststellen, um welche Verletzung es sich genau handelte. Aber bestimmt war er das gewesen. Diese Anwandlungen hatte er erst seit ein paar Tagen, doch je mehr Zeit verging, umso schlimmer wurden sie. Rachel war für zwei Wochen zu einer Freundin ihres damaligen Studiums gefahren und hatte ihn hier sitzen gelassen. Zwar hatte er gebettelt wie ein kleiner Hund und ihr einen riesigen Haufen Geschenke gemacht, um mitkommen zu dürfen, aber sie hatte sich nicht weich klopfen lassen und schließlich musste er dann doch hier bleiben. Ehrlich gesagt fand ich es mehr als nur grausam, ihm das anzutun, sie wusste ja eigentlich ganz genau, wie sehr er sie vermissen würde. Doch irgendwo konnte ich ihre Entscheidung auch verstehen, was sollte man denn mit jemandem wie Paul – halb nackt, verfressen und immer zum Ausrasten bereit – in einer Stadt mit wer-weiß-wie-vielen Menschen auf den Straßen? Er tat mir wirklich leid, wie er so da saß, ich konnte nachvollziehen, was es für ihn bedeuten musste. Sein Glück, dass sie nur für eine Woche dort bleiben wollte.
Als ich mich wieder von ihm abwandte, entdeckte ich tatsächlich auch Evan, der in der hintersten Ecke saß und ebenfalls mampfte. Von seinem Besuch war ich allerdings ziemlich überrascht, denn normaler Weise hing er immer mit seinen Freunden aus der Schule, denjenigen, die das Wolfs-Gen nicht trugen, irgendwo herum. Bestimmt zog es ihn wegen Paul hierher, denn die zwei standen sich sehr nahe, verhielten sich immer wie kleine Kinder, wenn sie den jeweils anderen sahen. Es musste ihn schmerzen, Paul so niedergeschlagen zu erleben. Evan war einer der Neuen, denn genauso wie ich, hatte auch Sam Neuankömmlinge. Sie alle hatten sich aufgrund der Ankunft der Volturi verwandelt, jeder von ihnen in einem Alter, in dem ich noch auf Bäume geklettert war und Mädchen nervig gefunden hatte. Bis vor einem Jahr waren sie noch zur Schule gegangen, was genau sie jetzt machten, wusste ich nicht.
Irgendwann, als mich diese Ruhe zu langweilen begann, stützte ich meine Ellenbogen auf dem Tisch ab und beugte mich leicht zu Sam: „Ich hab gehört, du hast die Kontrollgänge abgeschafft. Gibt's dafür einen besonderen Grund?" Er ließ seine Mundwinkel zucken, sah mich aber noch immer nicht an.
„Es gibt niemanden, der sich unerlaubt hier herumtreiben könnte. Das waren deine Worte, Jacob, also dachte ich, wir festigen den Frieden noch etwas mehr.", ließ er monoton verlauten, was meine Augenbrauen nach unten schnellen ließ.
„Ich hab gesagt, dass sich kein Streit suchender Vampir mehr hier verirrt und wie man sieht, habe ich Recht.", - Sam warf mir kühle Blicke zu, weshalb ich schnell fortfuhr –: „Ich wollte nur sagen, dass ich dir zustimme. Diese Entscheidung hätten wir schon vor einiger Zeit treffen können." Sam nickte, während die anderen aussahen, als hätten sie gar nichts mitbekommen.
„Sag mal, weißt du zufällig, wo sich Embry gerade rum treibt? Er sagte gestern, er hätte heute was vor."
„Er hat ein Vorstellungsgespräch in Seattle, er wird heute sicher nicht mehr wiederkommen."
Seattle? Embry und ein Job in Seattle? Das klang nach einer wirklich handfesten Gelegenheit, ein Leben außerhalb dieses Wolfs-Daseins zu beginnen. Sobald er zurück war, würde ich ihn sofort danach ausfragen müssen! Ich bedankte mich bei Sam für die Auskunft, schnappte mir einen Muffin und machte mich dann wieder auf den Weg nach Hause. Ich würde Nessie erst morgen wieder sehen können und der heutige Tag hatte definitiv noch viel zu viele Stunden übrig, die ich ohne sie verbringen musste. Jetzt war also die perfekte Zeit um mein Motorrad wieder fit zu machen.
Kaum war ich angekommen, rief mich Billy jedoch ins Haus. Er stand mit seinem Rollstuhl in der engen Küche und streckte mir den Telefonhörer entgegen. Fragend nahm ich ihn entgegen.
„Renesmee.", formte er mit seinen Lippen, auf welchen ein geteiltes Lächeln weilte. Obwohl schon so viele Jahre vergangen waren und Billy bereits ziemlich vergraut war, wusste ich noch immer nicht, wie er dazu stand, dass ich mich auf einen Halbvampir geprägt hatte. Wir hatten nie über dieses Thema gesprochen, sei es weil ich kaum Zeit mit ihm verbrachte oder weil er nicht mit mir darüber reden wollte. Ich wusste schlicht und einfach nicht, was er von Nessie hielt. Aber wollte ich es denn überhaupt wissen? Es war mir egal, was andere dachten. Andererseits hätte ich zu gern einmal wieder offen und ehrlich mit meinem Vater versprochen. Doch er ließ mich allein, bevor ich ihm gestikulierend verständlich machen konnte, dass ich mich mit ihm unterhalten wollte, wenn das Gespräch vorüber war.
„Nessie?", fragte ich in die ungewisse Tiefe der Leitung. Da war ein Grummeln am anderen Ende, vielleicht auch Getuschel, aber ich konnte es nicht genau sagen.
„Hi Jake.", sagte sie und sofort entspannte ich mich, weil ich ihre beruhigende Stimme hörte: „Es tut mir leid, aber ich muss dir für morgen absagen. Ich hoffe, das geht in Ordnung? Es ist nur für diesen einen Tag und wenn du willst, kann ich Abends noch vorbei kommen…"
„Klar.", unterbrach ich sie, obwohl ich das ganz und gar nicht in Ordnung fand: „Es ist ein Ausflug, stimmt's? In die Berge?" Jagen. Das war es, was sie ausdrücken wollte. Dieser Punkt war der wohl einzige in unserer Beziehung, der noch ungeklärt war. Nessie sprach ganz und gar nicht gern darüber, weil es ihr mir gegenüber unangenehm war, auch wenn ich ihr jedes Mal versicherte, dass mir das nichts ausmachte. Sie war eben zur Hälfte Vampir.
„Ähm…ja. Ich – ich hoffe, dass ich am frühen Abend zurück bin…", fügte sie leise hinzu: „Wie ist es mit um sieben? Geht das bei dir?" Ich stöhnte auf, weil es mit ihr immer wieder dasselbe war. Meine kleine, süße Nessie…
„Für dich hab' ich immer Zeit, das weißt du doch."
Sie lachte schüchtern und mir ging das Herz auf, so schön klang das: „Okay, dann bis morgen Abend. …ich liebe dich." Diese drei kleinen Wörter, die so schnell ausgesprochen waren und dennoch so viel bedeuteten.
„Ich dich doch auch."
Mit einem zufrieden klingenden Seufzer legte sie auf und ich hing das Telefon ein. Dann verließ ich das Haus und machte mich in meiner Werkstatt an mein Motorrad, welches ich zuallererst vor den roten VW schob, um mehr Platz zu haben. Beides weckte verloren geglaubte Erinnerungen in mir, gute und schlechte. Aber nichts, woran ich jetzt denken wollte. Also sah ich es mir näher an. Und hätte ich nicht gewusst, dass es nicht mehr so funktionstüchtig war wie es sein sollte, wäre ich jetzt aus allen Wolken gefallen: Abgenutzte Reifen; eine verrostete Kette; fehlender Bremsbelag; ein rissiger Benzinschlauch und natürlich viele Lackschäden. Obwohl ich nicht sicher war, dass ich noch genug Geld und Ersatzteile besaß, um es zu reparieren, fing ich einfach an. Die Kette musste zuerst dran glauben.
