Mit wissenschaftlichen Grüßen, Doktor Futurus, Teil 1
Die Sirene heulte schrill durch die Gänge der Academy. Türen flogen auf. Hastige, polternde Schritte. Stimmen schrien über den Flur. „Los, Leute, zieht eure Uniformen an! Die Umbrella Academy wird wieder bei einem Einsatz gebraucht!" „Hat jemand meine Uniform gesehen? Mom! Ich kann meine Uniform nicht finden! Sie hängt nicht in meinem Schrank!" „Was ist denn das für ein Lärm hier? Kann den mal einer abstellen?" „Man, ein Einsatz, echt jetzt? Ich kann jetzt nicht, bin gerade beschäftigt!" „Ich bin gerade noch am Klo, sagt Dad, ich brauche noch eine Minute!"
Ohne Ankündigung wurde Fives Zimmertür mit einem Ruck aufgerissen und Luther stand, bereits in voller Superheldenmontur, mitten im Raum und starrte ihn mit einem ungeduldigen Blick an. „Wo bleibst du denn, Five? Die Sirene gilt auch für dich! Los, zieh dich um, Dad wartet bestimmt schon in der Halle auf uns!", wies er ihn an, und bevor Five genervt die Augen verdrehen konnte, war sein Bruder schon wieder hinausgestürmt, die Türe sperrangelweit offen. Five seufzte schicksalsergeben. Dass Luther immer so übereifrig sein musste! Er trug die Nummer 1 wirklich zu Recht, denn keines seiner Geschwister war so dienstbeflissen wie er. Und niemand ließ sich so leicht von ihrem Vater für dessen Zwecke missbrauchen ...
Sorgfältig klemmte Five einen Einmerker zwischen die Seiten seines Buches – komplexe Wahrscheinlichkeitsrechnung von Dr. Dr. Burg – und schlug es seufzend zu. Seine Lektüre würde warten müssen, bis sie wieder von ihrem Einsatz zurück waren. Er stand auf und lief zu seinem Kleiderschrank, in dem alles fein säuberlich auf Bügeln verstaut war. Widerwillig schlüpfte er in seine Uniform und eilte die Treppe hinunter, wo die anderen sich schon versammelt hatten.
Ihr Vater stand, reisefertig und mit einer goldenen Stoppuhr bewaffnet, ungeduldig in der Eingangshalle. „Vier Minuten und 37 Sekunden seit Beginn der Sirene!" blaffte er. „Das ist mehr als enttäuschend für eine Einrichtung, die sich der Verbrechensbekämpfung verschrieben hat! Beim nächsten Mal erwarte ich mehr Disziplin und weniger Trödelei! Das gilt für jeden von euch!" Er warf einen grimmigen Blick in die Runde. „Merkt euch eins! Das Versagen eines Einzelnen ist das Versagen der gesamten Gruppe! Und ich dulde kein Versagen in meinem Hause!" Mit diesen Worten scheuchte er sie zur Tür hinaus und in den Teambus hinein, der vor den Türen der Academy zur Abfahrt bereitstand.
„Zum technischen Museum, Pogo, wir sind in Eile!" wies Sir Reginald Hargreeves den Affen an, der hinter dem Steuer saß. „Zum technischen Museum, sehr wohl, Sir!", antwortete dieser und trat aufs Gaspedal. Geschickt manövrierte er den Bus durch die engen Gassen des Wohngebiets hinaus in den dichten Verkehr der Hauptstraße.
Auf ihrer Fahrt zum Museum grübelte Five darüber nach, was sie wohl dieses Mal am Einsatzort erwarten würde. In der Vergangenheit hatte die Umbrella Academy die örtliche Polizei bei einer Vielzahl von Einsätzen unterstützt: Bankraub, Entführungen, Drogenhandel, Diebstähle, sogar vermisste Haustiere hatten sie schon wiedergefunden. Und so langsam wurde er die ständigen Missionen leid, er wollte seine Zeit mit sinnvolleren Sachen verbringen. Lesen zum Beispiel. Oder seine Kräfte trainieren.
Five fuhr sich mit beiden Händen durch die schwarzen Haare. Es war beileibe nicht so, dass er nicht mit zu den Missionen wollte, weil er Angst vor den Verbrechern und ihren Waffen hatte, er ... langweilte sich eher. Jeder Einsatz lief nach demselben öden Muster ab: Ein oder eine ganze Reihe von Dummköpfen übertrat die Grenze des Gesetztes und die Umbrella Academy war dann dafür zuständig, die Arbeit zu übernehmen, bei der die Polizei schamlos versagt hatte. Das hieß normalerweise: Kriminelle aufspüren, sie stellen und den Besitzers das Gestohlene zurückbringen. Es war eine reine Sisyphusarbeit und sie waren unglücklicherweise diejenigen, die den Stein den Berg immer wieder hochrollen mussten. Weil jeden Tag ein neuer Schwachkopf einen ach so genialen Plan für sein Verbrechen ausgetüftelt hatte. Wenn es denn wenigstens einmal herausfordernd wäre! Aber nein. Die Kriminellen gingen bei ihren Coups immer gleich stumpf und schwachsinnig vor. Ihre Motive waren so durchschaubar, ihre Vorgehensweise vorhersehbar. Es war wirklich zum Verzweifeln! Five fuhr sich erneut durch seine Haare und wünschte sich, es würde nur einmal zu einem richtigen Duell zwischen ihm und einem genialen Schurken kommen, sein Geist brauchte einen echten Gegner, eine wahre Herausforderung.
Der Bus bog um eine letzte Rechtskurve, fuhr auf die Faradaystraße auf, die direkt zum Museum führte, und kam wenige Sekunden später mit quietschenden Reifen vor dem Gebäude zum Stehen. Ohne auf einen von ihnen zu warten, öffnete Sir Reginald Hargreeves die Beifahrertür, setzte beim Aussteigen seinen Hut auf den Kopf und verschwand dann eiligen Schrittes Richtung der flatternden Absperrbänder.
Pogo, der immer noch hinter dem Steuer saß, wandte sich zu ihnen um: „Kinder, ihr wisst, was zu tun ist! Aussteigen und Sammeln!" Dann verließ er selbst den Bus und schob von außen die Schiebetüren für sie auf. Five und seine Geschwister machten sich bereit, aus dem Fahrzeug zu klettern, wobei es zwischen Luther und Diego wie üblich zu einigem Geschubse und Gedrängel kam.
„Hey, hör auf, mich zu schubsen, Diego! Du bist nicht zuerst dran, sondern ich! Ich bin die Nummer 1 von uns beiden!"
„Die Nummer 1 im Arschkriechen bei Dad vielleicht! Lass mich durch, hier wird ein echter Superheld gebraucht und kein trottelhafter Riesenaffe!"
„Wen nennst du hier Riesenaffe? Pass bloß auf du, sonst werde ich dir ...!"
„Kinder, hört sofort auf mit dem Unsinn!", mahnte Pogo mit strengen Worten. „Ihr steigt alle aus, einer nach dem anderen, wenn ich bitten darf!"
Five warf Pogo einen dankbaren Blick zu. Dass sich Luther und Diego immer wie Kindergartenkinder benehmen mussten! Oder wie wild gewordene Zootiere ...
Nachdem sie es endlich geschafft hatten, sich im Kreis aufzustellen, eilte schon die hochgewachsene Gestalt ihres Vaters in Begleitung eines Polizisten herbei. Der dicke Beamte hatte sichtlich Mühe, mit dem Stechschritt von Sir Reginald Hargreeves mitzuhalten, und watschelte keuchend hinter ihm her. Das Hemd seiner Uniform spannte sich über dessen enormen Bauch und trotz des kühlen Wetters standen ihm kleine Schweißperlen auf der Stirn. Rund um seine Achselhöhlen konnte Five dunkle Flecken ausmachen.
Ein höhnisches Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. Kein Wunder, dass die Polizei auf ihre Hilfe angewiesen war, sie waren ja offenbar nicht mal in der Lage, ordentliches Personal finden. Five warf einen raschen Seitenblick auf seine Geschwister und stellte verwundert fest, dass Diegos Augen glänzten. Seine Haltung war kerzengerade, die Arme waren wie die eines Soldaten hinter seinem Rücken verschränkt. Wollte er etwa so bei ihrem Vater Eindruck schinden? Er folgte Diegos Blicklinie. Nein ... Es war nicht ihr Vater, den Diego im Visier hatte, sondern der Polizist. Er zog diese Show für ihn ab! Träumte sein schwachsinniger Bruder etwa von einer Karriere bei der Polizei?
Five wurde jäh aus seinen Gedanken gerissen, als die autoritäre Stimme ihres Vaters über den Platz schallte: „Umbrella Academy, aufgepasst und hergehört! Das ist Detektiv ...? Wie war gleich Ihr Name?" Sir Reginald Hargreeves Stimme hatte einen desinteressierten Ton angenommen. Er sah runter zu dem Polizisten, der die Hände in die Knie gestemmt hatte und lauthals nach Luft rang.
„Detektiv ... Detektiv Ortiz. Und ich bin hier, weil ... warum in Gottes Namen mussten Sie so rennen? Er hustete ein paar Mal pfeifend und sah anklagend zu ihrem Vater auf. „Dafür bestand wirklich...¡Dios mío!, meine Lungen brennen ... keine Notwendigkeit, der Einbrecher ist bereits über..."
„Detektiv Ortiz ist hier, um uns mit den Einzelheiten des Falls vertraut zu machen", unterbrach ihn Sir Reginald Hargreeves wirsch. „Dieser Fall ist anders gelagert als alle bisherigen, mit denen wir es zu tun hatten. Aus diesem Grund erwarte ich höchste Konzentration sowie Kooperation von euch! Von euch allen! Habe ich mich klar und deutlich ausgedrückt?" Er taxierte jeden von ihnen ein paar Sekunden lang.
Five vermochte seine neu erwachte Begeisterung kaum zu zügeln. In dem Augenblick, in dem das Wort „anders" gefallen war, waren seine Ohren gespitzt gewesen und er war mehr als begierig darauf, die Details zu erfahren. Möglicherweise war heute ja sein Glückstag und der Fall erwies sich als unerwartet kompliziert?
Detektiv Ortiz, dessen Atmung sich inzwischen wieder beruhigt hatte, erklärte: „In letzter Zeit kam es zu einer Serie an Einbrüchen, immer in wissenschaftliche Institute oder Museen. Dabei ist unklar, wie der Täter in die Gebäude hinein gelangt ist. Es gibt keine Einbruchsspuren und die Befragungen der Nachtwächter verliefen alle ins Leere. Niemand hat etwas gehört oder den Täter gar bei seinen Einbrüchen gesehen. Dazu kommt noch, dass höchst seltsame Dinge gestohlen wurden." Ortiz machte eine Pause, um einen kleinen Notizblock aus seiner Hemdtasche hervorzuholen. „In dieser Woche waren es ... ein antikes Teleskop und..." Er kratzte sich nachdenklich am Kopf. „Wenn ich das hier richtig notiert habe, ein altes Messgerät für Be... Bec... Becquerel? Was auch immer das ist."
Five seufzte innerlich. Besaß dieser Mensch nicht einmal den Hauch von Bildung? Bevor er darüber nachdenken konnte, ob es taktisch geschickt war, öffentlich einen Polizisten zu belehren, sprudelte sein Wissen schon aus ihm heraus: „Becquerel ist die Einheit, in der man Radioaktivität im internationalen Einheitssystem, genannt SI, misst. Marie Curie hat zusammen mit ihrem Mann und Henri Becquerel mit einem solchen Gerät die Existenz der Strahlung nachgewiesen. 1898, um genau zu sein." Es folgte eine kurze Pause, dann fügte er hinzu: „Sir".
Ortiz sah ihn verwirrt an. „Äh, ja, die ... Wissenschaftlerin, richtig, wo war ich eben stehen geblieben? Ach, ja. Das Ungewöhnliche an den Diebstählen ist, dass der Einbrecher nicht nur etwas entwendet hat, sondern auch etwas am Tatort hinterlassen hat. Eine Autogrammkarte sozusagen" Wir fanden auch heute eine im technischen Museum. Sie lag genau an der Stelle, wo das gestohlene Exponat, ein Modell der Explorer 1 Rakete, ausgestellt war.
Umständlich zog er eine zerknautschte Plastiktüte aus seiner Jackentasche hervor, in der eine kleine rechteckige Karte steckte. „Ist schon die dritte diese Woche. An jedem Tatort befand sich eine dieser Visitenkarten. Eine Frechheit, wenn man so darüber nachdenkt. Was denkt der Einrecher eigentlich, wer er ist? Ein Schurke aus einem Comic?" Detektiv Ortiz setzte eine verärgerte Miene auf und reichte das Beweisstück Sir Reginald Hargreeves, der es unter seinem Monokel genau in Augenschein nahm.
Fives Interesse war endgültig geweckt. Endlich eine Mission ganz nach seinem Geschmack! Mit einem Dieb, der sich offenbar nicht nur für Wissenschaft begeisterte, sondern auch Hinweise an seinen Tatorten hinterließ! Sein Herz schlug schneller vor Begeisterung. Das klang endlich nach einer richtigen Herausforderung! Einer, die den Geist und nicht nur die Muskeln beanspruchte!
Nach eingehender Überprüfung blickte Sir Reginald Hargreeves von der Karte auf. „Ich nehme an, Sie haben die Druckereien im Umkreis bereits prüfen lassen?"
„Das haben wir und keine erhielt den Auftrag, solche Karten zu drucken. Der Einbrecher muss sie selbst hergestellt haben. Leider fanden wir auf keiner auch nur die Spur eines Fingerabdrucks. Der Kerl weiß offensichtlich, was er tut. Auch wenn seine Zielobjekte wirklich seltsam sind. Ich meine, es gibt viel wertvollere Ausstellungsstücke als die, die er gestohlen hat. Was will also mit dem Krempel? Auf dem Schwarzmarkt werden sie kaum Geld einbringen, da es fast alles Kopien und keine Originale sind.
Außerdem ist es höchst verwunderlich, dass er nicht versucht hat, an das Geld zu kommen, das sich im Safe des Museums befindet. Dort werden üblicherweise die Tageseinnahmen von den Eingangskassen aufbewahrt, bevor sie am Ende der Woche zur Bank gehen. Aber das Geld ist noch da. Ebenso hier wie an den anderen Tatorten. Nicht ein Cent fehlt, das haben meine Kollegen überprüft. Wer bricht denn, ohne Spuren zu hinterlassen, ein, stiehlt irgendwelche wertlosen Ausstellungsstücke, aber lässt das Geld liegen? ¡Tonto!, eh? Wie sagt man... ein Dummkopf!"
„Darf ich die Karte mal sehen?" Five streckte seinem Vater ungeduldig die Hand entgegen. Dieser zog entrüstet die Augenbrauen hoch, reichte sie ihm aber, ohne dabei Fives fordernden Ton zu monieren. Gierig nahm er die Visitenkarte an sich und untersuchte sie akribisch.
Sie war von einem samtenen dunkelgrün, fast schon schwarz. Die gesamte linke Seite nahm die Zeichnung eines Atommodells ein und rechts stand in großen, leuchtend blauen Lettern: „Mit wissenschaftlichen Grüßen, Doktor Futurus."
Five lächelte verstohlen, der Einbrecher war kein Dummkopf, wie Detektiv Ortiz annahm, er war ein verdammtes Genie! Die Visitenkarten glichen einer Einladung zu einem Duell und Five Hargreeves war mehr als bereit, diese anzunehmen. Er allein würde in diesem Zweikampf antreten, wenn es hieß: ein Genie gegen ein anderes. Und er würde als Sieger hervorgehen.
