Kapitel 54 – Eine Familie
Dunkelheit und unerträglicher, brennender Schmerz – das war das Einzige, was André empfand. Und auch, dass er wieder in seinem Bett lag. Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, seit er vom schwarzen Ritter am Auge verletzt und wie er mit Hilfe von Oscar in das Anwesen der de Jarjayes gebracht wurde. Ebenso erinnerte er sich nicht mehr daran, wie später der Arzt kam und ihn versorgte. Er erinnerte sich nur an die besorgten Rufe seiner Geliebten, dass er sie nicht verlassen sollte, dass es ihm bald wieder gut gehen würde und dass der Arzt schon unterwegs war. Die erschrockene Stimme von seiner Großmutter nahm André dagegen nicht mehr wahr – er blendete sie einfach aus. Seine Gedanken galten nur Oscar und ihren gemeinsamen Kindern. Wie sollte es jetzt nur weitergehen?
Doktor Lasonne hatte seine Wunde gereinigt, ihm auf der linken Gesichtshälfte einen Verband angelegt und angeordnet, ihn nicht ohne seine Erlaubnis abzunehmen. Sophie sagte, dass sie alles befolgen würde und geleitete ihn hinaus. André hörte alles, was gesprochen wurde und sogar das heftige Schniefen und Schluchzen von seiner Großmutter, aber nicht mehr die Stimme von Oscar oder seinen Kindern. Nun gut, die Kinder wurden höchstwahrscheinlich fortgeschickt, damit sie das viele Blut und seine grässliche Wunde nicht sehen brauchten. Das konnte André verstehen. Aber wo war Oscar? Er spürte doch mit jeder Faser seines Körpers, dass sie sich in seinem Zimmer befand! Warum sagte sie nichts mehr?
Wie ein glühendes Eisen jagte ihm der schneidende Schmerz übers Gesicht, als er versuchte, seine Augen zu öffnen. Den darauffolgenden Schmerzenslaut erstickte er sofort im Keim und probierte es, nur sein gesundes Auge zu öffnen. Das funktionierte schon etwas besser. Zwar mühselig und mit viel Anstrengung, aber er schaffte es.
„André!" Endlich hörte er ihre Stimme und wie sie an sein Bett kam. Sie flüsterte, aber die Sorge und Angst um ihn war nicht zu überhören. „Mein André... das ist alles meine Schuld..."
„Nein, Oscar...", krächzte André leise. Wie kam sie darauf, dass es ihre Schuld war? Seine Sicht klärte sich und er sah ihr schönes Gesicht deutlicher. Oscar hatte sich zu ihm vornüber gebeugt und ihre blauen Augen schimmerten glasig, aber sie weinte nicht. Ihre schmalen Lippen versuchten ihm ein Lächeln zu schenken, aber scheiterten. André hob langsam seine Hand und berührte sachte ihre Wange mit seinen Fingerspitzen. „Meine Oscar... das war meine Entscheidung und du weißt, ich werde alles für dich tun..."
„Ach, André, sag doch nicht so etwas..." Oscar nahm seine Finger, hauchte einen Kuss darauf und schmiegte ihre Wange an seiner warmen Handfläche. „Ich schwöre dir, ich werde diesen Dieb fangen und ihn für alles büßen lassen, was er dir angetan hat."
„Bitte nicht..." André wollte nicht, dass seine Geliebte ohne ihn die Jagd auf den schwarzen Ritter fortsetzte. „Nicht ohne mich... Versprich es mir..."
Das war doch nicht sein Ernst, oder? Sie konnte doch nicht tatenlos zuhause herumsitzen, während der Schurke weiterhin frei herumlief und seine Diebstähle fortsetzte! Er musste unbedingt geschnappt werden und sich für alles verantworten, was er angerichtet hatte! Vor allem, weil er André verletzt hatte. Ihren André – den Mann, den sie liebte, der ihr zwei bezaubernde Kinder geschenkt hatte und mit dem ihr ganzes Leben verbunden war. Für ihn würde sie alles tun. Für ihn und für ihre gemeinsamen Kinder. Warum wollte er dann nicht, dass der schwarze Ritter so schnell wie möglich im Gefängnis saß? Traute André ihr etwa nicht zu, dass sie es alleine, ohne ihn, schaffen würde? Oder fürchtete er, dass sie erneut in die Falle gelockt werden und verletzt würde? Das wäre möglich, denn sie war seine Liebe und sein Leben. Also gut, dann würde sie bei ihm bleiben. Oscar widerstrebte es, aber ihm zu Liebe gab sie nach. „In Ordnung, ich verspreche es. Ich werde warten, bis es dir wieder gut geht."
Jetzt zauberte André ein kleines Lächeln. „Ich liebe dich.", formten seine Lippen.
„Ich liebe dich auch." Oscar berührte kurz seine Lippen mit den ihren und dann richtete sie sich auf. Sophie konnte jederzeit zurückkehren oder die Kinder würden hereinplatzen und dann würden sie ihr Geheimnis preisgeben müssen. Draußen wurde es heller und die ersten Sonnenstrahlen fielen ins Zimmer ein. Oscar schaute zum Fenster hin. Sie hatte nicht bemerkt, wie schnell die restliche Nacht seit Andrés Verletzung vergangen war. „Es beginnt zu dämmern."
Der sanfte Blick von André ruhte nur auf Oscar. Er merkte zwar wie es im Zimmer heller wurde, aber das war ihm egal. Hauptsache sie war da, bei ihm, hielt seine Hand und trug nicht einmal einen Kratzer. „Ich bin froh, dass mein Auge verletzt wurde und nicht deines, Oscar."
Wie bitte? Hatte sie das richtig gehört? Schlagartig schaute Oscar ihren Geliebten wieder an, ihr Herz hämmerte besorgt und ihre Hand hielt fester die seine. „Ach, André, sag nicht so etwas..."
„Ich sage es, weil ich dich so unheimlich liebe, Oscar, und weil es der Wahrheit entspricht." André ließ widerstrebend ihre Hand los und versuchte sich mit Hilfe von seinen Ellenbogen und allen Schmerzen zum Trotz aufzusetzen, um seine Oscar besser sehen zu können.
Oscar half ihm selbstverständlich. Sie merkte an seinem kurz verzogenen Gesicht, dass er Schmerzen hatte, aber sagte nichts. André wollte keine Mitleid sehen, besonders nicht von ihr. Das gewährte ihm Oscar und als er saß, trat sie vom Bett etwas zurück, weil sie Schritte und Stimmen außerhalb des Zimmers vernommen hatte.
Die Zimmertür ging in wenigen Augenblicken auf und Sophie mit François und Marguerite kam herein. „Papa!" Marguerite kletterte sogleich auf das Bett und schmiegte sich wie ein kleines Kätzchen vorsichtig an ihren Ziehvater. François hatte ihr erklärt, was geschehen war, als sie aufgewacht und nach ihren Zieheltern gefragt hatte. Nach der Erklärung hatte sie die ganze Zeit um den Mann, der ihr den Vater ersetzte, gebangt. Ähnlich wie François oder Augustin, würde sie ihre leiblichen Eltern womöglich niemals kennenlernen und wenn Marguerite sich überlegte, wollte sie das auch nicht. Sie machte das wie Augustin und François. Sie sah in André und Oscar ihre Eltern. Der große Verband, der fast die gesamte linke Gesichtshälfte von André verdeckte, erschreckte sie deswegen auch nicht. Hauptsache er lebte, war bei ihr und hielt sie in seinen Armen. Sie nahm ihn einfach so wie er war. „Ich hatte Angst um dich.", murmelte sie in sein Hemd.
André umarmte sachte ihren zierlichen Körper und strich über ihr weiches, braunes Haar. „Hab keine Angst, meine Süße, es wird wieder alles gut." Ihre Nähe wärmte sein Herz und obwohl er noch immer Schmerzen hatte, verübte dieses Geschöpft eine heilende Wirkung auf ihn wie ein wohltuender Balsam. Ähnlich wie seine Oscar vor wenigen Augenblicken es mit ihrer Anwesenheit und zärtlichen Kuss getan hatte. Nur dieses verdammte Geheimnis quälte ihn, dass Marguerite nicht wusste, wer ihre wahren Eltern waren. Im Gegensatz zu François. Nach dem Geständnis am See vor fünf Jahren hatten sie nicht mehr darüber gesprochen, aber das war auch nicht nötig. Dieses eine Mal hatte ausgereicht und François bewahrte deren Geheimnis tief in seinem Herzen, genauso wie seine Eltern. André schaute seinem Sohn in die Augen und las dort Freude und Erleichterung. Für André war das beruhigend zu wissen, dass sein Sohn vor seiner Verletzung auch keine Angst hatte und ihn so annahm wie er war. Er schenkte ihm ein Lächeln.
Sophie rührte diese Szene das Herz. Obwohl sie auf ihren Enkel oft schimpfte, sorgte er doch gut um die Findelkinder, musste sie zugeben. Aus ihm wäre bestimmt ein guter Vater geworden. Wie gerne hätte Sophie ihn schon längst verheiratet und mit eigenen Kindern gesehen! Aber zu ihrem Leidwesen würde das niemals passieren, weil André nur Augen für Lady Oscar hatte. Sophie beschloss irgendwann ihren Enkel darauf anzusprechen und kehrte aus ihren Gedanken in die Realität zurück. „Du hast uns einen großen Schreck eingejagt, mein Junge! Wie konntest du uns so etwas antun?"
„Das war nicht meine Absicht, Großmutter.", entschuldigte sich André und entriss seinen Blick von François und von Oscar, die beieinander vor seinem Bett standen und die er abwechselnd anschaute.
Sophie nahm zwar seine Entschuldigung zur Kenntnis, aber ermahnte ihn weiter, als wäre sie nicht unterbrochen worden. „Doktor Lasonne sagte, wenn du deinen Verband nicht abnimmst, bis er das erlaubt, dann wird dein Auge gesund. Also befolge das was er gesagt hatte und mache keinen weiteren Unsinn!"
„Ich werde mir Mühe geben, Großmutter."
„Also wird Papa wieder gesund?", fragte Marguerite, schob sich etwas aus der Umarmung ihres Ziehvaters und schaute hoffnungsvoll zu der alten Haushälterin.
Sophie wurde von dem herzzerreißenden Blick des Mädchens weich und lächelte beruhigend. „Mit Gottes Hilfe ja, Schätzchen." Sie wusste nicht warum, aber dieses Kind erinnerte sie an Oscar und André in diesem Alter noch mehr als François oder gar Augustin es früher getan hatten. Während François sie manchmal im Verhalten nur an André und Augustin nur an Oscar erinnerte, als diese Kinder waren, vereinte Marguerite beide in sich. Warum das so war, konnte sich Sophie nicht erklären und kam irgendwann zum Schluss, dass die Findelkinder ihre Adoptiveltern in allem nachahmten, um so zu sein wie sie.
Oscar beobachtete die ganze Zeit diese Szene mit einem schmerzlichen Stechen im Herzen. Wenn nicht dieses große Geheimnis um die Kinder und der Liebe zwischen ihr und André wäre, dann wären sie eine glückliche Familie! Dreizehn Jahre schwiegen sie schon darüber und bis auf François und Graf de Girodel, wusste niemand über dieses Geheimnis. Das war ein Fluch und Segen zu gleich. Fluch, weil sie nur im Verborgenen ihr Familienglück genießen konnten und Segen, weil sie auf diese Weise zusammen blieben. Aber wie viele Jahre würde das noch dauern?
Alles hatte sein Ende und je länger die Wahrheit verschwiegen wurde, desto gravierender würden die Folgen sein, wenn alles ans Licht kam. Oscar schüttelte sich. Nein! Sie würde es nicht zulassen, dass ihr kleines Familienglück zerstört würde und André, François und Marguerite ein Leid widerfahren würde! Wenigstens war François fast erwachsen und würde sich mit Augustin um Marguerite kümmern, falls ihren Eltern etwas zustoßen sollte. Apropos Augustin... Oscar schaute sich im Zimmer um und runzelte die Stirn – der Junge glänzte mit seiner Abwesenheit. „Wo ist eigentlich Augustin?", wollte sie von ihrem Sohn wissen.
François seufzte tief. „Er ist auf dem Turm.", meinte er betrübt. Seit gestern war Augustin nicht mehr wieder zu erkennen und dessen Wut und Verzweiflung spürte François förmlich in sich. Sein Gefährte, nachdem er vom Arzt nach Hause zurückgekehrt war, wollte niemanden sehen und verschanzte sich auf dem Turm. François hatte mit ihm gesprochen, aber keine Antwort von ihm bekommen. Jedoch ahnte er den Grund dafür und machte sich große Sorgen um seinen Freund, der für ihn wie ein Bruder war.
„Der Junge ist seit gestern nicht mehr derselbe!", sprach Sophie gleich nach François. „Er hat sogar Euer Pferd genommen, Lady Oscar, um den Arzt schnell holen zu können."
„Wie bitte?" Oscar konnte kaum glauben, was sie da hörte. Wie hatte Augustin das überhaupt geschafft? Ihr weißes Pferd ließ niemanden außer ihr und André auf seinem Rücken reiten! Nun gut, François war auch schon das eine oder andere Mal auf ihm geritten, aber er war damals ein Kind und das Pferd hatte womöglich gespürt, dass er ihr und Andrés Sohn war. Das wäre eine gute Schlussfolgerung, weshalb François noch nie von Oscars Pferd abgeworfen wurde. Aber Augustin? „Ich werde mit ihm wohl reden müssen!", beschloss Oscar.
„Das wolltest du gestern doch sowieso machen, Mutter.", erinnerte François sie und Oscar bewegte ihre Füße schon Richtung Tür. „Dann werde ich es jetzt nachholen!", sagte sie und verließ das Zimmer. François überlegte, seiner Mutter zu folgen, aber entschied sich dagegen. Vielleicht hatte sie bessere Chancen von Augustin eine Antwort zu bekommen als er.
„Was ist mit Augustin überhaupt los?", fragte André. Er konnte genauso wenig glauben, dass der Junge Oscars weißes Pferd genommen hatte und auf ihn geritten war. Nun gut, das Tier hatte zu ihm Vertrauen gefunden und ließ sich von Augustin streicheln, füttern und satteln, aber das Reiten auf ihn würde er doch niemals zulassen! Nur Oscar und er, André, konnten ihn reiten. Vielleicht auch François, weil er schon als Kind auf ihm geritten war, aber doch nicht Augustin! Hoffentlich würde Oscar mit dem Jungen in Ruhe reden können und den Grund erfahren.
„Augustin fühlt sich wegen mir schuldig und denkt, dass ihr auf ihn deswegen böse seid.", hörte André seinen Sohn sagen und verstand den Grund. Der Junge wollte anscheinend seinen Fehler korrigieren und hatte deshalb das Pferd von Oscar genommen, weil es das Schnellste im Stall war. Augustin wollte sich nur beweisen und seinen Platz in der Familie finden, die nicht seine war. André tat der Junge leid und die altbekannten Schuldgefühle stiegen in ihm wieder hoch. Hoffentlich würde Oscar Zugang zu ihm finden und mit ihm reden können, ohne wütend zu werden.
Oscar erklomm die letzten Stufen und kam auf den Turm hinaus. Sofort sah sie Augustin. Er stand mit dem Rücken zu ihr, lehnte sich an die Steinmauer und sah konzentriert in die Ferne – so, als würde er dort nach etwas suchen. Er hörte die Schritte, aber rührte sich nicht von der Stelle. Oscar blieb neben ihm stehen und betrachtete sein junges Gesicht von der Seite. Augustin reichte ihr fast bis zu der Schulter und war ein hübscher Junge geworden. Der Wind wehte ihm die dunkelblonden Locken von der Stirn und der Schläfe, aber er reagierte nicht darauf. Im Allgemeinen zeigte er keine Emotionen oder wie er sich gerade fühlte. So, als würde er sich von der Welt verschließen und alles mit sich selbst ausmachen. Oscar schmerzte das und erinnerte sie an sich selbst. Geprägt durch die Erziehung ihres Vaters war sie genauso ernst, unzugänglich und hartherzig gewesen. Bis sie die Liebe kennenlernte. André hatte in ihr diese weiche Seite erweckt, ihr seine bedingungslose Liebe geschenkt und war ihr Mann geworden. Zwar waren sie noch nicht verheiratet, aber dafür mit Leib und Seele für immer vereint. Oscar bereute keinen einzigen Tag mit ihm. Sie liebte ihn und ihre beiden Kinder aus tiefstem Herzen. Augustin war zwar nicht ihr Sohn, aber sie wollte ihn auch nicht mehr missen. Zumal sie noch immer keine Antwort fand, warum sie zu ihm noch immer diese unerklärlichen Schuldgefühle empfand. Auch jetzt zog sich ihr Brustkorb schmerzlich zusammen und sie wusste mit einem Mal nicht, was sie zu dem Jungen sagen sollte. Ihn schelten oder gar bestrafen? Aber wofür? Im Grunde genommen war er noch ein Kind, das unüberlegt gehandelt hatte...
Augustin wurde diese erdrückende Stille langsam unerträglich. Warum sagte seine Mutter nichts? Oder fiel es ihr schwer zu sagen, dass sie ihn nie wieder sehen wollte? Dass er von François fern bleiben sollte und aus diesem Grund musste er das Anwesen der de Jarjayes verlassen? Bevor er jedoch gehen würde, würde er sein Geheimnis offenbaren. Das würde seinem Großvater sicherlich nicht gefallen, aber er befand sich in diesem Moment irgendwo in Versailles und konnte nichts ausrichten. Augustin atmete tief ein und aus. Wenn seine Mutter keine passenden Worte fand, dann musste er das tun, sonst würden sie auf dem Turm den ganzen Tag schweigend verbringen. „Soll ich jetzt meine Sachen packen?"
„Deine Sachen packen?", wunderte sich Oscar. Wie kam er darauf? Sie wollte doch lediglich mit ihm wegen der gestrigen Ereignisse reden und nicht ihn vor die Tür setzen. Das würde sie nicht mehr übers Herz bringen.
„Ich habe doch gestern François verletzt und dann Euer Pferd ohne Erlaubnis genommen.", erklärte Augustin und der weiche Unterton in der Stimme seiner Mutter verwirrte ihn etwas. Das klang, als wäre sie nicht wütend auf ihn. Weshalb war sie dann hier?
Oscar schluckte hart. Sie hatte nicht mit seiner Ehrlichkeit gerechnet und nicht in diesem ruhigen, beinahe kühlen Ton. Sie hatte eher Ausreden oder Entschuldigungen von ihm erwartet und nicht, dass er sie mit seiner Aufrichtigkeit überrumpelt. „Aber das ist doch kein Grund, deine Sachen zu packen.", war das einzige, was ihr in dem Moment einfiel.
Augustin schaute ein wenig misstrauisch zu ihr. „Heißt es, dass ich hier, bei euch, bleiben darf?" Wenn ja, dann würde er sein Geheimnis weiter für sich behalten und es irgendwann später offenbaren.
„Ja, natürlich darfst du bei uns bleiben." Oscar bekam den Wunsch, den Jungen in ihre Arme zu nehmen und ihm zu sagen, dass er für immer bei ihr und André bleiben würde, aber konnte es nicht. Er war nicht ihr Kind und doch spürte sie eine Bindung zu ihm, die nur eine Mutter kannte. Ihr war es so, als sähe sie François vor sich und wie sie ihn in den Armen gehalten hatte. Warum aber erweckte Augustin dieselben Muttergefühle in ihr? Zaghaft legte Oscar ihre Hand dem Jungen auf die Schulter und lächelte matt. Dabei versuchte sie das innerliche Chaos in ihr zu besänftigen, sich zur Ordnung zu rufen und nicht ihren weichen Gefühlen nachzugeben. Wie ein geübter Soldat und Offizier, der sie auch war, sprach sie sachlich und kühl: „Du hast einen Fehler begangen und stehst dazu, das gefällt mir an dir. Deswegen verzeihe ich dir für das eine Mal und hoffe, dass du daraus eine Lektion gelernt hast."
„Das habe ich. Danke vielmals für Eure Güte und Herzlichkeit." Augustin lächelte und hauchte noch das Wort „Mutter" in seinen Gedanken hinzu.
Oscar versuchte derweilen noch immer ihre durcheinander geratenen Gefühle zu ordnen. Der Junge war nicht nur aufrichtig und ehrlich, sondern auch außerordentlich höflich. Das verdankte er bestimmt der Erziehung, die er hier auf dem Anwesen genoss, vermutete Oscar und ihr fiel noch eine letzte Sache ein, die sie mit ihm klären wollte. „Wie hast du es eigentlich geschafft, mein Pferd zu bändigen?"
Augustin verstand, dass seine Mutter den gestrigen Ausritt zum Arzt auf ihrem weißen Pferd meinte. „Ich habe ihm gesagt, dass ich dringen zu Doktor Lasonne muss und dass Ihr sehr traurig sein werdet, wenn Euer Gefährte stirbt. Das hat Euer Pferd verstanden und hat mich pfeilschnell zum Arzt getragen."
Oscar staunte mit gewisser Anerkennung. Es war schwer an seine Worte zu glauben, aber gleichzeitig beeindruckte sie seine Tat auf einer gewissen Weise. André musste Augustin sehr viel bedeuten, wenn er schon so selbstlos handelte. So, als wäre André wirklich ein Vater für den Jungen und er würde alles für ihn tun.
„Habe ich die Erlaubnis zu gehen und Euren Gefährten besuchen?" Die Frage von Augustin drang in Oscars Ohren wie aus der weiter Ferne.
„Geh nur, André wird sich über deinen Besuch freuen." Oscar nahm ihre Hand von seiner Schulter, ließ ihm den Vortritt und dachte dabei, dass Augustin doch nur ein ehrlicher und guter Junge war. Er vervollständigte ihre kleine Familie, als gehörte er schon immer dazu und war ein Teil von ihr. Wenn die Wahrheit über ihr größtes Geheimnis irgendwann mal herauskommen sollte, dann würde sie Augustin adoptieren und ihn als ihren Sohn anerkennen. André würde sicherlich auch nichts dagegen haben und erst recht nicht François und Marguerite. Ihre beiden Kinder waren einfach vernarrt in Augustin und sahen in ihm einen Bruder. Bei dieser Vorstellung füllte sich Oscars Herz mit Freude und eine innerliche Stimme sagte ihr, dass es eine richtige Entscheidung sein würde. Aber jetzt hieß es, das Geheimnis der Liebe weiter zu bewahren und dafür zu sorgen, dass ihrer kleinen Familie nichts Schlimmes widerfuhr.
