Kapitel 56 – Wahrheitsdrang

André hatte gar nicht vor, Oscar zu wecken. Er wollte nur weg von Graf de Girodel, denn dieser Mann behagte ihm schon seit Jahren nicht und verursachte in ihm ständig dieses mulmige Gefühl. André ahnte, warum. Girodel empfand etwas für Oscar, aber nicht das machte André zu schaffen. Der Graf war adlig und es genügte nur eine Bitte an den König oder General de Jarjayes, Oscar ehelichen zu dürfen, und wenn er die Erlaubnis bekäme, dann würde alles vorbei sein. Oscar würde ganz sicher gegen diese Heirat sein, aber die Tatsache, dass Girodel ihr Geheimnis kannte, könnte ihr zum Verhängnis werden. Um ihre Liebsten zu retten, würde sie gezwungen sein, den Grafen zu heiraten. Die Kinder würden bestimmt bei ihrer Mutter bleiben dürfen, zumal Girodel deren Patenonkel war und er mochte sie, aber für André würde das bedeuten, Abschied zu nehmen. André verfluchte den Standesunterschied und erreichte die Gemächer von Oscar. Auf leisen Sohlen betrat er den Salon und dann das Schlafzimmer.

Oscar schlief noch und hatte sich auf den Rücken gedreht. Ihr Kopf lag leicht zur Seite, ein Arm ruhte neben dem Kopf und der Andere auf ihrer Körpermitte. Ihr goldblondes Haar bedeckte fast das gesamte Kissen und ihre süßen Lippen zeigten ein kaum merkliches Lächeln. Was träumte sie gerade? Von der Liebe oder von ihrem Familienglück, welches sie nur im Verborgenen genießen konnte? Vielleicht von beidem, dachte André und schmunzelte. Egal was sie träumte, es war dennoch schön, sie lächelnd zu sehen. Nichts verriet, dass sie eigentlich zu einem hartherzigen Soldaten ausgebildet worden war und keine weiblichen Gefühle haben durfte.

Um seine Geliebte nicht zu wecken, schlich André geräuschlos ans Fenster, verschränkte seine Arme vor der Brust und beobachtete Oscar im Schlaf von dort aus weiter. Sie sah wie ein Engel aus – so unschuldig und rein, so zart und zerbrechlich. Nun gut, unschuldig war sie durch ihn schon lange nicht mehr, dafür aber besaß sie ein reines Herz und liebte ihre kleine Familie über alles. Zärtlich und liebevoll war sie auch. André erinnerte sich nur zu gerne an all die kostbarsten Momente der Liebe zwischen ihnen, die er mit ihr verlebt hatte und das wärmte ihm das Herz. Nein, er würde nicht zulassen, dass Girodel ihm seine Oscar wegnahm! Er wusste zwar noch nicht, was er machen würde, aber er würde für seine Frau und für ihre gemeinsamen Kinder kämpfen – auch wenn dabei die Gefahr bestand, das die Wahrheit über ihr größtes Geheimnis ans Licht kam!

Augustin ging mit Graf de Girodel durch den Garten. Im März hatten die Bäume und Sträucher bereits angefangen ihr grünes Blätterkleid anzuziehen. Für Augustin war das Erwachen der Natur vom Winterschlaf nicht von Bedeutung. Er wollte nur die Unterhaltung mit seinem ehemaligen Erzieher hinter sich bringen. „Ich weiß, was mein Großvater wissen will, aber ich werde ihm nichts mehr erzählen und deswegen sagt ihm, dass zwischen meinen Eltern nichts vorgefallen ist."

„Das kann ich gut verstehen." Victor konnte das wirklich nachvollziehen. Der Knabe lebte schon seit fünf Jahren bei seinen Eltern, ohne es ihnen sagen zu dürfen, dass er ihr Sohn war. Der General sollte verdammt sein! Nur um seine Tochter für ihr Geheimnis zu bestrafen, quälte er seinen Enkel. Victor schluckte seinen Ärger wie eine bittere Medizin herunter und versuchte Ruhe zu bewahren. „André sagte mir, dass deine Eltern dich in ihre Familie aufgenommen haben."

„Aber sie wissen noch immer nicht, dass ich wirklich zu ihnen gehöre." Augustin atmete tief ein und aus. Die Bürde, die sein Großvater ihm auferlegt hatte, wurde mit den Jahren noch schwerer zu tragen. Er durfte mit niemanden darüber reden, außer mit Graf de Girodel. „Ich will nicht mehr schweigen!", platzte es aus ihm heraus.

Auch das verstand Victor, denn auch ihn quälte das Lügenspiel, in das General de Jarjayes ihn gezwungen hatte. Wenn es nah ihm ginge, hätte er schon vor einer langen Zeit die Karten auf den Tisch gelegt und Lady Oscar über ihren verlorenen Sohn die Wahrheit erzählt. Aber je mehr Zeit verstrich, desto schwieriger wurde es mit der Offenbarung. „Du musst aber durchhalten, Augustin, denn du weißt, was dein Großvater machen wird."

Ja, das wusste Augustin und als er an die Drohung seines Großvaters dachte, ballte er angespannt seine Hände zu Fäusten. „Er wird mich in das verdammte Dorf zurückschicken, in dem ich und mein Zwillingsbruder geboren wurden. Aber das ist mir egal! Ich werde von dort weglaufen, denn ich bin kein kleines Kind mehr!"

Girodel war beeindruckt und zollte dem Jungen Anerkennung. „Du bist genauso wie deine Mutter.", sagte er nicht ohne Stolz. Das währte aber nicht lange. Schlechtes Gewissen stieg gleich darauf in ihm auf, als er sich an die Tage nach der Geburt von François und Augustin erinnerte. „Ich hätte schon nach deiner Geburt in das Dorf zurückkehren und dich holen sollen. Dann wäre das heimtückische Spiel von Lüge und Wahrheit nicht passiert und Lady Oscar würde von deiner Existenz wissen." Das bereute Victor bis heute noch und es bescherte ihm manchmal schlaflose Nächte. „Vergib mir Augustin, dass ich dich dort vor dreizehn Jahren zurückgelassen habe."

Ja, es wäre in der Tat alles anders gekommen, wenn seine Eltern gleich von Anfang an über seine Existenz gewusst hätten! Jedoch glaubte Augustin zu wissen, warum Graf de Girodel ihn in dem Dorf des Leidens zurückgelassen und seinen Eltern nichts von ihm erzählt hatte. Dabei lockerte er seine Fäuste. „Ihr dachtet, dass ich tot bin und deshalb seid Ihr nicht zurückgekehrt, nicht wahr?"

„Das ist richtig, Augustin, so war es gewesen und das bereue ich zu tiefst.", gab Victor schweren Herzens zu und verstummte.

Eine unheimliche Stille legte sich augenblicklich zwischen ihnen. Nicht einmal die Vögel zwitscherten in den Baumkronen. So, als hätte die Natur beschlossen, dem Grafen und dem Jungen diese Stille zu schenken und sie in ihren Gedanken nicht zu stören. Augustin glaubte jedoch den Grund zu wissen, warum die Vögel aufgehört hatten zu trällern. Seine Muskeln spannten sich an, seine Sinne verschärften sich und sein Gefühl sagte ihm, dass er beobachtet wurde. François, bist du das, dachte Augustin sich und sein Herz begann schneller zu schlagen. Also doch... Sein Zwillingsbruder war ihm und Graf de Girodel gefolgt und versteckte sich bestimmt irgendwo hinter einem nahestehenden Baum. Augustin sah sich nicht um. Er wollte seinen Bruder nicht verraten, aber etwas unternehmen musste er trotzdem. Sonst würde auch Graf de Girodel ihn bemerken und dann konnte er die Unterhaltung unter vier Augen vergessen. Aber was konnte er schon tun, um das zu verhindern?

„Ich vergebe Euch.", sagte Augustin nach einer Weile des Schweigens zu seinem ehemaligen Erzieher und gleichzeitig entschied er sich für eine Offenbarung. Er vertraute Graf de Girodel und wusste mit Sicherheit, dass es nur zwischen ihnen bleiben würde. Nun gut, der heimliche Beobachter würde auch alles mit anhören, aber das war Absicht. „Vorgestern spielten François und ich „schwarzen Ritter" und kämpften mit Übungsschwertern.", begann Augustin in einem ruhigen Ton zu erzählen und Victor hörte ihm aufmerksam zu. „Ich weiß nicht, wie das passieren konnte, aber ich habe meinen Bruder am Auge verletzt. Zum Glück war das nicht einmal ein Kratzer, aber meine Mutter war trotzdem sehr wütend auf mich. Ich dachte, sie würde mich hassen und vor der Tür setzen. Deshalb wollte ich François die Wahrheit sagen. Ich wollte ihm sagen, dass er mein Zwillingsbruder ist, von dessen Existenz weder er noch unsere gemeinsame Eltern etwas wissen. Allerdings kam ich nicht dazu, weil unser Vater mit einer blutenden Wunde in seinem Gesicht nach Hause gebracht wurde..." Augustin atmete tief ein und aus, bevor er hinzufügte: „Gestern hatte ich ein Gespräch mit meiner Mutter und wollte auch ihr die Wahrheit sagen, aber als sie mir vergeben hatte, konnte ich es nicht mehr tun."

„Weil sie dich in ihre Familie aufgenommen hat." Das war mehr eine Feststellung. Girodel überlegte kurz, bevor er weitersprach: „Ich bin froh, dass du François und deiner Mutter nichts gesagt hast."

„Irgendwann werde ich es aber tun!", meinte Augustin entschlossen.

Victor war noch mehr beeindruckt von seinem starken Willen und erinnerte ihn noch mehr an Lady Oscar. Gleichzeitig schlich sich Wehmut in ihm. Das war genau der Punkt, warum es mit der Wahrheit jetzt schwieriger war als vor dreizehn Jahren und das versuchte er Augustin zu erklären. „Denkst du, deine Eltern und dein Bruder werden dir glauben?" Girodel blieb stehen und gab ihm sogleich die Antwort, dabei drehte er sich zu ihm um. „Nein, das werden sie nicht, denn sie wissen nicht, dass es dich gibt. Glaub mir, an dem Tag, an dem du und François geboren wurdet, hatten deine Eltern von dir nichts gemerkt. Sie hielten François in ihren Armen, während du kaum atmend auf die Welt kamst. Verstehst du, was ich meine? Weder dein Vater noch deine Mutter hatten deine Geburt bemerkt. Die Hebamme und ihre Gehilfin dachten, du würdest sterben und haben dich schnell weggebracht, ohne ein Wort von dir deinen Eltern zu sagen."

„Das weiß ich.", unterbrach Augustin ihn und schaute ihm direkt ins Gesicht. „Ihr habt mir das oft erzählt, aber ich kann trotzdem nicht mehr die Wahrheit verbergen! Sie haben das Recht zu erfahren, wer ich bin!"

Auch die Sturheit hatte der Junge von seiner Mutter, kam es Victor kurz durch den Kopf. Das hieße, dass er sich durchsetzen und sein Wort halten würde. Einerseits bewies er damit seinen Mut, aber andererseits verbarg es die Gefahren, von denen er nicht einmal ahnte. Im Gegensatz zu Augustin wusste Victor, womit das alles enden könnte, wenn die Wahrheit über das Geheimnis von Lady Oscar ans Licht kam. „Ich kann mir vorstellen, wie du dich fühlst, denn auch ich bin es leid vor Lady Oscar die Wahrheit zu verbergen. Aber ich mache das nicht, weil sie dann leiden wird."

„Leiden?", wunderte sich Augustin. „Ich verstehe nicht, wieso leiden?"

„Begreifst du es denn nicht, Augustin?" Girodel fasste den Jungen bei den Armen und schaute ihm eindringlich in die Augen. „Wenn die Wahrheit ans Licht kommt, wer du bist, dann werden schlimme Dinge geschehen! Deine Mutter wird mich und ihren Vater konfrontieren, weil sie wissen wollen wird, ob es wahr ist oder nicht. Ich werde ihr natürlich die Wahrheit sagen, auch wenn ich dabei ihr Vertrauen und ihre Freundschaft verliere. General de Jarjayes dagegen wird auf dich wütend sein und euch alle hart bestrafen. Dazu kommt, dass er es dem König melden muss und wenn seine Majestät davon erfährt, ist eine Katastrophe nicht mehr vermeidbar! Deiner Mutter und mir werden Rang und Titel genommen. General de Jarjayes wird seine Tochter verstoßen, weil sie Schande über seine Familie gebracht hat. Im schlimmsten Fall wird sie irgendeinen alten Grafen heiraten müssen, um wenigstens die Ehre der Familie der de Jarjayes wieder herzustellen. Deinem Vater wird vorgeworfen werden, sich an einer Adligen vergriffen und sie geschändet zu haben. Er wird ins Gefängnis geworfen oder im schlimmsten Fall hingerichtet, weil es einem Bürgerlichen verboten ist, eine Adlige zu lieben und mit ihr auch noch Kinder zu zeugen. Deine Schwester wird in ein Waisenhaus abgegeben und wenn sie niemand adoptiert, wird sie in ein paar Jahren auf die Straße geschickt. Das bedeutet, sie wird sich an Männer verkaufen müssen, wenn sie überleben will. Dein Zwillingsbruder und du werdet auch getrennt. Genral de Jarjayes wird dich behalten wollen, um aus dir einen besseren Soldaten zu machen als aus seiner Tochter. François, wenn er Glück hat und euer Großvater ihn auch behalten will, wird auch zu einem Soldaten erzogen, aber ihr werdet niemals mehr zusammen sein können. Willst du das? Ich nicht und deshalb schweige ich weiter, um dich und deine Familie zu beschützen."

Augustin schluckte hart, das hatte er nicht bedacht. „Aber Ihr werdet uns doch nicht im Stich lassen, oder?"

„Natürlich nicht. Ich werde selbstverständlich alles in meiner Macht stehende tun, um dir und deiner Familie zu helfen." Victor ließ von Augustin ab und entfernte sich mit einem Schritt von ihm. „Allerdings wenn ich noch am Leben sein werde.", offenbarte er zusätzlich. „Denn für mein Schweigen werde ich auch bezahlen müssen. Entweder lande ich im Gefängnis oder es erwartet mich der Tod." Auf welche Art von Tod, sagte Victor dem Jungen lieber nicht.

Augustin überlegte. Dass alles so schlimm enden würde, hätte er nicht gedacht. Vielleicht wäre es doch besser, die Wahrheit niemals zu sagen? „Dann werde ich auch weiter schweigen.", entschied sich Augustin und dachte sich: „Aber eines Tages werden meine Eltern alles über mich erfahren und egal ob sie mir glauben oder nicht, ich lasse es nicht zu, dass meine Familie zu Schaden kommt! Ich werde sie beschützen, auch wenn es mein Leben kosten wird. Es gibt immer einen Weg und den werde ich finden, ich schwöre es!"

„Du bist ein guter Junge, Augustin." Victor atmete erleichtert auf. Er wollte nicht, dass Augustin kopflos handelte und hatte ihm deshalb die Gefahren erklärt, die nach der Offenbarung der Wahrheit passieren konnten. Es war beruhigend zu wissen, dass der Junge auf ihn gehört hatte. Victor zog seine Mundwinkel kaum merklich nach oben und drückte Augustin leicht die Schulter, bevor er sich verabschiedete. „Ich werde mich dann auf den Weg nach Versailles machen und General de Jarjayes berichten, dass zwischen deinen Eltern nichts vorgefallen ist. Begleitest du mich bis zu meinem Pferd?"

„Nein, ich bleibe hier und spaziere noch durch den Garten." Besser gesagt, Augustin wollte noch eine Sache klären und das konnte erst funktionieren, wenn Graf de Girodel fort war.

Victor verstand, dass der Junge Zeit brauchte, um das Gespräch mit ihm zu verarbeiten und wollte deshalb alleine sein. „In Ordnung, dann bleibst du hier.", verabschiedete er sich und ging.

Augustin verabschiedete sich von ihm auch und sah ihm nach, bis er aus Hör- und Sichtweite verschwunden war. In seinem Nacken kribbelte es, sein Körper spannte sich noch mehr an und sein Herz schien aus seinem Brustkorb herausspringen wollen – so schnell schlug es. Hinter ihm raschelten die Sträucher der Rosen, aber er drehte sich nicht um. Er ahnte, wer das sein könnte und hörte dessen nahende Schritte. „François...", flüsterte er viel ruhiger, als es ihm zu Mute war. „Was machst du hier?"

„Ich habe alles gehört..." Die Stimme seines Bruders klang hinter seinem Rücken belegt und fassungslos. „Ist es wahr, Augustin?"

Ja, jedes einzelne Wort ist davon wahr, dachte Augustin und drehte sich langsam um. Es war doch seine Absicht, dass sein Bruder alles mit anhören sollte. Im Gesicht von François las er Staunen und Unglaube, aber keine Wut oder Vorwürfe. Was sollte er ihm sagen? Alles, worüber er mit Graf de Girodel gesprochen hatte? Aber das hatte François doch schon alles gehört! Warum wollte er es noch einmal wissen? Dann erinnerte sich Augustin an die Worte von Graf de Girodel über das, was passieren würde, wenn die Wahrheit ans Licht kam. Nein, das durfte nicht passieren... Er hatte sich zwar geschworen, den Lügen eines Tages ein Ende zu setzen, aber dieser Tag war nicht heute. „Du hast dich verhört, François.", sagte er aus diesem Grund rau, kehrte seinem Bruder den Rücken zu und setzte seine Füße in Bewegung.

Nein, das konnte nicht sein! François glaubte ihm nicht. Er hatte das ganze Gespräch mit angehört und gespürt, dass es die Wahrheit war. Gleichzeitig leuchtete ihm so vieles ein. Zum Beispiel die unerklärlichen Schmerzen, die ihn als Kind urplötzlich heimgesucht hatten und dann genauso schnell verschwanden, als wäre nichts passiert. Das waren die Schmerzen und Leid von Augustin, verstand François, die er als sein Zwillingsbruder immer gespürt hatte. Ebenso der eine böse Traum, wo ihn zwei halbwüchsigen Burschen geschlagen hatten, kam ihm in Erinnerung. Auch das war Augustin und sein trostloses Leben in dem Dorf, wo er zurückgelassen und gequält wurde. Und auch die eine Schlägerei vor fünf Jahren in Paris mit den zwei jungen Männern, die ihn für Augustin gehalten hatten und ihn deshalb an seiner statt verprügelten, kam François in Erinnerung. All die Fragen, die er sich damals gestellt hatte, wurden mit einem Mal beantwortet. Augustin war wirklich sein Zwillingsbruder und aus diesem Grund hatte er seine Empfindungen, seine Launen und Gefühle gespürt. Aber warum sagte Augustin gerade, dass er sich verhört hatte? Was wollte er damit bezwecken? Oder wollte er mit seinem Schweigen etwa verhindern, dass diese schlimmen Dinge, von denen sein Patenonkel gesprochen hatte, passierten?

François traf es wie ein Blitz, als er sich an die Offenbarung seiner Eltern erinnerte. Sie hatten ihm gesagt, dass schlimme Dinge passieren würden, wenn die Wahrheit herauskäme und François hatte ihnen versprochen zu schweigen. Das war das also! Augustin schwieg, um seine Familie zu beschützen. Aber wer beschützte ihn?

Niemand, kam François sogleich die Antwort durch den Kopf geschossen. Augustin war sein Leben lang allein, aber das durfte nicht sein! „Ich werde dich beschützen!", murmelte François und rannte los. Er holte seinen Bruder ein und verlangsamte neben ihm seinen Schritt. Wenn Augustin nicht reden wollte, dann würde auch er nichts sagen. Aber eines sollte er doch wissen: „Ich verstehe deinen Standpunkt und werde so tun, als hätte ich mich verhört."

Augustin nickte. „Das ist gut und besser für euch alle." Einerseits war es beruhigend, dass François die Wahrheit kannte, aber andererseits wollte er ihn in das Spiel von Lug und Trug nicht hineinziehen.

François überlegte. Wenn er die Wahrheit über Augustin kannte, dann sollte er ihm vielleicht auch sein Geheimnis offenbaren? „Erinnerst du dich noch an den Tag, an den wir uns kennenlernten?"

„Ja, ich erinnere mich." Insgeheim fragte sich Augustin, warum François das wissen wollte und bekam eine sehr interessante Antwort von ihm: „An dem Tag war ich mit unseren Eltern am See. Ich wollte wissen, wo ich gefunden wurde und sie sagten mir die Wahrheit. Deswegen verstehe ich, wenn du sagst, dass ich mich verhört habe."

Augustin staunte und verstand sogleich, dass François wusste, wer seine wirklichen Eltern waren. Er trug also auch ein Geheimnis in sich. So gesehen hatten seine Eltern, sein Großvater und Graf de Girodel ein und dasselbe Geheimnis, ohne zu wissen, dass der andere bereits die Wahrheit kannte. Das war verrückt! Augustin schmunzelte unwillkürlich. „Das ist gut. Und was ist mit Marguerite? Weiß sie etwas von unseren Eltern?"

Augustin wusste auch über Marguerite Bescheid? Das verblüffte François. Jedoch fragte er nicht danach und sagte stattdessen nur: „Sie ist noch zu klein dafür."

„Das stimmt. Es ist besser für sie, wenn sie noch nichts weiß." Augustin erreichte mit seinem Bruder langsam den Brunnen und blieb stehen. „Aber früher oder später kommt jede Wahrheit raus. Das sagt unser Großvater.", vertraute er ihm leise an.

„Ich weiß." François warf ihm einen Blick zu. Er hatte gerade einen Entschluss gefasst und wollte, dass Augustin davon erfuhr. Sein Bruder sollte wissen, dass er ab nun nicht mehr alleine war. „Aber wenn diese Zeit kommt, werden wir bereit sein und unsere Familie zu schützen wissen."

„Wir?" Augustin war noch mehr verwundert.

„Ganz genau!", betonte François und seine Augen strahlten euphorisch. „Wir sind doch eine Familie und passen auf einander auf!"

Augustin ließ sich von dessen Freude anstecken. „Allerdings.", stimmte er ihm zu und spürte eine Erleichterung durch seinen Körper durchströmen. Es war ein herrliches Gefühl zu wissen, dass jemand ihm zur Seite stand, dem er vertraute und auf den er jederzeit zählen konnte. Er wollte zwar François nicht in das Lügenspiel hineinziehen und ganz alleine seine Familie beschützen, aber zu zweit würde es bestimmt leichter sein, die Gefahren zu überwinden!