Liebe, Lüge, Wahrheit
Kapitel 66 – Alain de Soisson
Alain setzte Georges auf dessen Bett in dem Quartier ab. Georges legte sich hin, hielt seinen Bauch und krümmte sich. „Ich werde sie alle umbringen...", stöhnte er hasserfüllt. Die Niederlage schmerzte ihm und verletzte seinen männlichen Stolz so sehr, dass er am liebsten sofort seine Worte in die Tat umgesetzt hätte.
Nur Alain verstand sein Knurren und wusste genau, wen er meinte. „Das wirst du unterlassen, sonst bekommst du es mit mir zu tun, denn jeder Neuankömmling steht unter meinem persönlichen Schutz.", mahnte er, richtete sich auf und schenkte seine Aufmerksamkeit den neuen Kameraden. Er zeigte auf das Ende des Raumes. Am Fenster standen zwei Doppelbetten. „Dort unten schlafe ich. Diese drei sind noch frei." Er sah zu André. „Ich würde vorschlagen, deine Söhne schlafen oben."
„Adoptivsöhne.", korrigierte André ihn und als Alain etwas irritiert wirkte, klärte er ihn auf. „François haben Oscar und ich bei einer Durchreise vor dreizehn Jahren gefunden und Augustin wurde vom General de Jarjayes vor fünf Jahren zu uns gebracht. Wir haben sie adoptiert und seitdem sind sie wie eigene Kinder für uns."
Alain glaubte ihm zwar nicht, aber behielt es für sich. Es sah so aus, als machten die Eltern von Jean ein Geheimnis daraus, wer ihre Adoptivkinder in Wirklichkeit waren. Eine verrückte Welt, wenn Diener und Adlige sich heimlich liebten und dabei ihre eigenen Kinder als Findelkinder ausgeben mussten. Aber wieso interessierte ihn das überhaupt? Ihn ging das fremde Leben nichts an. „Kommt, ich bringe euch zurück in das Offiziersbüro.", sagte er schulterzuckend zu den Dreien und zeigte ihnen den Weg dorthin. Auf dem Weg sprach niemand von ihnen. Nur das Knarren der Stiefel auf dem Holzboden erscholl leise im langen Korridor. Sie erreichten ihr Ziel und Alain klopfte an einer Tür. „So, hier sind wir.", sagte er beim Klopfen und nach einem „Herein!", machte er die Tür auf.
André und François gingen rein. Augustin blieb jedoch unweit von der Tür stehen. „Alain, würdest du mir einen Gefallen tun und Georges dazu bringen, dass er über meine wahre Herkunft den Mund hält? Und nennt mich bitte hier niemals Jean, sondern Augustin."
Was sollte das schon wieder heißen? Alain betrachtete den Knaben musternd und musste dabei an einen kleinen Jungen denken, der im Dorf ein Niemand war. „Du willst also, dass ich Georges zum Schweigen bringe?"
Augustin nickte zustimmend. „Ja, sonst werden meine Eltern erfahren, dass ich wirklich ihr Sohn bin."
Wie bitte? Alain dachte, der Junge scherzte. Aber dessen Gesichtsausdruck besagte jedoch, dass es ihm ernst war. „Kläre mich erst einmal auf. Wie kommt es dazu, dass sie es noch nicht wissen?"
„Das ist sehr kompliziert, Alain." Augustin sprach sehr leise, aber für Alain verständlich.
Der breitschultrige Mann schüttelte mit dem Kopf. „Also gut, mir soll es eigentlich egal sein. Aber erwarte nicht all zu viel von mir."
„Das reicht vollkommen aus, Alain." Augustin verabschiedete sich und kam in das Zimmer.
„Er hat uns wirklich Mutter und Vater genannt?", hörte Augustin beim Eintreten seine Mutter überrascht fragen.
„Ja, Oscar.", bestätigte sein Vater und fügte noch hinzu: „...und Alain de Soisson ist der Vater von Anna."
Oscar schien zu verstehen. „Ist das wahr?", wollte sie vorsichtshalber von ihrem Sohn wissen.
„Ja, Mutter.", bestätigte François.
Augustin tauchte neben seinem Bruder auf. „Ich vermute, jeder in dieser Kaserne weiß, dass wir Adoptivkinder von Euch und André sind und deshalb dachte ich, es ist für die Tarnung noch besser, wenn ich zu euch Mutter und Vater sage."
„Ich finde, es ist keine schlechte Idee.", meinte André beeindruckt.
Oscar überlegte. In Versailles wusste jedermann, dass sie Adoptivkinder hatte. Warum dann nicht auch hier in der Kaserne? „Also gut, du kannst uns auch so nennen wie François."
„Danke, Mutter." Augustin fühlte sich überglücklich. „Danke, Vater." Endlich durfte er zu seinen Eltern nicht nur in seinen Gedanken, Mutter und Vater sagen, sondern auch laut. General de Jarjayes war ja nicht hier und das hieße, dass er nichts davon mitbekommen würde.
Der erste Tag verlief relativ ruhig und obwohl manche Soldaten über den neuen Befehlshaber nicht begeistert waren, geschahen dennoch keine weiteren Streitigkeiten. Augustin, sein Zwillingsbruder und sein Vater blieben die ganze Zeit an der Seite von Oscar. Erst am späten Abend kamen sie in die Quartiere und legten sich in ihre Betten, ohne sich großartig mit den Anderen zu unterhalten. Aber auch die Soldaten waren mit ihnen nicht sonderlich gesprächig.
Der Abend ging in die Nacht über. In dem Quartier herrschte finstere Dunkelheit und das grässliche Schnarchen von manchen Männern erfüllte den Raum. Alain war schon längst daran gewöhnt. Rücklings lag er im Bett, schob die Arme hinter dem Kopf und starrte nach oben, wo Jean schlief. Vor einer langen Zeit war der Junge noch ein Niemand. Alain erinnerte sich noch genau daran, wie Armand und Georges ihn quälten und schlugen. Der Junge hatte sich niemals wehren können und Alain musste ihn jedes Mal retten. Jetzt war Jean kein wehrloses und schutzloses Kind mehr und lebte anscheinend glücklich bei seiner Familie. Oder vielleicht doch nicht? Was hatte es mit seiner Bitte auf sich? Warum wussten André und Oscar nicht, dass sie seine wahren Eltern waren? François dagegen wusste, dass er der Zwillingsbruder von Jean war. Nein, eigentlich Augustin, korrigierte sich Alain in Gedanken. Etwas stimmte nicht mit dieser Familie! Alain erinnerte sich, wie General de Jarjayes und ein Offizier den Jungen vor acht Jahren aus dem Dorf geholt hatten. Vielleicht hatten sie ihm verboten, die Wahrheit zu sagen? Das würde zumindest die merkwürdige Bitte von Jean erklären.
Die Tür des Quartiers öffnete sich und schwaches Licht von einer Öllampe erhellte den Raum. Zwei Soldaten kamen herein, stellten die Öllampe auf dem Tisch ab und machten sich fürs Bett fertig. Die Wachablösung, verstand Alain und stand von seinem Bett auf. Heute war er mit Nachtwache dran und musste durch die Stadt patrouillieren. Er nickte den Männern zu und weckte André. „Steh auf, heute ist deine erste Nachtpatrouille."
Noch schlaftrunken zog sich André an. „Soll ich François und Augustin wecken?"
„Nein, die zwei können heute Nacht ruhig schlafen." Alain nahm sein Gewehr und wartete auf André draußen.
Gemeinsam verließen sie dann die Kaserne und gingen durch die leeren Straßen der Stadt. Der Mond und vereinzelte Laternen leuchteten ihnen den Weg und auch in manchen Fenstern der Häuser leuchtete ein schwaches Kerzenlicht. Irgendwo bellte ein Hund und verstummte dann mit einem gequälten Jaulen. Alain nahm das nicht sonderlich zur Kenntnis. Solange es keine menschlichen Stimmen waren, war noch alles in Ordnung. Er kannte diese Stadt auswendig und fühlte sich hier wohl. Seite an Seite passierte er mit André ein paar Brücken und nährte sich dem Stadtrand.
André war der erste, der eine Unterhaltung mit ihm suchte. Er wollte etwas über Augustins wahre Eltern wissen, seit er wusste, dass Alain der Vater von Anna war. „Du scheinst Augustin sehr gut zu kennen. Kanntest du auch seine Eltern?"
„Nein. Als der Junge auf die Welt kam, war ich in Paris.", erklärte Alain. „Weißt du, ich wohne hier mit meiner Mutter und meiner Schwester zusammen."
„Aber wie kommt es, dass deine Tochter in einem Dorf und nicht in der Stadt bei dir wohnt?", fragte André neugierig.
Alain lachte. „Vor 14 Jahren kam meine Schwester zur Welt und mein Vater hat uns danach einfach verlassen. Also suchte ich eine bessere Arbeit als in der Kaserne, natürlich nur in den dienstfreien Tagen. Meine Mutter wollte, dass ich Bauer werde und ich versuchte mich in einem Dorf in diesem Beruf auszuprobieren. Das war im April 1774, kurz bevor unser alter König an den Pocken verstarb. Dort lernte ich Annette kennen und wir verbrachten ein paar Nächten zusammen. Dann ging ich zurück nach Paris und sagte meiner Mutter, dass aus mir kein guter Bauer wird."
Alain schien kein übler Kerl zu sein und André gefiel es irgendwie mit ihm zu reden. „Warum habt ihr nicht geheiratet?"
Auch hier lachte Alain auf. „Ich bin nicht der Mann für so etwas. Ich bleibe gerne frei und habe nicht nur eine Frau. So blieb ich in der Kaserne, bis ich wieder Sehnsucht nach Annette bekam. Also ging ich im Frühjahr in das Dorf zurück und meine Süße überraschte mich mit zwei Kindern. Das schwarzhaarige Mädchen war meins, aber der blonde Junge wurde von seinen reisenden Eltern in dem Dorf zurückgelassen."
André verstand, dass mit dem schwarzhaarigen Mädchen Alain seine Tochter Anna meinte. Dann müsste der blondgelockte Junge Augustin sein. Aber nicht das ließ André stutzen, sondern der letzte Satz von Alain. Nach allem, was er wusste oder von Augustin erfahren hatte, wurden seine Eltern ihm genommen. Von Alain klang das jedoch, als hätten die Eltern von Augustin ihren Sohn freiwillig verlassen. „Augustin wurde zurückgelassen?", empörte sich André und wollte mehr wissen. „Aber wer macht so etwas und lässt sein Kind zurück?" Das war für ihn unvorstellbar. François kam ihm in den Sinn. Weder Oscar noch er hätten ihren Sohn jemals zurückgelassen, egal wie schlimm die Umstände wären. Sie hatten ihn mitgenommen und gaben ihn als Adoptivsohn aus, aber die Hauptsache war, dass er bei ihnen blieb. Was bewog dann die Eltern von Augustin dazu, ohne ihr Kind weiter zu reisen?
Alain sah ihn von der Seite mit gehobener Augenbraue an. Sieh dich und deinen weiblichen Kommandanten im Spiegel an und dann kennst du die Antwort, besagte sein Blick. Gleichzeitig dachte er an die Bitte von Jean und das hielt ihn davon ab, seine Gedanken laut zu äußern. Aber eine versteckte Botschaft konnte er ihm doch übermitteln, ohne Jean zu verraten. „Wer weiß, was die Menschen dazu treibt, ihre Kinder gleich nach der Geburt zu verlassen und zu vergessen."
André schauderte es bei den Worten. Ja, was trieb die Menschen dazu, ihre Kinder auszusetzen und sie ihrem Schicksal zu überlassen? Er dachte dabei an seine eigenen Kinder. Bei François und Marguerite hatten Oscar und er keine andere Wahl, als sie zu verleugnen und als Findelkinder auszugeben. Aber wenigstens François kannte die Wahrheit und verstand die verzwickte Lage seiner Eltern. Irgendwann würde auch Marguerite alles erfahren und André hoffte, dass auch sie die Tat ihrer Eltern verstehen würde. Was Augustin betraf, dann... „Wir haben Augustin in unsere Familie aufgenommen.", sagte er knapp zu Alain. „Er ist ein lieber Junge und gehört jetzt zu uns."
Alain schüttelte verständnislos den Kopf. Was für eine verrückte Familie! Aber egal. Sie würden schon wissen, was sie machten und ihn ging das nichts an. „Ihr solltet euch lieber vor Georges in Acht nehmen.", wechselte Alain das Thema.
„Wieso das?", wollte André überrascht wissen. Nun gut, Georges hatte das Duell gegen Oscar verloren. Aber war das auch der Grund, sich vor ihm in Acht zu nehmen?
Alain klärte ihn auf. „Georges kommt aus dem Dorf, wo Augustin geboren wurde. Er hasst den Jungen schon seit seiner Geburt und will ihn tot sehen."
Das erklärte natürlich alles. „Danke für den Rat, wir werden vorsichtig sein.", versprach André und erreichte mit Alain ein zweistöckiges Haus. In den Fenstern brannte noch Kerzenlicht und André erkannte einen kleinen Raum. Gleich am Fenster stand ein Tisch, eine junge Frau saß in einem Schaukelstuhl und strickte etwas.
Alain hielt an der Haustür an und drehte sich breit grinsend zu André um. „Hier wohnt meine süße Constance und wenn ich nachts patrouilliere, komme ich immer bei ihr kurz vorbei."
André musste kurz überlegen, was Alain meinte. Dann ging ihm ein Licht auf. „Verstehe..." Er schmunzelte dabei. Wenn Alain seine Geliebte besuchen wollte, dann sollte er das auch machen. „Ich gehe lieber zurück in die Kaserne, vielleicht schläft Oscar noch nicht.", meinte André und dachte dabei, dass es keine schlechte Idee wäre. Vielleicht würde er seine Oscar sogar verführen und mit ihr einen kurzen, aber schönen Moment der Liebe verbringen können.
„Ja, geh nur und wir sehen uns morgen." Alain zwinkerte ihm verschwörerisch zu, machte die Tür auf und verschwand im Haus.
André sah im Fenster, wie die junge Frau von ihrem Stuhl aufstand, vor Freude ihr Strickzeug fallen ließ und Alain mit einer heftigen Umarmung begrüßte. Alain sagte etwas und küsste sie leidenschaftlich, dabei öffnete er die Schnüre ihres Kleides. Constance entriss sich von ihm und löschte die Kerze. André schmunzelte, er konnte sich schon vorstellen, was zwischen Alain und seiner Geliebten jetzt passieren würde. Zugegeben, waren die zwei ein hübsches Paar und André fragte sich kurz, ob die auch Tochter von Alain von Constance wusste? Aber wieso interessierte ihn das? André wollte gerade dem Fenster und dem Haus den Rücken kehren, als ihm etwas Hartes auf den Kopf traf.
„Alain hat recht, du solltest vorsichtig sein.", flüsterte eine tiefe Stimme hämisch, aber André hörte ihn nicht. Dunkelheit umfing ihn und sein Körper sackte zusammen. Ebenso spürte er nicht, wie sein Peiniger ihn auffing und einige Meter vom Haus fortschleppte. Auch den Gestank nach Fäulnis und Unrat nahm er nicht mehr wahr, als er auf dem Boden abgelegt wurde. „Die Rache ist gekommen und du wirst der Erste sein, der für das Vergehen deines Bastardes bezahlt!", schnaubte angewidert der Peiniger und nahm André das Gewehr ab. Er drehte die Waffe um und stach mit dem Bajonett auf André ein. „Jetzt stirb! Nach deinem Tod werde ich mir deine blonde Hure in Uniform und deinen zweiten Bastard vornehmen!"
