Liebe, Lüge, Wahrheit

Kapitel 69 – Marguerite

Was war nur in diesem Haus los? Die sechsjährige Marguerite verstand das nicht. Ihr Ziehvater war schon seit mehreren Tagen verschwunden und alle sagten, er würde bald zurückkehren. Aber warum waren alle dann so traurig? Und heute schienen alle sich nur noch zu streiten. Ihr Kindermädchen Marie hatte sie beruhigt und ihr gesagt, dass es nichts Schlimmes sei, aber Marguerite glaubte ihr nicht. Denn dann verließen alle stürmisch das Anwesen und später kehrten sie mit dem verletzten und blutüberströmten François zurück. Marguerite bekam Angst. Marie hatte sie sofort auf ihr Zimmer gebracht, sie beruhigt und als Doktor Lasonne eintraf, war sie auch fort, um ihm bei der Behandlung von François zur Hand zu gehen. Marguerite fühlte sich von allen verlassen und vergessen. Und niemand erklärte es ihr, was mit François passiert war. Also musste sie das selbst in Erfahrung bringen! Es war ähnlich wie damals, als ihr Ziehvater am Auge verletzt wurde.

Vorsichtig spähte sie in das Zimmer von François und Augustin und schaute schon seit einer Stunde zu, was dort geschah. François schlief mit einem großen Verband um seinen Oberkörper, Augustin saß bei ihm am Bett und hielt seine Hand. Doktor Lasonne sagte, der junge Mann schwebe nicht in Lebensgefahr und dass die Kugel nur seinen Schulter getroffen habe. Madame Glace seufzte erleichtert, Marie räumte das blutige Wasser und die Tücher weg und der Arzt packte seine Instrumente in die Tasche ein. Marguerite entfernte sich von der Tür und rannte die Treppe hoch. Ihre Ziehmutter sollte unbedingt erfahren, dass es François gut ging! Mitten in der Behandlung hatte ihr Vater sie und Graf de Girodel auf ein Gespräch in sein Kontor gerufen.

Marguerite erreichte das Kontor und blieb an der Tür stutzig stehen. Sie hörte Stimmen – verärgerte und wütende Stimmen. Ihre Ziehmutter stritt sich mit dem General und Marguerite öffnete die Tür nur einen Spaltbreit, um zu sehen, weswegen dort gestritten wurde.

„Bitte lehnt den Heiratsantrag ab, Vater!", erhöhte Oscar ihre Stimme.

General de Jarjayes schüttelte nur ablehnend den Kopf. „Du wirst Graf de Girodel heiraten, egal ob du es willst oder nicht!"

„Ich sagte nein und dabei bleibt es, Vater!" Oscar schaute zu Graf de Girodel. Ihr Gesicht war bereits rot vor Zorn und ihr eisiger Blick schien Blitze zu schleudern. „Wenn Ihr mir wirklich ein treuer Freund seid, dann beweist es jetzt! Zieht Euren Heiratsantrag zurück!"

„Lady Oscar, das geht nicht... Ich denke dabei an eure Adoptivkinder... Augustin, François und Marguerite brauchen einen Adoptivvater..." Damit sagte Graf de Girodel schon alles.

Oscar verstand die versteckte Botschaft, aber dennoch... „Meine Antwort bleibt trotzdem nein!"

„Wenn du dich gegen die Heirat weiter sträubst, dann werde ich Marguerite wohl mit an den Hof mitnehmen müssen und in die Obhut der Königin geben. Aus ihr wird ein hübsches Kammermädchen und Spielgefährte für die königlichen Kinder.", meinte der General und erschreckte Marguerite hinter der Tür. Sie wollte nicht an den Hof zu der Königin und ihren Kindern! Sie wollte hier bleiben!

„Nein das könnt Ihr nicht tun!", spie Oscar erbost und beruhigte etwas Marguerite. Wenigstens war ihre Ziehmutter auf ihrer Seite!

„Natürlich kann ich das. Ich gebe dir noch eine Woche Zeit! Wenn André bis dahin nicht gefunden wird, dann werde ich meine Worte in die Tat umsetzen. Aber jetzt schaue ich, wie es François geht. Bis zu seiner Genesung ist er selbstverständlich von seinem Dienst in der Kaserne befreit.", stellte der General seiner Tochter eine Bedingung und in dem Moment rannte Marguerite zurück zu François. Sie musste alles, was sie gehört hatte, Augustin erzählen! Vielleicht würde er General de Jarjayes überreden können, sie nicht an den Hof zu schicken? Immerhin hatten General de Jarjayes und Graf de Girodel ihn vor vielen Jahren auf dieses Anwesen gebracht!

Unten an der Treppe verlangsamte sie ihren Schritt. Madame Glace und Marie geleiteten Doktor Lasonne zum Ausgang und schienen sie am Fuß der Treppe nicht zu bemerken. Marguerite achtete nicht mehr auf sie und eilte in das Zimmer von François. Augustin saß noch immer an seinem Bett und murmelte etwas vor seiner Nase, was Marguerite nicht verstand. „Wird er wieder gesund?", fragte sie und kam näher an das Bett.

„Ja, denn wenn er von uns geht, werde ich auch nicht lange hier bleiben können.", seufzte Augustin betrübt.

„Warum?" Marguerite erschrak und blieb zwischen Augustin und dem Kopfende des Bettes stehen.

Augustin sah zu ihr auf. Der traurige Blick seiner blaugrünen Augen drangen tief in sie ein und obwohl er schmunzelte, klang seine Stimme heiser und belegt. „Weil wir zwei Hälften eines Ganzes sind."

„Das verstehe ich nicht..." Marguerite bekam selbst ein bedrücktes Gefühl und wollte am liebsten weinen. Aber nein, sie war ein tapferes Mädchen und wenn Augustin nicht weinte, dann würde sie auch durchhalten!

„Kannst du ein Geheimnis bewahren?" Augustin wollte nicht mehr schweigen. Es war ganz alleine seine Schuld, dass François verletzt wurde und jetzt hier bewusstlos lag.

„Natürlich kann ich Geheimnis bewahren!", schwor Marguerite. Mit anderen Worten, endlich erzählt ihr jemand, was in diesem Haus wirklich passierte!

„Also gut, ich erzähle dir eine Geschichte." Augustin schaute zur Tür und senkte seine Stimme. Marguerite hörte ihn trotzdem und spitzte aufmerksam ihre Ohren. „Vor langer Zeit, als du, François und ich nicht auf der Welt waren, haben unsere Eltern eine Reise durch Frankreich gemacht." Marguerite nickte. Diese Geschichte über die Reise ihrer Zieheltern durch Frankreich hatte sie oft gehört. Auf der Heimfahrt hatten sie Francois mitten im Wald gefunden – im Gegensatz zu ihr. Ihre wahren Eltern hatten sie kurz nach ihrer Geburt, direkt vor der Haustür des Anwesens de Jarjayes, ausgesetzt. Marguerite erinnerte sich aber nicht mehr daran. Das, was Augustin ihr gerade erzählte, klang wesentlich aufregender. „Auf diese Reise sind François und Ich an einem Tag geboren wurden. Allerdings wurde ich als tot erklärt und vor den Augen unserer Eltern versteckt. Ein paar Tage später reisten meine Eltern mit François weiter, ohne zu wissen, dass es mich gibt."

„Das ist schrecklich!", unterbrach Marguerite ihn und schlug ihre kleinen Hände vor den Mund. Sie vergaß sogar dabei, was sie Augustin mitteilen wollte.

„Warte, die Geschichte ist noch nicht zu Ende.", Augustin erzählte weiter. „Viele Jahre später wurdest du geboren und irgendwann kam ich auf das Anwesen der de Jarjayes. Ich habe meine Eltern, meinen Bruder und meine Schwester wiedergefunden, aber niemand darf davon wissen, sonst muss ich in das Dorf zurück. Marguerite, du, François und ich haben dieselben Eltern. Das heißt, wir drei sind in Wirklichkeit Geschwister."

Die grünen Kinderaugen von Marguerite weiteten sich. Augustin und Francois waren ihre wahren Brüder? Und er kannte ihre Eltern? „Ich werde es niemanden sagen, weil ich will nicht, dass du weggehst." Marguerite warf sich ihm unverhofft um den Hals und schmiegte sich an ihm. „Ist es wahr? François und du seid meine wahren Brüder?"

„Ja, wir sind deine Brüder.", Augustin umarmte sie. Es tat gut, sich ihr anvertraut zu haben und noch wohltuender war es für sein geplagtes Herz, dass sie ihm glaubte.

„Und wer sind unsere Eltern?" Das wollte Marguerite wirklich wissen.

Augustin vergrub seine Nase in ihr weiches, braunes Haar. „Das sind unsere Adoptiveltern. Oscar ist unsere Mutter und André ist unser Vater. "

„Ich finde das schön!" Das war wirklich herrlich zu wissen, wer ihre Eltern wirklich waren. Eigentlich hatte sich Marguerite niemals dafür interessiert, aber jetzt fand sie es gut, dass Augustin es ihr erzählt hatte. Zumal sie ihre Adoptiveltern sehr mochte und wenn sie in Wirklichkeit ihre Eltern waren, dann war es noch besser! Sie schob sich von Augustin weg und schenkte ihm ein hinreißendes Lächeln. „Wir sind eine geheime Familie und halten zusammen, nicht wahr?"

„Ja das ist wahr." Augustin kam nicht umhin, ihr das Lächeln zu erwidern. „Aber du darfst es wirklich niemanden erzählen. Versprichst du es mir?"

„Ich schwöre es!" Marguerite trat von ihm etwas zurück und legte ihre Hand aufs Herz, um die Ernsthaftigkeit ihres Versprechens damit zu bekunden.

Das war eine äußerst rührende Szene und Augustin hätte sich noch viel besser gefühlt, wenn die Tür nicht aufgegangen wäre. General de Jarjayes und Graf de Girodel betraten das Zimmer. Die Muskeln von Augustin spannten sich an, die gute Laune verschwand augenblicklich und Marguerite erinnerte sich an das, was sie Augustin eigentlich sagen wollte. Zu Wort kam aber keiner von beiden. „Wir wollten nach François sehen, bevor wir gehen. Der Soldat, der ihn angeschossen hat, wird bestraft, das verspreche ich.", sagte Girodel und Augustin nickte ihm stumm zu. Wenn Ihr meine Mutter nicht heiraten wollen würdet, dann wäre es erst gar nicht dazu gekommen, hätte er gesagt, aber er verkniff sich das und behielt ihn sorgsam im Auge. Es würde nichts nützen, jetzt den Streit von neuem zu beginnen. Der bewusstlose François war jetzt viel wichtiger.

General de Jarjayes kam derweilen ans Bett, ohne Augustin anzusehen und strich François die hellbraunen Locken von der Stirn. „Werde gesund, mein Junge." Augustin war erstaunt, dass er etwas Mitfühlendes in der sonst barschen Stimme seines Großvaters vernahm. Waren ihm seine Enkelkinder etwa doch nicht gleichgültig? Die Antwort darauf fand er nicht, denn der General verließ gleich darauf, zusammen mit Graf de Girodel, das Zimmer.

Die Anspannung wich von Augustin. Marguerite fasste seine Hand. „Er will mich an den Hof zur Königin und ihren Kindern nehmen. Das hat er zu Mama gesagt. Ich will das aber nicht."

„Das wird er nicht, ich verspreche es." Augustin drückte die kleine Hand seiner Schwester fester und obwohl er zu ihr sprach, durchbohrte er die Tür mit einem eisigen Blick, weil er Schritte hörte. „Nichts und niemand wird unsere Familie jemals zerstören."

Die Tür ging erneut auf und Oscar kam herein. Sie war ohnehin schon wütend und als sie Augustin in der Nähe ihrer Kinder sah, geriet sie in Rage. „Verlass auf der Stelle das Haus!", befahl sie Augustin.

Das war ein gewaltiger Schnitt mitten ins Herz und ließ das Blut in den Adern gefrieren. „Aber wieso?", stotterte Augustin perplex und stand langsam von seinem Stuhl auf.

„Weil du Unglück bringst!", schnaufte Oscar und marschierte geradewegs auf ihn zu. Sie sah nur ihn an und ihre blauen Augen strahlten unermessliche Kälte aus. „Deinetwegen ist François verletzt!"

„Aber Augustin gehört doch zu uns.", wisperte Marguerite ängstlich, aber wurde nicht wahrgenommen.

Augustin schluckte mehrmals. Er erkannte seine Mutter nicht mehr. So voller Zorn und Rage hatte er sie noch nicht erlebt. Was war im Kontor seines Großvaters passiert, dass sie jetzt einer Furie glich und danach aussah, als würde sie jeden vernichten wollen, der ihr in den Weg kam? Das war bestimmt ein böser Traum, versuchte sich Augustin einzureden, aber es half ihm nicht. Seine Mutter packte ihn schon am Kragen an und stieß ihn wütend in Richtung Tür. Augustin konnte mit Mühe sein Gleichgewicht beibehalten. „Mutter, lasst mich das erklären..."

„Ich bin nicht deine Mutter!", fauchte Oscar, hob ihre Hand und verpasste ihm eine schallende Ohrfeige.

Das schmerzte Augustin nicht nur an der Wange. Tränen sammelten sich in seinen Augen, aber er weinte nicht. Niemals würde er seine Schwäche und wie verletzt er war, zeigen! Genug der Lügen! Zum Teufel mit dem Spiel, welches sein Großvater ihm aufgezwungen hatte! Augustin straffte seinen Rücken, ballte seine Hände zu Fäusten und schleuderte seiner Mutter die Wahrheit entgegen: „Doch, ich bin Euer Sohn, genauso wie François! Er ist mein Zwillingsbruder, ich bin nach ihm geboren worden, Ihr wisst das nur nicht! Ihr seid meine Familie..."

„Schweig!", donnerte Oscar dazwischen. Es tat ihr leid und es schmerzte ihr, wie sie Augustin behandelte, aber sie war so verzweifelt und wütend... Und die Tatsache, dass Augustin wusste, wer die wahren Eltern von François waren und womöglich es ausgenutzt hatte, trieb sie regelrecht zur Weißglut. So sehr, dass sie alle möglichen Empfindungen für diesen Jungen aussperrte. „Sag das nie wieder! Verschwinde aus unserem Leben!"

„Mama, bitte, er ist mein Bruder..." Margerite schob sich unerwartet zwischen ihnen und umarmte Oscar um die Hüfte, damit sie nicht weiter auf Augustin einschlug.

„Er ist ein Niemand!", knurrte Oscar. „Er hat François in Gefahr gebracht und verdient keinen Platz mehr in unserer Nähe!"

So war das also. Es trat das ein, was Girodel ihm einstmals erzählt hatte: Seine Mutter glaubte die Wahrheit nicht. Das war sehr niederschmetternd und Augustin blieb nur noch der letzte Trumpf. „Gut, ich gehe und Ihr dürft Eurem Vater dann erklären, warum ich nicht mehr hier bin."

„Das braucht dich nicht mehr zu kümmern und in die Kaserne brauchst du auch nicht mehr zurückzukehren!", schnaufte Oscar außer Atem und nur Dank ihrer Tochter, die sich an sie klammerte, verpasste sie Augustin keine weitere Ohrfeige. „Du bist von deinem Dienst suspendiert!"

Augustin schaute seine Schwester ein letztes Mal an. „Wenn François wieder aufwacht, sag ihm auf Wiedersehen von mir." Dann drehte er sich verbittert um und verließ das Zimmer.

„Warte!" Margierite wollte ihm nachlaufen, aber Oscar hielt sie davon ab. „Lass ihn gehen, er ist nur ein fremder Junge, der sich zu uns eingeschlichen und uns sehr enttäuscht hat."

„Du bist gemein, Mama!" Marguerite entriss sich von ihr und rannte Augustin aufgewühlt nach. Warum machte ihre Mutter das? Sie waren doch eine Familie! Ihr großer Bruder durfte nicht gehen! Wer würde sie beschützen, wenn der General sie an den Hof zu der Königin und deren Kindern brachte? Marguerite konnte ihre Tränen kaum zurückalten und platzte in die Küche herein. Augustin erzählte dort nur knapp, dass Lady Oscar ihn vor die Tür gesetzt hatte und begann dabei etwas Essbares einzupacken. Sophie half ihm mit trauriger Miene und Marguerite eilte zu Augustin. „Geh nicht, bitte!", flehte sie und umklammerte ihn wie ihre Mutter zuvor.

Augustin hielt in seiner Tätigkeit kurz innen und strich sachte an den braunen Zöpfchen seiner Schwester. Ihr Einsatz rührte ihn, aber änderte nichts an der Tatsache. „Ich muss gehen, ich kann nicht mehr länger hier bleiben."

Marguerite hob ihr Köpfchen und schaute zu ihm mit feuchten Wimpern. „Dann komme ich mit dir mit!"

„Nein, bleibe hier und kümmere dich um François." Augustin schmerzte es sehr, das sagen zu müssen, aber er hatte keine andere Wahl. Diese Nacht würde er im Jagdhaus am See verbringen, beschloss er und Morgen würde er auf die Suche nach seinem Vater gehen. Er würde solange nicht ruhen, bis er ihn gefunden hatte. Denn sein Vater war seine letzte Hoffnung, dass seine Mutter ihm verzieh und ihn wieder bei sich aufnahm.

„Kommst du wieder?", fragte Marguerite hoffnungsvoll und Augustin nickte. „Ja, ich komme wieder, versprochen.", log er und warf einen Blick zum Eingang der Küche.

Oscar verschwand aus der Sicht und rannte zurück in das Zimmer von ihrem Sohn. Zuerst André, dann der beispiellose Heiratsantrag von Girodel, die Zustimmung ihres Vaters zu dieser Heirat, das Unglück von François und jetzt brachte auch noch Augustin ihre eigene Tochter gegen sie auf! Oscar warf sich verzweifelt und mit hilfloser Wut vor das Bett auf die Knie und vergrub ihren Kopf in den Händen. Die Welt schien um sie herum zusammenzubrechen und sie wünschte sich, sie würde mit ihr untergehen.