Liebe, Lüge, Wahrheit
Kapitel 74 – Wenn die Lüge zu Wahrheit wird
Unter Argusaugen von Oscar und Madame de Jarjayes wurde André von Doktor Lasonne fürsorglich behandelt. Sophie und einige der Dienstmädchen gingen ihm selbstverständlich zur Hand und halfen ihm. André ließ die medizinische Behandlung über sich ergehen, während er die Fragen seiner Großmutter oder von Madame de Jarjayes beantwortete. Jeder der Anwesenden wollte wissen, wer ihn so böse zugerichtet hatte, wo er die ganze Woche gewesen war und warum er keine Nachricht von sich sendete. Sogar der strenge General de Jarjayes hörte den Antworten aufmerksam zu und prägte sie sich ein. Augustin stand nicht weit von ihm und André wünschte sich, die Behandlung möge schnell vorübergehen. Er wollte nicht nur mit Oscar alleine sein, sondern hatte auch viele Fragen an den Jungen. Und nicht nur er. Oscar verfolgte das gleiche Ziel und sobald Doktor Lasonne, ihre Eltern, Sophie und die Dienstmädchen fort sein würden, beabsichtigte sie ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen. Je nach Antworten von Augustin würde sie sich entscheiden, ob er hier bliebe oder nicht. Danach würde sie ihren Vater aufsuchen und ihn bitten, dass er den Antrag zurückzieht.
Reynier schien ihre Gedanken zu lesen und schielte verstohlen zu ihr. Auf dem Weg hierher hatte er das Dienstmädchen Marie aufgesucht und ihr befohlen, die Sachen von Marguerite wieder auszupacken. Danach sollte sie das Mädchen und François ins Zimmer von André bringen. Er war ja schließlich kein Unmensch und die Kinder sollten schon ihren Vater sehen können. Zusätzlich würde das eine gute Gelegenheit sein, der gesamten Familie seine Anordnung, die er gerade durchdachte, mitzuteilen. Bis auf Augustin, der ihm die ganze Zeit stumm gefolgt war, waren François und Marguerite allerdings noch nicht da und übereilen wollte Reynier es auch nicht.
Irgendwann hörte er, wie die Tür hinter ihm aufging und schaute sich zufrieden um. François war noch leicht wackelig auf den Beinen, aber mit Stütze von Marie und Augustin, der sogleich zu ihm eilte, schaffte er es, aufrecht zu stehen. Und er wollte seinen Vater unbedingt sehen. Seine kleine Schwester wollte das auch und eilte ihm eifrig voraus. Gut, dass der Doktor ihrem Vater den neuen Verband bereits angelegt hatte – so musste Marguerite seine Wunden nicht mit ansehen.
Flankiert von beiden Seiten und mit einem Arm in der Schlinge erreichte auch François das Bett seines Vaters. Beide begrüßten sich freudestrahlend und mühten sich, sich nicht gegenseitig in die Arme zu fallen. In Anwesenheit von General de Jarjayes und seiner Frau wäre das unanständig. Das würden sie später nachholen. Hauptsache, sie hatten sich endlich gesehen. Marguerite teilte diesen Gedanken aber nicht und wie damals, als André vom schwarzen Ritter am Auge verletzt wurde, krabbelte sie aufs Bett und schmiegte sich an ihn. „Ich habe dich vermisst."
„Ich dich auch." André legte sachte einen Arm um sie, verkniff die aufsteigenden Schmerzen in seinem Körper und auch die Vatergefühle zu seiner Tochter versuchte er im Keim zu ersticken. „Jetzt bin ich aber wieder hier und werde auch bleiben."
Marguerite nickte. Seine warme Stimme beruhigte sie und da fiel ihr ihr Bruder ein. „Augustin auch? Wird er auch bleiben?"
Darauf konnte André keine Antwort geben und schaute zu Oscar. Sein Blick schien dieselbe Frage zu stellen wie Marguerite. Oscar schüttelte kaum merklich den Kopf. Wenn ihre Eltern nicht dabei wären, hätte sie schon etwas gesagt, aber in deren Anwesenheit schwieg sie und eine unerträgliche Stille breitete sich für wenige Sekunden im Zimmer aus.
Reynier nutzte diesen Moment aus und räusperte sich laut, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. „Natürlich wird Augustin bleiben! Ich habe ihn gefunden und das heißt, nur ich bestimme über sein Schicksal." Wobei seine Worte hart klangen, waren sie dennoch wie ein rettender Anker für Augustin. Er warf einen kurzen Blick zu seiner Mutter. Oscar sah danach aus, als wollte sie protestieren, aber beherrschte sich. Womöglich hätte sie das getan, wenn sie alleine mit ihrem Vater wäre, vermutete Augustin und hörte zu, was sein Großvater sprach. „Ich freue mich, dass du wieder bei uns bist, André." Reynier milderte sogar seinen harschen Ton und schaute dann streng zu seiner Tochter. „Somit halte ich zu meinem Wort und ziehe den Heiratsantrag von Graf de Girodel zurück. Oscar, du begibst dich in die Kaserne und beginnst, das Vertrauen deiner Soldaten zu gewinnen. Augustin wird dich selbstverständlich begleiten und wenn du es noch einmal wagst, ihn aus meinem Haus zu verbannen, dann werde ich deine Findelkinder an den Hof von Versailles mitnehmen. François würde zu einem guten Soldaten in der königlichen Armee ausgebildet und Marguerite würde eine hübsche Spielgefährtin für die Königskinder abgeben. Augustin würde den beiden natürlich folgen und unter Befehl von Graf de Girodel in der königlichen Garde dienen. Habe ich mich deutlich ausgedrückt?"
„Ja, Vater, Ihr habt Euch deutlich ausgedrückt." Und das nicht zum ersten Mal. Einerseits erleichterte es Oscar, dass er den Heiratsantrag von Graf de Girodel zurückzieht, aber andererseits erschreckte sie seine Drohung bezüglich François und Marguerite. Wie er allerdings mit Augustin vor hatte zu verfahren, interessierte sie in dem Moment nicht. Ihr Vater hatte in dem Sinne recht – er hatte den Jungen gefunden und konnte aus diesem Grund über sein Schicksal bestimmen. Oscar knirschte mit den Zähnen, aber sagte nichts weiter.
Der General war damit zufrieden. „Gut, dann ist es geklärt und wir können getrost nach Versailles zurückkehren." Er reichte seiner Frau die Hand. „Oder willst du noch hier bleiben, Emilie?"
„Ich fahre mit dir mit. Die Königin erwartet mich bestimmt." Emilie verabschiedete sich noch von Oscar, André und den Kindern, reichte ihrem Mann die Hand und verließ mit ihm das Zimmer.
Doktor Lasonne reichte André noch die Medizin, die die Schmerzen linderte, untersuchte kurz François, fragte ihn nach seinem Befinden und verabschiedete sich. Sophie geleitete ihn hinaus und Oscar scheuchte die anderen Dienstmädchen aus dem Zimmer. „Ihr geht lieber auch.", empfahl sie François und Marguerite. Die beiden Kinder schüttelten ablehnend den Kopf. „Wir bleiben hier, Mutter, denn wir haben keine Geheimnisse voreinander.", ergänzte François.
„Ja, Mama, ich will bei Papa bleiben.", fügte Marguerite hinzu und schmiegte sich noch enger an André.
Das war das erste Mal seit dem Streit mit Augustin, dass ihre Tochter sie wieder ansprach. Oscar übte deshalb Nachsicht. „Also gut, dann bleibt ihr auch." Sie ging ans Fenster, um von dort aus alle im Blick zu behalten, verschränkte ihre Arme vor sich und richtete ihre Worte sogleich an Augustin. „Dafür, dass du André gefunden hast, bin ich geneigt, meinem Vater zuzustimmen und dich in diesem Haus weiter leben zu lassen. Allerdings ist mein Vertrauen zu dir gebrochen und es wird nicht so schnell wieder zu gewinnen sein. Warum hast du François überhaupt in Gefahr gebracht?"
„Wir wollten nur helfen, Mutter.", rechtfertigte François seinen Bruder, noch bevor dieser zu Wort kam. Mit Hilfe von Augustin setzte er sich vorsichtig auf die Bettkante neben seinem Vater und seiner Schwester – das lange Stehen erschöpfte ihn und belastete seine verletzte Schulter. „Und es war meine Entscheidung, mit ihm zu gehen, weil wir zusammen gehören. Augustin trägt keine Schuld."
„...weil wir zusammen gehören..." Dieser Satz erinnerte André sogleich an das, was Constance ihm über Augustin erzählt hatte und Oscar an den Streit mit ihm. „Das war töricht von euch, aber geschehen ist geschehen.", meinte André mit noch etwas schwacher Stimme und lenkte sogleich das Gespräch in die Richtung, die ihn seit letzter Woche beschäftigte. „Augustin, ist das wahr, dass du im gleichen Dorf und am gleichen Tag geboren wurdest wie François? Das hat mir Constance erzählt und sie weiß das wiederum von Alain."
„Wie bitte?" Unglaube stand Oscar im Gesicht geschrieben. Der eine Traum kam ihr in den Sinn, aber sie verdrängte ihn sofort. Es war bestimmt nur ein Zufall, dass die beiden Jungen in demselben Dorf und an demselben Tag geboren wurden, redete sie sich sogleich ein. Jedoch half ihr das nicht. Die Worte von Augustin, die er ihr in der Hitze des Streites gesagt hatte, drangen wie ein Widerspruch in ihren Kopf ein. Nein, unmöglich, redete sich Oscar auch das ein. Der Junge hatte sie und André schon immer als seine Eltern und François als seinen Bruder gesehen und das war wahrscheinlich der Anstoß für seine Worte. Ihr Herz schlug schmerzlich im Brustkorb und altbekannte Schuldgefühle gegenüber Augustin stiegen wieder in ihr hoch, aber auch das versuchte sie zu verdrängen und durchbohrte den Jungen mit ihrem scharfen Blick. Warum antwortete er nicht auf Andrés Frage? Was stimmte mit ihm nicht?
Augustin schwieg beharrlich. Er hatte doch die Wahrheit seiner Mutter offenbart und sie hatte ihm nicht geglaubt. Wozu dann die Mühe, es noch einmal zu wiederholen? Das zerriss ihm das Herz. François spürte, dass sein Bruder nichts mehr zu diesem Thema sagen würde und sprach für ihn. „Ja, das stimmt, wir sind in ein und demselben Dorf geboren, aber Alain redet gerne viel, wenn er Bier getrunken hat."
Da musste Oscar ihrem Sohn recht geben. Alain besuchte gerne Gasthöfe und seine Geliebte an dienstfreien Tagen, trank gerne viel Bier und wer wusste, was er Constance noch in seiner Trunkenheit erzählt hatte. Betrunkene Menschen schmückten gerne ihre Worte aus und benutzten ihre eigene Fantasie dazu. „Das bedeutet, dass Alain sich geirrt haben könnte?" Oscar hoffte innerlich, dass dem auch so war. Ihre Hoffnung wurde erhört, als Augustin mit einem Nicken bejahte. André glaubte dem zwar nicht, aber ließ das Thema ruhen – bis zu einem günstigeren Moment. Oscar schien Augustin noch nicht verzeihen zu können und es würde eine gewisse Zeit brauchen, bis die Wogen sich glätteten. Wie lange das allerdings dauern würde, konnte André es nicht sagen. Wenigstens nahm Oscar Augustin nach dem Gespräch in die Kaserne mit, wie es ihr Vater angeordnet hatte.
Auf dem Weg in die Kaserne sprachen weder Oscar noch Augustin miteinander und obwohl Oscar das schlechte Gewissen plagte, hüllte sie sich stur in Schweigsamkeit. Für Augustin war das vielleicht gut so. Er wollte keine Fragen mehr beantworten und die kaum verheilten Wunden an seiner gequälten Seele immer wieder aufs Neue aufzureißen. Nur die Tatsache, dass er von seiner Mutter geduldet und nicht mehr vor die Tür gesetzt wurde, tröstete ihn etwas. Mehr konnte er von ihr nicht erwarten. Sie liebte und erkannte François als ihren einzigen Sohn an, ohne zu wissen, dass es noch einen Zweiten gab. Eigentlich hatte sie schon die Wahrheit erfahren, korrigierte Augustin seinen Gedanken, aber glaubte nicht daran. So gesehen glaubte Oscar an das, was sie glauben wollte. Die Wahrheit wurde schon lange zu Lüge und die Lüge zu Wahrheit. Es war alles so verworren und es gab kaum noch Durchblick. Wann würde das alles enden? Oder musste er bis zu seinem Tod damit leben?
In der Kaserne angekommen, wurden Oscar die Überfälle auf Geldverleiher und Bäcker von Oberst Dagous gemeldet. Auch da herrschte eisige Schweigsamkeit zwischen Oscar und Augustin. Sie machte unverzüglich eine Patrouille mit Augustin und Alain durch Paris. Alain beobachtete alle beide. Sie hatten bestimmt eine heiße Diskussion gehabt, vermutete der Soldat. Nach dem André fortgebracht wurde, hatte er mit Constance gesprochen und erfahren, was sie André über Augustin erzählt hatte. Das war nicht viel, aber genug, um sich Gedanken darüber zu machen. Aber vielleicht hatten sie das bereits gemacht und das war der Grund für das distanzierte Verhalten zwischen Mutter und Sohn. Zumindest erfreute es ihn, dass Augustin wieder in seinen Dienst aufgenommen wurde.
„Halt!", befahl Oscar unvermittelt und zügelte bei einem Schaufenster ihr Pferd. In diesem Laden wurden Waffen verkauft und ein angebotenes Gewehr machte sie stutzig. Sie stieg aus dem Sattel und betrachtete die Waffe näher. Dabei weitete sie die Augen. „Aber das Gewehr ist doch aus unserer Kaserne! Was macht es hier?" Ohne eine Antwort abzuwarten, verschwand sie im Laden. Alain und Augustin wollten ihr folgen, aber Oscar kam schon aus dem Laden – zusammen mit dem Gewehr und zeigte den beiden die Initialen, die dort eingraviert waren. Die Waffe gehörte in der Tat der Kaserne. „Ich habe es zurückgekauft. Der Händler wusste nicht, wem das gehörte, aber er verriet mir, dass ein Soldat es ihm vor zwei Tagen verkauft hatte und ich will wissen, wer das war! Deshalb kehren wir jetzt in die Kaserne zurück und ich werde eine Befragung durchführen!"
Alain schüttelte den Kopf. Er stellte sich Oscar in den Weg, als sie mitsamt der Waffe auf ihr Pferd steigen wollte und sah sie ernst an. „An Eurer Stelle würde ich das nicht tun." Er konnte sich schon vorstellen, was nach der Befragung folgen würde. Die Soldaten würden natürlich schweigen, weshalb Oscar den Fall der Militärpolizei übergeben würde.
„Alain hat recht. Das wäre eine schlechte Idee.", meinte auch noch Augustin und stellte sich auf die Seite von Alain.
Oscar schaute entgeistert von einem zu dem anderen. Dass Alain in letzter Zeit anfing ihr zu widersprechen und ihre Befehle zu missachten, konnte sie noch verstehen. Aber Augustin? War das etwa die Rache für ihr Verhalten gegenüber ihm? „Und warum?", verlangte sie auf der Stelle zu wissen. Ihr eisiger Blick galt nur Alain. „Weißt du etwa, wer das getan hat und willst deinen Kameraden nur decken? Sprich rasch!"
Alain ignorierte ihren Zorn. „Das könnte jeder von uns gewesen sein, auch ich. Wir dienen in der Kaserne nicht, um die königliche Familie zu beschützen, sondern um unsere Familie zu ernähren. Deshalb bitte ich Euch, dies für Euch zu behalten."
Seine Worte erinnerten Oscar an das, was er über den Tod einer seiner Geliebten erzählt hatte und auch daran, was ihr Vater zu ihr gesagt hatte. Sie sollte das Vertrauen der Soldaten gewinnen. Vielleicht war es das gewesen, weshalb sie auf Alain hörte. „Ich werde es für mich behalten. Und du versprich mir, dass so etwas nie wieder vorkommt."
„Ich werde meine Kameraden im Auge behalten." Besonders Georges, aber das sagte Alain nicht.
„Gut, dann ist es geklärt." Oscar schob sich an Alain vorbei, stieg galant auf ihr Pferd und als sie in der Kaserne ankamen, versteckte sie das Gewehr in ihrem Offiziersbüro.
