Liebe, Lüge, Wahrheit
Kapitel 77 – Gebrochenes Herz
Georges war tot. Was auf der verlassenen Burg letzte Woche geschah, wussten nur diejenigen, die dabei waren. Oscar, André und Alain sprachen nicht darüber. Nicht einmal François oder Augustin weihten sie darin ein. Sie speisten alle mit der Aussage ab, dass Georges ihren Oberst töten wollte und es blieb André und Alain keine andere Wahl, als auf ihn zu schießen. Aber warum wollte Georges ihren Oberst überhaupt töten, fragten sich die Soldaten und erhielten keine Antwort. Nur Augustin kannte den Grund und war noch mehr besorgt. Denn Georges hatte einen älteren Bruder und dieser würde jetzt erst recht auf Rache sinnen. Eigentlich sollte Augustin froh sein, dass Georges nicht mehr lebte, aber dem war nicht so. Er empfand weder Freude noch Leid. Nicht einmal Genugtuung oder andere Empfindungen. Der Tod von Georges ließ ihn einfach kalt. Nur die Besorgnis wegen Armand herrschte in ihm, aber er versuchte das zu unterdrücken. Armand war nicht hier und würde sein Dorf höchstwahrscheinlich niemals verlassen, redete sich Augustin ein und schaute gedankenverloren aus dem Fenster der Kaserne. Hinter ihm spielte Alain mit seinen Kameraden Karten. Seine Eltern befanden sich im Offiziersbüro und Augustin fragte sich, was sie wohl besprachen? An seiner Seite stand François und schwärmte von der kleinen Schwester von Alain. Sie hieß Diane und war ein Jahr älter als er und sein Zwillingsbruder. François hatte sie erst vor ein paar Tagen zum ersten Mal gesehen, als sie ihrem Bruder am Besuchstag frische Wäsche mitgebracht und die Schmutzigen mitgenommen hatte. Alain hatte ihr seinen Sold gegeben und ihr die Zwillingsbrüder vorgestellt. Diane war ein nettes und fröhliches Mädchen mit hübschen Gesichtszügen, hellbraunem Haar und kastanienbraunen Augen. Kein Wunder, dass viele Soldaten sich zu ihr hingezogen fühlten, aber wegen Alain und dessen Drohungen sich nicht trauten, mit ihr nähere Bekanntschaft zu machen. So auch François. Aber konnte denn ein Knabe von dreizehn Jahren sich in ein Mädchen verlieben? Augustin schielte zu seinem Bruder. Offensichtlich schon, besagte dessen strahlendes Gesichtsausdruck und glänzenden Augen. Augustin spürte dessen Empfindungen auch in sich und hörte den Schwärmereien nur mit halbem Ohr zu. „Hör jetzt bitte damit auf, du siehst wie ein verliebter Narr aus.", wollte er ihm sagen, aber da ging die Tür auf und Pierre stürzte mit einem breiten Lächeln im Gesicht rein. „Alain! Deine Schwester ist wieder hier!"
„Die kleine, süße Diane?", rief Louis und hörte schon die drohende Stimme von Alain: „Ihr alle bleibt fern von ihr, sonst bekommt ihr es mit mir zu tun! Verstanden?" Alle nickten und Alain marschierte hinaus. François schloss sich ihm unverzüglich an und Augustin verdrehte die Augen. Jetzt musste er auch noch auf seinen Bruder noch mehr achtgeben und dafür sorgen, dass er keinen Fehler beging. Er folgte den beiden nach draußen auf den Hof.
Diane sah heute noch glücklicher aus als vor zwei Tagen und ihr junges Gesicht strahlte vor Freude mit der Sonne um die Wette. „Alain, ich werde bald heiraten.", offenbarte sie ihrem Bruder nach der Begrüßung. Damit würde sie vielen Männern in der Kaserne das Herz brechen. Vor allem François. Augustin spürte einen schneidenden Schmerz in seiner Brust und dachte, er würde gleich in einen Abgrund fallen. Aber das waren nicht seine Empfindungen. Er schaute zu seinem Zwillingsbruder und merkte, wie dessen Gesichtszüge entgleisten.
„Dann hast du also den Richtigen gefunden?", fragte Alain überrascht seine Schwester, ohne zu merken, was in den Zwillingsbrüdern gerade vorging.
„Oh ja, Alain, und ich bin sehr glücklich mit ihm! Er ist so schrecklich klug wie du!", offenbarte Diane weiter und stürzte François noch mehr in den Abgrund. „Wir wollen nächsten Monat heiraten und ich wünsche mir so sehr, dass deine Tochter auch mit dabei ist. Es wird Zeit, dass wir uns endlich kennenlernen!"
„Also gut, ich werde bei meinem nächsten dienstfreien Tag Anna einen Besuch abstatten und es ihr sagen." Alain kratzte sich verlegen am Hinterkopf, aber er lachte. Er hatte seiner Schwester, und auch seiner Mutter, schon genug von Anna erzählt, aber sie ihnen noch nie vorgestellt. Irgendwie kam es nicht dazu. Diane hatte dennoch recht. Es war wirklich Zeit, dass Anna und sie sich kennenlernten.
„Ihr seid natürlich auch eingeladen!", sagte Diane derweilen zu den Zwillingen und stutzte bei dessen betrübten Gesichtsausdrücken. „Was ist mit euch los?"
„Nichts!", murmelte François mit feuchten Wimpern, drehte sich abrupt um und rannte weg.
Bevor Augustin seinem Bruder folgte, schenkte er Diane einen bitterbösen Blick. „Danke für die Einladung, aber wir verzichten, denn du hast ihm gerade das Herz gebrochen." Dann war auch er fort.
Diane sah den beiden mit Gewissensbissen nach. Durch Alain wusste sie, dass die zwei wirklich Zwillingsbrüder waren und somit auch deren Geheimnis kannte. Aber auf der Bitte von Alain, sprach sie nicht darüber. „Das tut mir leid... ich wollte niemanden verletzen...", flüsterte sie.
„Mach dir keine Sorgen, Schwesterherz, die zwei werden das schon verkraften." Alain legte unbekümmert einen Arm um die Schultern seiner Schwester und geleitete sie zum Tor. „Denk an deine Hochzeit, aber sei vorsichtig auf den Straßen. Heute Abend braut sich nämlich was zusammen und ich will, dass du und Mutter das Haus heute nicht verlasst."
„Das werden wir machen, Bruder." Diane verabschiedete sich und Alain begab sich unverzüglich in das Offiziersbüro. Er wollte Urlaub für den nächsten Monat beantragen. Immerhin wollte er die Hochzeit seiner Schwester nicht verpassen. Er klopfte an der Tür und nach einem festen „Herein!" von Oscar, trat er ein.
Oscar saß am Tisch, vor ihr standen die Zwillinge und am Fenster André. Alain war etwas überrascht, die Brüder hier zu sehen und das auch noch mit ausdruckslosen Mienen. Also hatten sie die Neuigkeit über die Heirat seiner Schwester verkraftet, vermutete er und brachte gleich sein Anliegen vor. „Oberst, meine Schwester will nächsten Monat heiraten und ich bitte Euch deshalb um eine Woche frei."
Augustin und François sahen ihn nicht an. Dicht beieinander stehend, starrten sie stur auf ihre Mutter, die sich gerade von ihrem Stuhl erhob. „Oh, herzlichen Glückwunsch, Alain. Und natürlich bekommst du zu der Hochzeit deiner Schwester eine Woche frei."
André entriss sich von dem Fenster, kam zu ihm und klopfte ihm beglückwünschend auf den Rücken. „Auch von mir, herzlichen Glückwunsch zu der Heirat deiner Schwester. Sie ist ein bezauberndes Mädchen und ich wünsche ihr von Herzen, dass sie glücklich wird." Er warf einen Blick auf François und Augustin. „Wollt ihr nicht auch gratulieren?"
François ballte eine Hand zur Faust und versuchte krampfhaft die Tatsache zu verarbeiten, dass Diane heiratete. Seine Beherrschung und dass er nicht wie ein kleiner, weinender Junge vor seinen Eltern zusammenbrach, verdankte er der Nähe von Augustin. Sein Bruder fasste sein Handgelenk und deutete ihm damit, die Faust zu lockern. François tat es, wenn auch widerwillig. Seine Eltern sollten nichts von seinen verletzten Gefühlen wissen. Sein gebrochenes Herz würde bestimmt mit der Zeit heilen und die Anwesenheit seines Zwillingsbruders würde ihm dabei die nötige Kraft geben, sein Leiden zu überstehen. Sobald seine Faust locker war, lies Augustin sein Handgelenk frei und beantwortete die Frage seines Vaters mit einem verstellten Lächeln. „Wir haben ihm und Diane schon draußen gratuliert."
André kam es so vor, als herrsche eine gewisse Distanz zwischen Alain und den beiden Knaben, aber vielleicht bildete er sich das nur ein. Auch Oscar fiel das distanzierte Verhalten auf, aber sie nahm das nicht sonderlich zur Kenntnis. Es gab gerade Wichtigeres zu besprechen und wenn Alain schon hier war, kam sie gleich zur Sache. „Uns ist gerade eine Meldung zu Ohren gekommen, dass es heute Abend in der Stadt zu Aufständen kommen könnte. Ob das stimmt, wissen wir nicht, aber überprüfen werden André und ich es trotzdem. Wir werden heute Nacht auf Patrouille gehen. Teile das deinen Kameraden mit und nimm die, die heute Nachtwache haben, Alain. Seid aber äußerst vorsichtig und vermeidet Kämpfe. François und Augustin patrouillieren in der Nähe der Kaserne. Egal was passiert, ihr solltet alle Ruhe bewahren und mir schon die kleinsten Vorfälle sofort melden."
„Jawohl, Oberst." Alain salutierte und war dann fort.
Die Sonne ging am westlichen Horizont runter und überließ den Platz der Nacht. Gespenstische Stille herrschte auf den Straßen und nur den Wind hörte man in den dreckigen Gassen pfeifen. Paris glich einer Geisterstadt. In kleinen Gruppen aufgeteilt, ritten Oscar und ihre Männer durch die leeren Straßen stets auf der Hut und verließen sich auf ihre Sinne. Auch Augustin und François. Eigentlich sollten sie in der Nähe der Kaserne bleiben, aber François wollte noch ein letztes Mal Diane sehen. Sein gebrochenes Herz und seine zerrissenen Gefühle verlangten das von ihm.
„Denkst du, dir würde das etwas bringen?", versuchte Augustin seinen Bruder zum Umkehren zu bewegen. Jedoch erfolglos.
François seufzte betrübt. Sie waren an dem Haus, wo Alain und seine Familie wohnten, fast angekommen. Von daher gab es keinen Weg mehr zurück. Dennoch zügelte François sein Pferd. Aber nicht, um der Bitte von Augustin zu folgen, sondern weil er Diane sah. Und sie war nicht alleine. Sie stand am Hauseingang und unterhielt sich mit einem Mann, der nach der Kleidung zu urteilen ein Adliger war. Auch die Kutsche, die nicht weit von ihm stand, zeigte das Wappen eines Adelhauses. „Das muss bestimmt ihr Verlobter sein...", vermutete François und ritt etwas näher heran.
Augustin seufzte entrüstet und folgte ihm auf seinem Pferd. Je näher sie kamen, desto besser hörten sie die Unterhaltung und das klang nicht nach schmiedenden Plänen für die Heirat oder gar nach schönen Worten zwischen einem Liebespaar. Im Gegenteil. Diane klang sehr aufgelöst. „Und das sagst du mir jetzt? Nachdem du mir noch gestern die Liebe geschworen hast?"
„Diane, beruhige dich.", versuchte der Mann in einem neutralen Ton zu erklären. „Gestern erhielt ich auch kein Angebot von einer wohlhabenden Dame. Versteh mich doch, ich bin ein verarmter Adliger und diese Dame kommt aus einer reichen Familie. Ich muss diese Möglichkeit ergreifen, solange sie sich mir bietet. Du würdest das doch auch tun, und du kannst nach meiner Heirat immer noch meine Geliebte werden."
„Wie bitte?" Diane geriet in Hysterie und verpasste dem Mann eine schallende Ohrfeige. „Verschwinde und komm nie wieder!" Sie drehte sich um und rannte ins Haus, ohne die zwei Pferde mit François und Augustin zu bemerken. „Dieser Bastard...", knurrte François und ritt sein Pferd schneller an.
„Was hast du jetzt vor?", wollte Augustin wissen, aber François überhörte ihn. Er hatte nur den Mann im Auge, der Diane auf so eine schändliche Weise hintergangen hatte.
Der Mann stieg derweilen in die Kutsche und fuhr fort. Aber weit kam er nicht. Schon in der nächsten Seitenstraße umzingelten viele Menschen seine Kutsche. Augustin griff die Zügel des Pferdes seines Bruders und zwang ihn anzuhalten. „Das müssen wir unserer Mutter melden!", entschied er, aber François schüttelte nur den Kopf. „Nein, Augustin, ich will sehen, was passiert!"
Immer mehr Menschen, bewaffnet mit Mistgabeln und Stöcken, kamen aus verschiedenen Richtungen und riefen hasserfüllt: „Nieder mit dem Adel! Der Adel soll für alles bezahlen!" Sie zerrten den Kutscher vom Kutschbock und schlugen ihn nieder, während die anderen den Verlobten aus der Kutsche zerrten und ihn tot prügelten. Das Wiehern der Pferde, die wütenden Menschen und verzweifelten Hilferufe des Verlobten von Diane brannten sich in den Köpfen der Zwillinge unauslöschlich ein.
Dann verstummten die Schreie des Verlobten von Diane, aber nicht das tobende Gejohle der Menschen. Sie trennten die Pferde von der Kutsche und die Tiere flüchteten panisch davon. Brennende Fackeln wurden gebracht und wenig später sahen die Brüder zu, wie die Kutsche in Flammen aufging. „Diane..." François schluckte hart. „Ich muss es ihr sagen." Er wendete sein Pferd und stieß ihm heftig in die Seiten. Der wütende Mob war so sehr mit der Kutsche beschäftigt, dass die zwei Knaben nicht sonderlich auffielen.
François stieg hastig vom Pferd und rannte ins Haus. Augustin folgte ihm. „Weißt du überhaupt, in welcher Wohnung Diane lebt?"
Nein, das wusste François nicht, aber er folgte seinem Gefühl und schon bald hörte er Schreie einer Frau. „Diane! Mach sofort die Tür auf!" Das kam aus dem oberen Stock. François beschleunigte seinen Schritt. Auch Augustin ahnte, dass etwas nicht stimmte und nahm mit seinem Bruder gleich zwei Stufen beim Hochsteigen der Treppe.
Die Tür zu der Wohnung war nicht einmal richtig zu. Sie war angelehnt und ermöglichte den Brüdern einen schnelleren Zugang in das Innere. Sie platzten in einen großen, vom Ruß geschwärzten und mit schwachem Licht einer Kerzen beleuchteten Raum herein und fanden gleich die Frau. Das war die Mutter von Alain und Diane. Sie stand vor einem verschlossenen Zimmer, klopfte an der Tür und rief verzweifelt: „Mach die Tür auf, ich bitte dich! Was ist überhaupt passiert? Diane! Antworte mir, bitte!"
Francois stürmte nach vorn. „Was ist mit Diane?"
Die Frau sah mit verweintem Gesicht die beiden jungen Männer in den blauen Soldatenuniformen. „Ihr Verlobter hat sie sitzen gelassen... Diane war nach dem Gespräch mit ihm sehr aufgelöst, hat sich in ihrem Zimmer eingesperrt und macht die Tür nicht mehr auf!"
„Verzeiht, wir sind Freunde von Alain...", meinte Augustin kurz angebunden und schob die Frau zur Seite. Zusammen mit seinem Bruder brach er die alte und modrige Tür auf und erstarrte vor Schreck.
In ihrem Hochzeitskleid gekleidet stand Diane auf einem Stuhl und legte ihren Kopf in die Schlinge. Den Strick hatte sie aus ihren Laken angefertigt und ihn an einem Dachbalken befestigt. Sie sah, wie die Tür aufgebrochen wurde und beeilte sich. „Vergebt mir...", sagte sie nur und stieß den Stuhl unter ihren Füßen weg.
„Diane, nein!"
Die Schlinge drückte zu, nahm ihr den Atem weg, aber brach ihr nicht das Genick. Ihr schmaler Körper wog zu wenig, um ihr den sofortigen Tod zu bescheren und sie von dem Leid des gebrochenen Herzens zu erlösen. Diane schnappte nach Luft, klammerte sich an dem Strick um ihren Hals und zappelte, aber starb nicht. Die wenigen Sekunden verstrichen wie eine endlose Ewigkeit und dann spürte sie die Hände und hörte wie aus der Ferne den gellenden Schreckenslaut ihrer Mutter.
François hielt sie fest um die Beine. Augustin stellte schnell den Stuhl, kletterte darauf und schnitt ihr den Strick ab, noch bevor sie ohnmächtig werden konnte. Ihr Körper fiel zusammen mit François und einen Augenblick später lag sie in seinen Armen. Augustin entfernte die restliche Schlinge von ihrem Hals und ihre Mutter zog sie in ihre Arme. Madame de Soisson zitterte, drückte den Körper ihrer Tochter an sich und bittere Tränen flossen ihr ununterbrochen die Wangen herab. „Warum hast du das getan, Diane? Warum wolltest du dein Leben beenden? Wir lieben dich doch so sehr..."
Warum war eine Frage, die Diane sich auch stellte. Warum wurde sie überhaupt gerettet? Warum konnte sie nicht einfach sterben? Selbstmord galt als einer der größten Sünden und versprach ein ewiges Höllenfeuer in der Verdammnis. Diane war es die ganze Zeit bewusst und dennoch hatte sie es getan. Denn der Mann, den sie geliebt und der sie auf so eine schändlichste Weise hintergangen hatte, brannte womöglich selbst im Feuer der Hölle. Diane hatte es zuvor aus ihrem Fenster mitbekommen, wie seine Kutsche vom wütenden Mob überfallen wurde. Sie hatte seine Schreie gehört und dabei an ihrem Strick gearbeitet. Jetzt war alles vorbei und anstelle des schnellen Todes würde sie nun weiter an gebrochenem Herzen leiden...
