Liebe, Lüge, Wahrheit

Kapitel 78 – Wirrwarr

Die Kutsche brannte noch immer lichterloh und versetzte die wütenden Menschen in Euphorie – so als hätten sie gerade einen Sieg errungen und ein großes Fest veranstaltet. Ein Fest auf den zertrampelten und totgeprügelten Leichen des Verlobten von Diane und dessen Kutscher...

Augustin sah nicht hin, als er auf sein Pferd stieg und sich auf die Suche nach seinen Eltern machte – fort von der johlenden Menge und noch bevor sie ihn entdeckten. François war zusammen mit Madame de Soisson bei Diane geblieben und es oblag nun Augustin, das schreckliche Ereignis seiner Mutter zu melden. Und auch Alain über den unglücklichen Vorfall mit Diane zu unterrichten. Wie sollte er ihm das sagen? Und vor allem, wo sollte er nach ihnen suchen? Paris war eine große Stadt und soweit Augustin wusste, patrouillierten seine Eltern und Alain mit ein paar Kameraden getrennt.

Die Geräusche vom Kampfgetümmel, vermischt mit den wütenden Schreien und Weinen eines Kindes drangen zu seinen Ohren und Augustin schlug unverzüglich die Richtung ein, woher es kam. Menschen rannten aus einer Straßenseite panisch ihm entgegen und schrien: „Lauft! Die Soldaten des Königs wollen uns alle töten!"

Die Soldaten des Königs? Wo kamen die auf einmal her? Augustin achtete nicht auf die strömende Menge der Flüchtenden und drang weiter vor. Sein Pferd scheute und wieherte, aber Augustin stieß ihm immer wieder in die Seite und trieb ihn voran. Bald sah er sie und zügelte sein Pferd. Wenn schon das Totprügeln zweier Menschen und Niederbrennen einer Kutsche schrecklich genug zum Ansehen war, dann herrschte hier ein reines Massaker. Eine Gruppe Soldaten metzelte jeden nieder, der eine Mistgabel oder ein Stock in der Hand hielt. Nicht einmal Kinder und Frauen wurden verschont. Augustin konnte zwar in der Dunkelheit nicht vieles erkennen, aber die Umrisse der Menschen und Gegenstände schon. Wie den kleinen Jungen mit dem feuerroten Haar zum Beispiel. Er floh zusammen mit seinem Vater. Zwei Soldaten richteten auf sie ihre Gewehre und deren Hauptmann erteilte auf seinem Pferd weitere Befehle: „Der Aufstand muss mit jedem Mittel gestoppt werden! Feuer frei! Und sucht nach Oberst de Jarjayes! Ihr darf nichts zustoßen!"

Wie sehr Augustin diesen Mann hasste... Der kleine Junge weinte, er wollte nach Hause, er wollte zu seiner Mutter. Sein Vater hob ihn hoch und da erschollen Schüsse. Er wurde getroffen und fiel zusammen mit seinen Sohn, den er mit seinem breiten Körper unter sich vergrub. Augustin stieß heftig seinem Pferd in die Flanken und galoppierte los. Er kannte zwar den Mann nicht, aber dafür den Jungen.

„Feuer einstellen!", erscholl die tiefe Stimme aus einer anderen Richtung, die Augustin nur mit halbem Ohr wahrnahm, aber die ihm sehr bekannt war. Hoch im Sattel und mit einem Duzend Soldaten aus der königlichen Garde, zügelten sie direkt vor den Soldaten der königlichen Armee und dessen Hauptmann ihre Pferde. „Der Befehl war, die Aufstände zu stoppen und nicht unschuldige Menschen zu töten, Graf von Fersen!"

„Ihr scheint zu vergessen, dass der Aufstand nur auf diese Weise gestoppt werden kann, Graf de Girodel!", erwiderte höhnisch der Hauptmann der Soldaten der königlichen Armee. „Wer sich gegen den König und besonders gegen die Königin auflehnt, hat den Tod verdient!"

Victor bemerkte das heran preschende Pferd, wie ein blondgelockter Knabe aus dem Sattel sprang und zu dem getöteten Mann mit dem Kind niederkniete. Er hatte Augustin erkannt, aber konzentrierte sich auf den schwedischen Grafen. „Ich übernehme ab nun die Befehlsgewalt über Eure Soldaten, Graf von Fersen und Ihr kehrt nach Versailles zurück! Oder am besten, Ihr verschwindet nach Schweden und lasst die Königin, das französische Volk und unser Land in Ruhe! Denn seitdem Ihr wieder in Frankreich seid, lehnen sich die Menschen gegen das Königshaus und gegen die Monarchie noch mehr auf!"

Graf von Fersen knirschte gekränkt mit den Zähnen und fasste die Zügeln seines Pferdes so stark, dass die Fingerknöchel weiß hervortraten. Die Worte von Girodel hatten ihn empfindlich getroffen, aber nahmen ihm nicht seine Würde. „Gut, Graf de Girodel, ich reite nach Versailles zurück und werde das machen, was hier anscheinend niemand mehr macht! Nämlich die Königin von Frankreich und ihre Familie zu beschützen!" Er wendete abrupt sein Pferd, gab ihm die Sporen und galoppierte davon.

Augustin hatte jedes Wort mit angehört, während er den getöteten Mann auf den Rücken drehte und sich um den kleinen Jungen mit dem roten Haar kümmerte. „Philippe..."

Der Junge öffnete seine verweinten Augen, erkannte Augustin und drückte sich schluchzend an ihn. „Was ist mit Papa? Warum bewegte er sich nicht? Ich will zu Mama!"

Augustin drückte den Jungen an sich und wusste nicht, was er sagen sollte. Wie konnte er einem siebenjährigen Kind erklären, dass sein Vater tot war? Erschossen direkt vor seinen Augen? Dieser verdammte Graf von Fersen... Augustin hörte Schritte, spürte, dass jemand neben ihm stehen blieb und erhob sich, ohne Philippe aus den Armen loszulassen. „Danke, dass Ihr gekommen seid, Onkel. Bitte kümmert Euch um Philippe. Er ist der Sohn von Marie, der Kinderfrau von Marguerite." Er befreite sich aus den Armen des Jungen und ging zu seinem Pferd zurück. Jetzt musste er nicht nur seine Eltern und Alain finden, sondern auch der besagten Marie über den Tod ihres Mannes unterrichten.

„Warte, Augustin!", hielt ihn Victor auf. Es war schon ein seltsames Gefühl, nach all den turbulenten Ereignissen der letzten Monate mit dem Knaben zu reden. Aber Victor zwang sich dazu. „Kannst du mir erklären, was du hier machst? Und wo sind François und deine Zieheltern?"

Augustin tat so, als hätte er die Fragen überhört. Galant stieg er auf sein Pferd und warf einen kühlen Blick auf seinen ehemaligen Erzieher, bevor er auf der Suche nach seinen Eltern weiter ritt. „Das werde ich später erklären. Bitte bringt Philippe auf das Anwesen de Jarjayes." Er wendete sein Pferd und ritt fort.

Auch wenn Girodel dieses distanzierte Verhalten seines einstigen Schutzbefohlenen schmerzte, rief er dennoch zwei Soldaten zu sich. „Ihr beide sorgt für die Sicherheit meines Patenkindes! Verstanden?"

„Jawohl, Kommandant." Die zwei Angesprochenen stiegen auf ihre Pferde und folgten Augustin.

Bevor Girodel sich um den kleinen Jungen kümmerte, entließ er die Soldaten der königlichen Armee und befahl seinen Männern, eine Bahre zu beschaffen und den Körper des getöteten Mannes zum Anwesen de Jarjayes zu bringen. Dann widmete er sich dem Jungen. „Du reitest bei mir auf dem Pferd. Ich bringe dich zu deiner Mutter und zu Marguerite."

Oscar hörte aus der Ferne Gewehrschüsse, undefinierbare Schreie der Menschen und galoppierte mit André in diese Richtung. Mitten auf dem Weg schlossen sich ihnen Alain und seine drei Kameraden an. „Was auch immer passiert, es wird nicht auf die Menschen geschossen!", befahl Oscar ihren Männern und erhielt ein zustimmendes „Jawohl, Oberst!" von ihnen.

Schon bald preschte ihnen ein einzelner Reiter entgegen. Immer mehr erkannte Oscar die Silhouette des Mannes durch die Straßenlaternen und zügelte überrascht ihr Pferd. „Graf von Fersen?" Was machte er hier ganz alleine?

Dieselbe Frage stellten auch ihre Männer und flankierten sie von beiden Seiten. „Er hat uns gerade noch gefehlt...", murmelte André für sich und schaute zu seiner Geliebten.

„Oscar!" Auch Graf von Fersen erkannte sie und zügelte sein Pferd direkt vor ihr. „Gut, dass Ihr hier seid! Ich brauche Verstärkung! Die Aufständischen sind nicht zu stoppen. Deshalb schickt einen Eurer Männer in die Kaserne und holt mehr Soldaten!"

Oscar runzelte die Stirn. Der befehlende Ton des Grafen gefiel ihr nicht. Auch André, Alain und die drei Kameraden verzogen missfällig ihre Gesichter. Jedoch bevor Oscar ein Wort sagen konnte, wurden sie umkreist. Männer und Frauen krochen aus verschiedenen Richtungen, naheliegenden Seitengassen und umstellten die kleine Gruppe. Die Männer trugen Stöcke oder andere, als Waffen geeignete, Gegenstände und die Frauen hoben ihre blanken Fäuste in Richtung der berittenen Soldaten. Dabei hoben sie ihre Stimmen: „Lasst die Soldaten des Königs nicht entkommen! Die sind weniger als wir!"

„Halt!", rief Oscar so laut wie sie konnte. „Wir sind nicht hier, um gegen euch zu kämpfen oder euch gar zu töten!"

Die Menschen blieben zwar stehen, aber hielten ihre Stöcke und Fäuste angriffsbereit. „Und das sollen wir Euch glauben?", spie ein Mann und spuckte abfällig vor die Hufe der Pferde.

„Ja!", erwiderte Oscar mit lauter und klarer Stimme. „Die Soldaten, die neben mir stehen, sind genauso bürgerlich wie ihr und schon alleine aus diesem Grund wird keiner von ihnen auf euch das Gewehr richten!"

Graf von Fersen dachte, er hatte sich verhört. Oscar musste nicht mehr bei Sinnen sein! Denn das, was sie sagte, glich einem Verrat gegenüber dem Königshaus und dem Adel! „Wisst Ihr überhaupt, was Ihr da sagt, Oscar?", empörte sich von Fersen und schnauzte sogleich ihre Männer an. „Zieht sofort eure Gewehre und vertreibt den Pöbel!"

„Das werden wir nicht tun!", verlautete Alain rau und versuchte sein tänzelndes Pferd unter sich zu beruhigen. „Nur unser Oberst kann hier Befehle erteilen!"

„Das ist eine Befehlsverweigerung!" Graf von Fersen schaute Oscar entsetzt an. „Ihr scheint zu vergessen, dass Ihr dem König und der Königin verpflichtet seid!"

Oscar wollte etwas dazu erwidern, als hinter Graf von Fersen die Menschen sich aufteilten und eine Gasse für einen Reiter bildeten. „Und Ihr scheint zu vergessen, dass Eure Heimat in Schweden liegt, Graf von Fersen!", sprach der Reiter mit heller Stimme, umrundete das Pferd des Grafen und stellte sich zwischen ihm, seinen Eltern und seinen Kameraden. „Ihr hasst das französische Volk und metzelt es nieder, ohne den Grund für den Aufstand zu kennen! Und Ihr macht nicht einmal vor den Kindern Halt! Geht nach Versailles zurück, noch bevor die Situation wegen Euch eskaliert!"

„Graf von Fersen? Ist das nicht der Liebhaber der Königin?", murmelte ein Mann zu seinem Nachbar und rief sogleich provokativ zu seinen Mitbürgern: „Tötet ihn! Wegen ihm und seiner verschwenderischen Österreicherin müssen wir vor Hunger und Krankheiten sterben!" Er selbst machte den ersten Schritt mit gehobener Faust auf den Grafen zu und die Menschen folgten ihm mit lauten und hasserfüllten Zustimmungen.

Graf von Fersen, fassungslos darüber, dass Oscar nichts unternahm, sah nur eine Möglichkeit zu entkommen. Er stieß seinem Pferd heftig in die Seiten und ritt zwischen den Soldaten von Oscar hindurch. Der wütende Mob vergaß augenblicklich die Soldaten und folgte dem schwedischen Grafen. In wenigen Sekunden befand sich Oscar alleine mit ihren Männern und dem berittenen, blondköpfigen Reiter. „Augustin? Was machst du hier?", fragte sie ihn beunruhigt. „Wo ist François? Was ist passiert?" Bitte, sag nicht, dass mein Sohn schon wieder verletzt wurde, flehte sie in Gedanken und spannte ihre Muskeln an.

Augustin sah sie nicht an. Er richtete sein Augenmerk auf Alain. „François ist bei Diane. Sie wollte sich erhängen, weil ihr Verlobter sie hintergangen und verlassen hat. François und ich waren in der Nähe und haben sie in der letzten Minute retten können."

Alain hörte ihm nicht weiter zu und galoppierte geschwind nach Hause. Diane! Seine kleine Schwester! Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Er musste bei ihr sein und mit seinen eigenen Augen sehen, wie es ihr wirklich ging! Oscar hielt ihn nicht auf und starrte nur verdattert Augustin an. Es beruhigte sie etwas, dass es ihrem François gut ging und das mit Diane tat ihr sehr leid, aber Augustin schien noch nicht alles gesagt zu haben. „Sprich weiter!", ordnete sie den Knaben an.

Augustin holte tief Luft und erzählte, wie es dazu gekommen war und warum Diane den Freitod wählen wollte. Auch den Vorfall zwischen Girodel und Graf von Fersen verschwieg er nicht. Oscar überlegte nicht lange und forderte ihn auf, den Ort des Gemetzels zu zeigen und Augustin tat es.