Liebe, Lüge, Wahrheit
Kapitel 82 – Reise in die Vergangenheit
Der Morgen graute. Oscar zog ihre Zivilkleidung an, sagte Sophie Bescheid, dass sie mit André bald zurückkommen würde und verließ das Haus. André wartete auf sie mit zwei gesattelten Pferden am Stall und sobald sie ihn erreichte, stiegen sie in den Sattel und galoppierten geschwind nach Paris.
Rosalie war überrascht, ihre Schutzpatronin zu sehen, aber sogleich warf sie sich ihr in die Arme. „Oh, Lady Oscar, ich bin so froh, dass Euch nichts passiert ist! François und Augustin haben uns alles erzählt."
Inwiefern alles, lag es Oscar auf der Zunge, aber sie schob diese Frage in den Hintergrund. Es gab wichtigere Sachen zu klären. Sanft entfernte sie Rosalie von sich und schaute in ihr verweintes Gesicht. „Ich freue mich, dich auch wieder zu sehen, Rosalie, und wie ich sehe, bist du glücklich mit Bernard."
Rosalie zeigte ein schüchternes Lächeln. So wie sie es früher getan hatte, wenn Oscar sie tief und eindringlich anschaute. „Ich danke Euch. Bernard ist ein guter Ehemann. Aber kommt zum Tisch, ich mache einen Tee für Euch und André.", lud sie etwas verspätet ihre Gäste ein und verschwand dann in der Küche.
Bernard hatte derweilen André begrüßt, mit ihm ein paar Worte ausgetauscht und nun reichte er Oscar die Hand. „Ihr und André seid bei uns immer willkommen."
„Danke." Oscar schüttelte Bernard die Hand und dann folgte sie ihm, zusammen mit André, zum Tisch.
Rosalie kam auch dorthin und teilte Tassen und Besteck für vier Personen auf. „Marguerite und Philippe schlafen noch.", erzählte sie währenddessen. „Aber wenn Ihr wollt, kann ich sie wecken."
„Nein, Rosalie, lass sie noch schlafen.", sagte Oscar und setzte sich schon an den Tisch. „Wir sind sowieso wegen etwas Anderem hier."
André nahm Platz neben seiner Geliebten und runzelte stutzig die Stirn. „Du sagtest, Marguerite und Philippe? Heißt das etwa, dass François und Augustin nicht da sind?"
Rosalie bestätigte seine Vermutung mit einem Nicken und ging dann wieder in die Küche, um Tee zu holen. Bernard ergänzte an ihrer Stelle genauer: „François und Augustin brachten Marguerite und Philippe zu uns und dann waren sie wieder weg. Sie wollten eine Freundin hier in Paris besuchen."
„Bestimmt sind sie jetzt bei Diane.", vermutete André und Oscar dachte an das Gleiche. „Das wäre möglich. Unsere Söhne wollen sicherlich Diane wegen ihrem Bruder beistehen, aber das ändert nichts an unserem Vorhaben.", schlussfolgerte sie.
Rosalie kam mit einer Kanne Tee und bekam den letzten Satz von Oscar mit. Weder sie noch Bernard schienen überrascht zu sein, dass Oscar nicht Adoptivsöhne sagte, sondern richtig Söhne. Sie zeigten so etwas wie Verständnis. „Nachdem Eure Söhne weg waren, erzählte uns Marguerite die Wahrheit, dass Ihr und André keine Zieheltern, sondern ihre wahren Eltern seid."
Oscar und André tauschten einen staunenden Blick miteinander aus. „Und ihr seid nicht überrascht?", fragte Oscar ihren einstigen Schützling.
„Nein." Rosalie goss den Tee in die Tassen ein und nahm neben Bernard Platz. „Ihr seid so ein lieber Mensch, Lady Oscar, und ich habe mir schon immer gewünscht, dass Ihr mit André Euer Glück findet."
„Danke dir, Rosalie." André und Oscar waren gleichermaßen gerührt. Es war gut zu wissen, dass Rosalie die Tatsachen so annahm wie sie waren und ihnen keine Fragen stellte oder gar Vorwürfe machte. Das schätzten Oscar und André an ihr sehr. Oscar richtete ihr Augenmerk auf Bernard. Für ihn schien das nicht sonderlich von Interesse zu sein, ob die Findelkinder wirklich ihre Kinder waren oder nicht. Vielleicht war das auch gut so, dachte Oscar und wechselte das Thema. Sie brachte dem ehemaligen schwarzen Ritter sogleich ihr Anliegen vor. „Ich brauche deine Hilfe, Bernard. Meine zwölf Soldaten sitzen unschuldig im Gefängnis und sollen exekutiert werden, aber dazu darf es nicht kommen. Sie sind alle bürgerlicher Herkunft. Wirst du mir helfen können, Bernard?"
„Ich schulde Euch doch einen Gefallen." Bernard meinte damit seine Freilassung, die er ihr vor ein paar Jahren zu verdanken hatte. Damals, als sie ihn als schwarzen Ritter entlarvt, ihn angeschossen und gefangen genommen hatte, hätte sie ihn dem Richter übergeben können. Stattdessen aber hatte sie ihn zur Pflege zu Rosalie gebracht, wofür er ihr noch mehr dankbar war. Rosalie kannte er noch von früheren Zeiten und so kam es dazu, dass sie nach seiner Genesung seine Frau wurde. Bernard schob diese Erinnerung erst einmal beiseite und stellte hilfsbereit Oscar die Frage: „Was kann ich für Euch tun?"
Oscar atmete erleichtert auf. „Die Soldaten sitzen im Gefängnis von Abaye."
„Das Gefängnis von Abaye ist eine wahre Festung.", bemerkte Bernard.
„Ich weiß. Ihr braucht sicher ein paar Leute dafür. Nein." korrigierte sich Oscar sogleich. „Nicht ein paar, wahrscheinlich Eintausend oder gar Dreitausend."
„Das wird kein Problem sein." Bernard zog seine Mundwinkel nach oben. „Solche Menschen wie Euch können wir gut auf unserer Seite brauchen. Wenn Ihr bereit seid, können wir jetzt schon damit beginnen, die Menschen zu versammeln und bevor die beorderten Soldaten aus allen Ecken des Landes hier in der Stadt einmarschieren und unser Vorhaben vereiteln."
„Was für Soldaten?" Oscar sah ihn auf einmal fragend an.
„Ihr wisst das nicht?" Jetzt war Bernard überrascht. Als ehemaliger Kommandant in der königlichen Garde sollte Oscar so etwas eigentlich wissen. Aber vielleicht hatte die Nachricht sie noch nicht erreicht, vermutete Bernard und klärte sie auf. „Aus einer sicheren Quelle erfuhr ich gestern ungute Neuigkeiten. Der König und die Königin ließen hunderttausende Soldaten aus allen Ecken des Landes nach Paris befördern, um die königliche Familie zu schützen und weitere Aufstände niederzuschlagen." Das hieß auch, dass diese Soldaten auch ihre Waffen einsetzen würden, wenn es irgendwelche Proteste seitens der Bevölkerung geben sollte.
„Das ist unfassbar.", murmelte André fassungslos.
Das fand Oscar auch. „Nach der Freilassung meiner Männer werde ich mit der Königin sprechen und sie bitten, diese Truppen aus der Stadt zurückzuziehen.", beschloss sie und dann verabschiedete sie sich von Rosalie.
Um keine Zeit zu verlieren, ritt sie mit ihrem Geliebten in die Kaserne und motivierte ihre Soldaten für die Patrouillen in der Stadt, während Bernard die Menschen auf die Straßen versammelte und sie zu einer friedlichen Demonstration aufforderte. Und das gelang ihm sehr gut. Etwa 3000 Menschen versammelten sich am Nachmittag vor dem Gefängnis und bewogen damit den König, die zwölf Soldaten freizulassen. Alain und seine elf Kameraden waren somit wieder auf freien Fuß. „Es ist schön, wieder die Freiheit zu spüren." Alain grinste breit. „Ich hätte nicht gedacht, dass ich diesen Tag noch erlebe."
„Diesen Erfolgt habt ihr nicht dem Einfluss Bernards, sondern meinem Einfluss zu verdanken. Es war die Macht des Volkes." Oscar zog ihre Mundwinkel sogar leicht nach oben, als die zwölf Soldaten vor ihr Halt machten. Man hat sie zur abendlichen Stunde freigelassen und all die Menschen, die sich hinter Oscar versammelt hatten, bejubelten sie vor Freude.
„Wisst Ihr was, Kommandant? Allmählich fange ich an zu verstehen, worauf es im Leben wirklich ankommt." Alain reichte Oscar die Hand und diese ergriff sie feierlich.
„Geht jetzt nach Hause und ruht euch aus.", ordnete Oscar allen zwölf Soldaten an. „Ihr habt euch den freien Tag verdient."
Die orangene Sonne verschwand immer mehr hinter dem Horizont, der blaue Himmel ging in nahtloses Violett über und die Menschen zerstreuten sich friedlich - sie hatten ja ihr Ziel erreicht und die zwölf Soldaten waren frei. Alain ging nach Hause und Oscar mit André brach unverzüglich in das Dorf auf, wo ihre Söhne geboren worden waren. Sie wollten Klarheit schaffen, die Wahrheit aus dem Munde derjenigen hören, die vor vierzehn Jahren dabei waren. Vor allem die damalige Hebamme und die Frau des Wirtes, die die Geburt durchgeführt hatten.
Das Dorf kam immer näher. Gespenstische Stille herrschte zwischen Oscar und André. Nur die schnellen Hufschläge deren Pferde im Galopp waren zu hören. Was erwartete sie an dem Ort, an dem alles angefangen hatte? Wie würden sie dort empfangen werden? Und wie würden diejenigen auf ihr Erscheinen reagieren, die Augustin bei sich behalten und großgezogen hatten? Mulmige Gefühle, Reue und Gewissensbisse wurden größer. Diesmal ahnte Oscar, warum. Das betraf auch André. Aber wenigstens befanden sich François und Augustin bei Diane, sonst wüsste Oscar nicht, wie sie besonders Augustin ins Gesicht schauen sollte. Darum würde sie sich allerdings später kümmern. Zuerst die Verantwortlichen anhören und dann entscheiden, wie es weiter gehen sollte.
An dem Gasthof zügelten die beiden Reiter ihre Pferde und sofort strömten ihnen die Erinnerungen an jenen verschneiten Tag im Januar vor rund vierzehn Jahren ein. Ihnen kam es so vor, als wäre das erst gestern geschehen. Jetzt herrschte Sommer und der heutige Tag ging zu Ende. Aber es war noch nicht ganz dunkel. Sie erkannten die Umrisse der kleinen Dorfkirche und die der wenigen Häuser. Jedoch leuchtete überall kein einziger Kerzenschein in den Fenstern. So als würde niemand mehr hier wohnen. Nun, in vierzehn Jahren könnte hier vieles passiert sein...
Leicht verwundert, aber nichts Böses ahnend, stiegen Oscar und André aus dem Sattel, als ein schlanker und großgewachsener Knabe zu ihnen kam. „Mutter? Vater?", brachte er ganz überrascht von sich. Seine Eltern ausgerechnet in diesem Ort zu sehen, überraschte und erfreute ihn gleichermaßen. Anscheinend war das Gespräch mit seinem Großvater doch gut ausgegangen. Dennoch, was bewog seine Eltern hierher zu kommen? Denn niemand wusste, dass er und sein Zwillingsbruder anstelle zu Alain den Weg hierher eingeschlagen hatten. Er wollte weitere Fragen stellen und einiges erfahren, als heftige Schmerzen seinen Kopf und Körper durchzogen. Sogleich verzog er sein Gesicht und lehnte sich gegen die Hauswand, um ein paar tiefe Atemzüge zu nehmen. Die Schmerzen in seinem Körper, die nicht ihm gehörten, waren wieder da und schienen noch stärker zu sein als in seiner Kindheit. Wenigstens wusste er, woher diese Schmerzen kamen und dass sie nicht so schnell vergehen würden. Denn nicht er wurde von vielen Kugeln getroffen und lag verletzt bei der ehemaligen Hebamme aus diesem Dorf...
„François!" Seine Eltern rannten sofort zu ihm und stützten ihn umsorgt von beiden Seiten. „Was ist passiert? Bist du verletzt?" Eigentlich wollten sie ihn fragen, was er hier machte und wo Augustin war. Denn sie vermuteten ihre Söhne bei Alain oder besser gesagt, Diane und nicht bei Augustins Freundin Anna an ihrem Geburtsort. Aber egal! Oscar und André vergaßen ihre Fragen, sobald sie sahen, dass es ihrem Sohn offensichtlich nicht gut ging.
François schüttelte leicht den Kopf. „Mir geht es gut...", versicherte er aufrichtig, lehnte die Stütze seiner Eltern ab und schob sich von der Hauswand. Sein Gesicht verfinsterte sich jedoch. „Das ist Augustin, ich spüre seine Schmerzen... Er ist schwerverletzt und liegt bei der alten Hebamme Melisende. Anna ist auch bei ihm. Ich hörte Pferde wiehern und ging deshalb aus dem Haus, um zu sehen, wer das ist. Ansonsten wäre ich bei Augustin geblieben." François verstummte kurz, bevor er ganz leise hinzufügte. „Vater, Mutter, er ist auch euer Sohn."
„Das wissen wir.", murmelte Oscar mit einem Klumpen im Hals und schmerzender Brust. Ihr kam es so vor, als wäre sie selbst von einer Kugel getroffen. „Mein Vater hat uns das offenbart, nachdem ihr fort ward und Marguerite zu Rosalie gebracht habt."
Sein Großvater hatte die Wahrheit offenbart? Wurde er etwa müde von seinem eigenen Lügenspiel? Deswegen kamen also seine Eltern hierher, verstand François. Sie wollten die Wahrheit über die Geburt von Augustin von denjenigen hören, die vor vierzehn Jahren dabei waren. Nun, damals gab es wesentlich mehr Zeugen als heute. Die alte Hebamme Melisende war die Einzige, die noch übrig blieb. Die anderen Dorfbewohner waren entweder nach Paris geflohen oder tot. François bewegte seine Füße. „Folgt mir.", sagte er und führte sie zu einem Haus, das nicht weit von der kleinen Dorfkirche stand.
Oscar und André folgten ihm selbstverständlich. „Was ist hier überhaupt passiert?", wollte André auf dem Weg wissen und warf einen flüchtigen Blick zu Oscar. Seine Geliebte sagte nichts, aber er ahnte, dass sie sich genauso große Sorgen um Augustin machte wie er.
„Ausländische Soldaten hatten auf dem Marsch nach Paris hier gewütet. Sie brachen in das Gasthof ein und beschlagnahmten alle Fässer Bier und Säcke mit Vorräten. Augustin und ich waren gerade bei Anna, als sie wie Heuschrecken das Wirtshaus plünderten. Augustin dachte, sein Großvater schickte nach ihm seine Soldaten und wollte fliehen, als die Männer ihre Gewehre anlegten und anfingen auf die Menschen zu schießen, die Einwände hatten. Auch auf uns. Wer sich im Haus nicht versteckt hatte, wurde vom Kugelhagel getroffen. Wir sind schnell in das Haus von Melisende gelaufen und dort brach Augustin zusammen..." François hielt vor der Tür des Hauses von der Hebamme an. „Er liegt hier." Drei Mal lang und zwei Mal kurz klopfte er an der Tür.
Die Spannung bei Oscar und André wuchs. Ausländische Soldaten? Waren das etwa die Soldaten, von denen Bernard gesprochenen hatte? Hoffentlich kamen sie nicht zu spät... Denn wenn Augustin sterben sollte, würden sie sich das niemals verzeihen. Besonders Oscar nicht. Die wenigen Sekunden dauerten eine Ewigkeit, bis eine alte Frau die Tür öffnete. „Du bist schnell zurück, François. Ich hoffe, das waren keine Soldaten. Aber komm schnell rein, ich habe Augustin Schlafmohn gegeben, sonst wäre er dir hinterher gelaufen." Melisende öffnete breiter die Tür und merkte erst jetzt die zwei Begleiter von François. Ihre Augen wurden größer. Auch wenn das schon vierzehn Jahre her war, erkannte sie die zwei auf Anhieb. Besonders die blondgelockte Frau in Männerkleidern.
„Zum Glück waren das keine Soldaten." François kam als erster ins Haus und wartete, bis seine Eltern sich ihm anschlossen. Er brauchte der alten Melisende nicht zu erklären, wer seine Begleiter waren. Ihr erbleichtes Gesicht, ihr zitternder Körper und ihre weit aufgerissenen Augen erklärten ihm schon alles.
André und Oscar begrüßten die alte Frau mit einem Nicken und betraten auch das Haus. „Wir sind wegen unserem Sohn Augustin hier.", sagte André dabei in einem gelassenen Ton. Innerlich war er jedoch nicht ganz so ruhig, wie sein äußerer Anschein. Wenn bei ihm die Bilder aus der Vergangenheit auftauchten und seine Gefühle durcheinander brachten, dann herrschte in Oscar bestimmt ein gewaltiger Sturm.
Melisende fühlte sich bei seiner Stimme etwas beruhigt, aber die Schuldgefühle und Gewissensbisse vergingen dadurch nicht. Sie hatte schon immer geahnt, dass dieser Tag irgendwann kommen würde und trotzdem traf sie die Wiederbegegnung mit den Eltern der Zwillinge unvorbereitet. Sie machte die Tür zu und bekreuzigte sich. Sie war bereit für die Sünden zu bezahlen, die sie mit Adaliz begangen hatte. Nur ruhte Adaliz schon lange unter der Erde und sie dagegen noch nicht. „Ihr wisst schon über ihn Bescheid?", fragte die alte Hebamme und versuchte nicht den Blick vor den Beiden zu senken.
„Ja, aber darüber sprechen wir später.", meinte Oscar im beherrschten Tonfall, wobei sich ihre Kehle wie ausgetrocknet fühlte und ein gewaltiger Druck in ihrer Brust das Herz wie einen Schraubstock zusammenpresste. „Erst einmal wollen wir unseren Sohn Augustin sehen."
Melisende verstand und führte sie in eine Kammer. „Ich habe ihm zwei Kugeln entfernt, der Rest waren nur Streifschüsse. Der Junge hatte großes Glück, aber das hatte er schon immer."
Ein junges Mädchen, mit langem schwarzen Haar und eisblauen Augen, stand von einem Hocker auf. „Das sind die Eltern deiner Freunde.", erklärte schnell Melisende und ließ dem Paar den Vortritt.
„Das ist Anna, die Milchschwester von Augustin und die Tochter von Alain.", stellte François das Mädchen seinen Eltern schnell vor und ging zu ihr.
Anna murmelte leise einen Gruß und machte ihnen Platz am Bett. Oscar und André gingen zu dem Bett. Wenn die Umstände anders wären, dann hätten sie das Mädchen gerne näher kennengelernt. Aber so flüsterten sie einen knappen Gruß zurück, ohne Anna anzusehen. Ihre Blicke ruhten auf ihren zweiten Sohn. Schweißgebadet, nur in Hose und bis zum Bauch mit einem alten Laken bedeckt, lag er auf dem Rücken und atmete gleichmäßig. Ein großer Verband um seine Stirn, Brust und eine Schulter verdeckte seine Wunden. Er erinnerte sie an François, als er letztes Jahr wegen seiner Schussverletzung auch das Bett hüten musste. André nahm sachte die Hand von Augustin und Oscar strich ihm feuchte Locken von der Stirn. „Vergib uns für das Unrecht, das wir dir angetan haben...", sagte Oscar und richtete ihre nächsten Worte an Melisende. „Jetzt erzählt alles und verschweigt nichts. Warum habt ihr ihn uns genommen, ihn bei euch behalten und nicht zu uns gebracht? Woher wusste mein Vater, der General de Jarjayes, über ihn? Und aus welchen Grund wollte zuerst Georges und jetzt sein Bruder Armand den Tod meiner Familie?"
Das waren viele, aber berechtigte Fragen. Melisende schluckte mehrmals einen dicken Kloß in ihrem Hals herunter, spielte all die Ereignisse aus der Vergangenheit in ihrem Kopf ab und sagte mit leicht zitternder Stimme: „Euer Zweitgeborener hatte kaum geatmet, als er auf die Welt kam. Ich dachte, es wäre für Euch und Euren Mann besser, über seinen Tod nichts zu erzählen, aber jetzt sehe ich, dass es falsch war. Denn der Junge überlebte wie durch ein Wunder. Wir hätten ihn zu Euch bringen können, aber niemand wusste, wer Ihr seid und wo Ihr wohnt.", begann sie die Ereignisse zu erzählen, die sie schon seit vierzehn Jahren wie ein Alptraum quälten. „Erst sechs Jahre später kam dieser Offizier wieder, der auch mit Euch damals hier war und nach ihm der General."
„Also hat Girodel meinen Vater hierher geführt...", stellte Oscar fest und ihr leuchtete so einiges ein. Aber das Gespräch war noch nicht zu Ende und sie forderte die ehemalige Hebamme auf, weiter zu erzählen. „Mein Vater kannte die Wahrheit durch Girodel und bis gestern hatte er uns verheimlicht, dass Augustin unser Sohn ist. Aber erzählt weiter. Auch über Georges und seine Familie."
Melisende seufzte schwer und erzählte über die Kindheit von Jean Augustin. Auch wie Graf de Girodel Adaliz wegen dem Jungen mit seinen Drohungen in den Tod getrieben hatte, dann wie ihr Mann starb und weshalb deren Söhne sich nach Rache sehnten. Weil Georges auch tot war, übernahm nun dessen älterer Bruder die Aufgabe, sich und seine Familie zu rächen. Er wollte Augustin leiden sehen, indem er dessen Familie auslöschte. Allerdings war Armand nach dem Attentat auf Alain wie vom Erdboden verschluckt und niemand wusste, wo er war. Für Oscar und André waren alle Fragen nun beantwortet. „Es tut mir leid, was ihr und der Junge durchstehen musstet. Wenn ich könnte, würde ich den Fehler korrigieren.", beendete Melisende und fügte noch reuevoll hinzu: „Werdet Ihr mich jetzt verhaften?"
„Nein. Ihr habt Euer Fehler bereut und wir haben unseren Sohn wiedergefunden." Oscar stand auf. „Wir danken Euch für Eure Offenheit. Wir bringen Augustin zu Alain und dort wird er schneller genesen können. Auch wenn Armand spurlos verschwunden ist, müssen wir trotzdem vorsichtig sein. Nachdem der Aufruhr beendet wurde, werden wir weiter sehen. Aber Hauptsache, wir bleiben als eine Familie zusammen. Wie lange wirkt der Schlafmohn?"
„Ich habe ihm so viel gegeben, dass er bis morgen durchschlafen wird."
„Gut, dann werden wir in einer Stunde aufbrechen."
