Liebe, Lüge, Wahrheit

Kapitel 83 – Familiensache

Mühsam öffnete Augustin seine Augen. Sein Körper schmerzte und die Wunden brannten. Diesmal war er von Kugeln getroffen worden und auch wenn er die Ereignisse von gestern zu verdrängen versuchte, suchten sie ihn trotzdem heim. Er dachte, es seien die Soldaten, die sein Großvater nach ihm geschickt hatte, aber er hatte sich geirrt. Das waren andere Soldaten – ausländische Soldaten, die Augustin hier noch nie gesehen hatte. Aber bis ihm das klar wurde, war es schon zu spät. Nach der Plünderung des Wirtshauses und Beschlagnahme etlicher Fässer Bier und Flaschen Wein, fingen die Soldaten an, auf die Menschen zu schießen. Zum Glück gab es wenige Tote. Dafür aber viele Verletzte und Augustin zählte auch dazu. Aus seiner Kehle entrann ein quälendes Stöhnen, er blinzelte wegen dem grellen Tageslicht, seine Sicht klärte sich und er sah in das Gesicht seines Zwillingsbruders. „Der Schlafmohn von Melisende hat länger gewirkt als gedacht.", meinte François und erzählte ihm die Ereignisse von gestern. Auch über das unerwartete Erscheinen ihrer Eltern und was für Soldaten es in Wirklichkeit waren, die ihn angeschossen hatten. „...und jetzt liegst du hier bei Alain und Constance. Anna ist auch mitgekommen und wird hier bleiben, bist du wieder gesund bist. Dann geht sie zurück zu Melisende. Das hat sie der alten Hebamme versprochen. Und Alain ist zurzeit in der Kaserne.", beendete er und half seinem Bruder beim Aufsitzen.

Augustin wollte keine Hilfe, aber sein Körper fühlte sich zu schwach an und die Schusswunden schmerzten zu sehr, um die helfenden Hände seines Bruders ablehnen zu können. „Du meinst, unsere Eltern kennen die Wahrheit über mich?" Die richtigere Frage wäre, ob sie die Wahrheit glaubten? Denn eigentlich hatte er sie schon längst offenbart. Augustin verzog kurz sein Gesicht.

„Ja, durch unseren Großvater.", bestätigte François, nachdem Augustin so bequem wie möglich im Bett saß und sich in das aufgestellte Kissen in seinem Rücken lehnte. „Mutter und Vater tut es sehr leid, was dir widerfahren ist. Besonders Mutter tut es leid, dass sie dir nicht geglaubt hat."

„Ach ja?" Augustin wollte seinem Bruder glauben, aber gewisse Zweifel ließen das nicht zu. Nach all den Jahren der Lüge und Täuschung fühlte es sich eigenartig an, dass seine Eltern der Wahrheit glaubten. Ihm, ihrem zweitgeborenen Sohn, hatten sie nicht geglaubt, aber seinem Großvater schon... Wie gerne wäre er dabei gewesen und alles mit eigenen Augen gesehen und eigenen Ohren gehört, was und wie es sich zwischen seinen Eltern und seinem Großvater ereignet hatte. „Wo sind unsere Eltern jetzt?"

„Sie sind nach Versailles geritten.", erklärte François. „Unsere Mutter will die Königin überreden, die ausländischen Soldaten aus der Stadt zurückzuziehen."

Augustin zweifelte daran. „Ich glaube nicht, dass es ihr gelingt."

„Daran glaubt niemand. Aber deine Mutter ist trotzdem nach Versailles gegangen." Anna kam mit ihrer gleichaltrigen Tante ins Zimmer rein und als sie sah, dass es ihrem Freund offensichtlich besser ging als gestern, eilte sie zu ihm und umarmte ihn herzlich.

Augustin stöhnte. „Du erdrückst mich, Anna."

„Entschuldige." Anna entfernte sich und öffnete ihm den Blick auf Diane, neben der auch Constance in Erscheinung trat.

„Wie geht es dir?", fragte Diane.

„Es ging mir schon besser.", erwiderte Augustin und zog seine Mundwinkeln leicht nach oben. „Aber ich werde schon durchkommen."

„Das klingt schon mal gut." Constance lächelte. „Deine Mutter, bevor sie nach Versailles ging, hat Doktor Lasonne hierher geschickt und er sagte, dass du etwa in zwei Wochen wieder auf den Beinen stehen würdest. Die Verletzungen sind zum Glück oberflächlich und mit der richtigen Behandlung werden sie schneller heilen können. Du musst nur die Anweisungen des Arztes befolgen, dein Körper schonen und dich nicht überanstrengen."

„Dann bin ich beruhigt." Ja, über die Diagnose von Doktor Lasonne war er beruhigt, aber nicht über die Tatsache, dass seine Mutter die Königin nicht überreden würde können.

Mit einem bedrückten Gefühl verließ Oscar die Gemächer der Königin. Sie war nicht alleine. Ihre Mutter begleitete sie. Das Gespräch mit ihrer Majestät hatte nichts gebracht. Unnachgiebig, stolz und in ihrer ganzen Würde blieb Marie Antoinette auf ihrem Vorhaben bestehen und war keineswegs gewillt, die ausländischen Soldaten aus Paris zurückzuziehen. Nicht einmal, als Oscar ihr die Schussverletzung von Augustin, durch eben diese Soldaten, schilderte, hatte es die Königin umstimmen können. „Ich weiß, dass Ihr Eure Ziehkinder sehr mögt und ich wünsche dem jungen Augustin gute Besserung, aber ich kann nicht. Oscar, mein heutiges Leben scheint mir unerträglich, aber ich hoffe, dass bald bessere Zeiten kommen werden. Bewaffnete Truppen aus allen Teilen Frankreichs wurden zu unserer Sicherheit nach Paris abkommandiert. Alles in allem werden es mehr als Hundetausend Soldaten sein. Ich, die Königin von Frankreich, habe das veranlasst, ich bin noch nicht am Ende! Ich habe sie gerufen, um ein für alle mal klar zustellen, wer in diesem Land regiert! Die Dynastie der Bourbonen wird niemals untergehen. Niemals!"

Dieses kurze Gespräch zwischen Oscar und der Königin ging auch Emilie de Jarjayes nicht aus dem Kopf. Sie ahnte, was in ihrer Tochter vorging und sorgte sich auch um Augustin, denn er war ihr Enkel, aber gleichzeitig verstand sie die Beweggründe ihrer Majestät. „Nimm ihr das nicht übel, Oscar. Sie hat letzten Monat ihren ältesten Sohn verloren und hatte schon immer mit Intrigen und falschen Gerüchten zu kämpfen."

„Ich weiß." Oscar gab zwar ihrer Mutter recht, aber sie konnte trotzdem nicht nachvollziehen, warum die Königin so handelte. Konnte sie denn das Leiden und die Sorgen ihres eigenen Volkes etwa nicht verstehen? Offensichtlich nicht...

„Oscar!", erscholl plötzlich die tiefe Stimme ihres Vaters durch die glanzvollen Gänge des Schlosses von Versailles. Es sah so aus, als hätte er sie abgepasst.

Oscar blieb zusammen mit ihrer Mutter stehen, drehte sich um und wartete, bis ihr Vater sie einholte. „Ist etwas passiert?" Natürlich war etwas passiert. Die gestrigen Ereignisse und besonders die Offenbarung über Augustin standen noch bildlich vor ihrem geistigen Auge. Oscars Körper spannte sich an. Jedoch wegen der Anwesenheit ihrer Mutter bemühte sie sich um Beherrschung und ließ sich nichts anmerken, was für ein Chaos der Gefühle wegen ihm in ihr zum brodeln begann.

Reynier konnte sich schon vorstellen, dass seine Tochter nach dem gestrigen Vorfall nicht gerade begeistert war, ihn zu sehen. Obwohl sie undurchschaubar wirkte und ihre gerade Haltung beibehielt, standen ihr Unmut, Misstrauen und Vorsicht ins Gesicht geschrieben. „Ich hörte, du warst bei der Königin? Was wolltest du bei ihr? Oder hast du zu ihr deine Ziehkinder gebracht?"

„Nein, Vater.", erwiderte Oscar klar und mit einem gewissen Vorwurf in ihrer Stimme. „Nach allem was gestern vorgefallen ist, habe ich die Kinder in Sicherheit gebracht."

„Was hast du getan?" Das war nicht zu fassen! Gerade eben wollte Reynier stolz auf seine Tochter sein, dass sie ein einziges Mal auf ihn hörte und sich ihm nicht wie so oft widersetzte, aber anscheinend hatte er sich getäuscht. „Sag sofort, wo sie sind!", verlangte er im barschen Ton und mit unterdrücktem Zorn.

„Das werde ich nicht tun, Vater." Auch da blieb Oscar stur.

„Wie bitte?!" Reynier ballte seine Hände zu Fäusten und sah danach aus, als würde er Oscar schlagen wollen.

Emilie merkte, wie ihr Gemahl kurz davor stand, sich auf ihre gemeinsame Tochter zu stürzen und handelte unverzüglich. „Aufhören, alle beide!", mischte sie sich ein und stellte sich zwischen Vater und Tochter. „Habt ihr vergessen, wo wir uns befinden?"

„Mir ist es vollkommen bewusst, wo wir uns befinden.", knurrte Reynier wie ein bissiger Hund und dämpfte seine Rage. „Oscar jedoch scheint immer zu vergessen, was ich ihr angeordnet habe!"

„Das tue ich keineswegs, Vater!", rechtfertigte sich Oscar und fügte noch aufweisend hinzu: „Damit Ihr es wisst, Augustin wurde angeschossen und liegt schwerverletzt bei einem guten Freund!"

„Ist das wahr?" Reynier wollte ihr nicht glauben. Er dachte, es war eine List, damit er von seinem Vorhaben, die Kinder an den Hof von Versailles zu nehmen und nach seinen eigenen Regeln zu erziehen, ablässt.

„Das stimmt." betonte Oscar. „Ich war gestern in dem Dorf, wo er geboren wurde und fand ihn schwerverletzt vor. François sagte, die ausländischen Soldaten haben ihn auf dem Marsch nach Paris angeschossen. Deshalb habe ich ihn und die anderen Kinder an einen Ort gebracht, wo ihn weder Ihr noch sonst jemand findet!"

Emilie spürte, dass Reynier diese Aussage nicht ausreichen würde und um weitere Debatten zwischen ihm und Oscar zu vermeiden, fasste sie ihren Mann am Arm. „Reynier, wir wollen doch beide, dass Augustin gesund wird, oder? Deswegen schlage ich vor, dass wir ihn besuchen, wenn es ihm wieder gut geht."

Die sachte Berührung und die Sanftheit in ihrer Stimme blieben nicht ohne Erfolg. „In Ordnung.", gab Reynier nach kurzer Überlegung nach und dämpfte seine Rage. „Dann hole ich ihn nach seiner Genesung ab. Und egal wo du ihn versteckt hältst, Oscar, ich werde ihn finden!" Reynier schaute kurz und etwas besänftigt in das zwar gealterte, aber noch immer hübsche Gesicht seiner Frau. „Ich muss jetzt los, wir sehen uns später." Er ging und Oscar atmete erleichtert auf.

Emilie nahm ihre Tochter bei den Armen. „Mache dir keine Sorgen, Liebling, es wird wieder alles gut."

„Danke, Mutter." Oscar verabschiedete sich und ging. Sie verließ Versailles und ritt mit André zu Alain. Gemeinsam betraten sie das Haus und hörten fröhliche Stimmen der jungen Menschen aus dem Zimmer, wo Augustin lag. Die gute Stimmung verschwand augenblicklich, sobald sich die Eltern der Zwillingsbrüder im Türrahmen zeigten.

François unterbrach als Erster die Stille. „Wie war das Gespräch mit der Königin, Mutter?"

„Erfolglos.", sagte Oscar knapp und bat Constance sie und André mit ihren Söhnen für einen kurzen Augenblick alleine zu lassen.

Constance verstand und ging mit Diane und Anna das Essen zubereiten. André ging ans Bett heran. „Wie fühlst du dich, mein Junge?"

„Danke, mir geht es besser, Vater.", meinte Augustin und schaute eindringlich seine Mutter an. „François hat mir erzählt, was zwischen euch und Großvater vorgefallen ist."

„Das stimmt, der General hat uns die Wahrheit offenbart und wir waren deshalb gestern in dem Dorf gewesen, wo François und du geboren wurdet.", meinte André mit etwas belegter Stimme. „Die damalige Hebamme hat uns dann alles genauer erzählt. Es tut uns leid, Augustin, dass wir dir nie geglaubt haben. Jedoch sahen wir dich immer wie einen Teil unserer Familie an und seid gestern weiß ich nun, warum du mich manchmal an Oscar erinnerst. Du gehst mehr nach deiner Mutter." André schaute zu seiner Geliebten. „Nicht wahr, Oscar?" Damit gab er ihr den Anstoß, auch ihren Teil für die Entschuldigung beizutragen.

Oscar nickte zustimmend. „So wie François mehr nach dir geht." Obwohl sie zu André sprach, ruhte ihr Augenmerk auf Augustin. „Uns ist gestern so vieles klar geworden. Du hast uns schon immer angedeutet, dass wir deine Familie sind, aber wir hatten das nie verstanden. Vergib uns für das Unrecht, das wir dir angetan haben. Das hätte nie passieren dürfen..." Sie dachte dabei an die Schlägerei in Paris vor vielen Jahren, wie Augustin sich danach an sie geklammert und immer wieder wiederholt hatte, dass André und sie wie seine Eltern waren.

„Nach allem, was zwischen uns passiert ist, fällt mir die schnelle Vergebung schwer...", brachte Augustin nach einem kurzen Moment der Stille von sich.

François gefiel das nicht sonderlich. „Aber Bruder..."

„Lass ihn.", unterbrach Oscar ihren Erstgeborenen. „Ich kann ihn gut verstehen, denn auch ich würde nicht so schnell vergeben können. So etwas braucht eine gewisse Zeit."

Auch André verstand seinen Sohn. „Augustin, du kannst so viel Zeit haben, wie du brauchst und wenn du bereit bist, kannst du jederzeit zu uns kommen. Wir sind für dich immer da."

„Für dich, für François und für Marguerite.", ergänzte Oscar genauer.

„Danke, das weiß ich sehr zu schätzen.", erwiderte Augustin und fühlte sich etwas glücklicher, dass sie sich jetzt endlich offen ausgesprochen hatten und wirklich eine Familie darstellten, ohne etwas vorgaukeln zu müssen.