Liebe, Lüge, Wahrheit

Kapitel 85 – Der erste Kampf

Kaum dass die Sonne sich am Horizont zeigte und der neue Tag begann, brach Alain in die Kaserne auf. Er steckte sich nur schnell ein Stück Brot mit Wurst in den Mund, spülte die letzten Bissen mit Wasser aus dem Krug runter und verabschiedete sich von seinen Frauen und den Zwillingen. „Hey, zieht nicht solche Gesichter, ich komme doch bald wieder!", versuchte er sie etwas aufzumuntern und zog sogar seinen Mundwinkel nach oben. „Vergesst nicht, ich bin ein erfahrener Kämpfer und werde schon am Leben bleiben!"

„Gewiss." Constance gab ihm einen Abschiedskuss und machte dann Platz für die zwei jungen Damen. „Wir werden hier auf dich warten."

Diane drückte sich fest an ihn. „Komm heil zurück, Bruder."

„Das werde ich, Schwesterherz, sei versichert." Alain zwinkerte ihr zu und schaute zu seiner Tochter.

Anna sagte nichts, als sie sich nach Diane von ihrem Vater mit einer Umarmung verabschiedete. Alain dachte sich nichts dabei und nach dem Abschied von seiner Tochter ermahnte er nur noch die Zwillinge, bevor er das Haus verließ. „Also vergesst nicht, ihr bleibt hier und beschützt meine Frauen, bis ich wieder zurückkomme! Habt ihr mich verstanden?"

„Ja, Alain, wir haben dich verstanden.", sagte Augustin kühl und als der breitschultrige Soldat mit dem roten Halstuch aus dem Haus ging, eilte er in sein Zimmer, um die Waffen zu holen. François folgte ihm.

„Was ist mit den beiden los?", wunderte sich Constance und Anna klärte sie kurz auf: „Jean und François wollen in den Kampf ziehen."

„Wie bitte?" Constance schlug sich erschrocken die Hand vor dem Mund. „Hatten sie etwa nicht gehört, was Alain gesagt hat?"

„Doch, das hatten sie..." Diane senkte auf einmal ihren Blick. Sie hatte gestern Abend ein langes Gespräch mit Anna gehabt. Ihre ein Jahr jüngere Nichte hatte ihr offenbart, was die Brüder vorhatten und ihr dabei Vorwürfe wegen François gemacht. Weil François wegen ihr litt, konnte Augustin nicht mit Anna zusammen sein. Das hatte Diane zum Nachdenken gebracht und in ihr ein schlechtes Gewissen verursacht. Sie wusste, dass François für sie Gefühle hatte und sie mochte ihn, aber nach dem schrecklichen Vorfall mit ihrem Verlobten letztes Jahr, glaubte sie nicht mehr an die Liebe.

Die Zwillinge kamen schon bald zurück. „Wir reiten jetzt auch los und schließen uns unseren Eltern und Alain an.", hörte Diane Augustin sagen und hob ihren Blick. François schaute sie an, während sein Bruder zu Constance weitersprach: „Die Kämpfe werden sicherlich in der Stadt stattfinden und das heißt, dass ihr hier, außerhalb der Stadt, sicher seid."

„Ihr denkt doch nicht wirklich, dass ich euch gehen lasse?" Constance versperrte ihnen den Weg und stemmte ihre Hände in die Seiten. Es ging ihr nicht darum, was Alain angeordnet hatte, sondern um die Zwillinge selbst. Augustin und François waren gerade mal vierzehn Jahre alt, fast noch Kinder und die Kinder sollten Zuhause bleiben, wenn draußen ein Sturm herrschte.

„Sie sollen gehen.", sprach Diane noch bevor Augustin zum Protest ansetzte und ging langsam zu François. „Jeder Mensch hat das Recht, für das zu kämpfen, was ihm lieb und teuer ist. Warum auch nicht sie? Wenn ich könnte, würde ich für meinen Bruder auch kämpfen wollen." Sie blieb direkt vor ihm stehen. Nicht einmal eine handbreite Distanz trennte sie. „Bitte, sorgt dafür, dass Alain nichts passiert und bleibt selbst am Leben."

„Ich verspreche es dir.", murmelte François baff. So nah hatte Diane vor ihm noch nie gestanden. Sein Puls beschleunigte sich, als Diane ihr Gesicht zu ihm zog und ihm einen Kuss auf die Wange hauchte. „Danke dir.", sagte sie und entfernte sich gleich von ihm mit rotglühenden Wangen.

Constance wusste bei dieser Szene nicht, was sie sagen sollte. Besonders verschlug es ihr die Sprache, als Anna zu Augustin kam und ihn auf den Mund küsste. Sie sagte nichts, sie tat es einfach und Augustin ließ das auch noch zu. Was ist nur aus den Kindern geworden? Die Kinder wurden zu schnell erwachsen, verstand Constance und ließ es schweren Herzens zu, dass die Zwillinge gingen. Das war ein herzzerreißender Abschied – mit Angst über die Zukunft und mit Hoffnung auf ein gutes Ende. So ähnlich wie bei Alain zuvor.

Zu zweit ritten die Zwillinge wenig später durch die Straßen von Paris und versuchten von den ausländischen Soldaten ungesehen zu bleiben. Das war schwierig, aber nicht unmöglich. Das Haus von Constance zu verlassen hatte ja auch gut funktioniert. Und im Gegensatz zum gestrigen Gespräch ließ es Augustin zu, dass François ihn begleitete. Langsam drangen sie bis zum Tuilerien vor. „Wo können sie nur sein?", fragte François.

„Sie können überall sein.", erwiderte Augustin und dann hörten sie Schüsse und Menschenschreie.

Die Brüder ritten schneller und mieden dabei die offene Straße. Aus einer Gasse in die nächste kamen sie immer näher an den Ort des Geschehens. Die Schüsse und die Schreie verstummten. Auf dem Boden lagen Leichen von Bürgern und mittendrin stand Oscar mit ihren Männern vor Bernard und Rosalie. Sie schüttelten sich gegenseitig die Hände. Was sie zueinander sagten, konnten die Zwillinge nicht hören, aber sie verstanden, dass ihre Eltern sowie Alain und seine Kameraden gerade auf die Seite des Volkes übergelaufen waren. Das war der richtige Zeitpunkt, um sich ihnen anzuschließen. Jedoch kamen die Brüder nicht dazu. Plötzlich rief ein Mann aus dem Volk, dass die feindliche Truppe auf dem Marsch hierher war und Oscar rannte zu ihrem Pferd. „Alle Mann auf die Pferde!", rief sie dabei und stieg galant in den Sattel. „Wir kämpfen für die Freiheit!" Ihre Soldaten befolgten auf der Stelle den Befehl und bevor sie den feindlichen Soldaten entgegen preschten, wandte sich Oscar an Bernard: „Wir müssen ihrem Angriff zuvorkommen. Das ist die einzige Chance, die wir haben. Während wir sie in Kämpfe verwickeln, werdet ihr auf den Straßen Barrikaden errichten. Nur dann sind wir in der Lage, es mit der Armee aufzunehmen. Sonst ist unser Kampf aussichtslos."

„Ich verstehe.", meinte Bernard. „Ja, Ihr habt recht."

Oscar wendete ihr Pferd und während sie an ihren Soldaten vorbeiritt, rief sie dabei: „Mir nach, Kameraden!"

Ohne zu zögern schlossen sich ihr die Männer an. Zuerst André und Alain und dann die anderen Soldaten. „Jawohl, Oberst, wir kämpfen für die Freiheit!"

Fasziniert und gleichzeitig angespornt von dem Kampfgeist ihrer Mutter, ritten auch die Zwillinge los. „Sie sind zu wenige, um es mit der königlichen Armee aufzunehmen! Sie brauchen mehr Soldaten!", bemerkte Augustin.

„Ja, das stimmt.", stimmte François seinem Bruder zu. „Aber wo können wir mehr Unterstützung bekommen?"

Augustin hatte da eine Idee. „Vielleicht kann uns Onkel Victor dabei helfen. Immerhin hat er mit seinen Männern Hausarrest. Also kann er sich mit ihnen auch nützlich machen, wenn er wirklich auf der Seite unserer Mutter steht!" Er wartete nicht auf eine Antwort, machte kehrt und galoppierte mit seinem Bruder zu dem Wohnhaus von Graf de Girodel.

Weder Oscar, noch die Menschen aus dem Volk bekamen etwas von der Anwesenheit der Zwillinge mit. Schnell wie der Wind ritten sie den feindlichen Linien entgegen und schonten ihre Pferde nicht. Bis zum Nachmittag jagten sie durch die Stadt, bekämpften die königlichen Truppen und versuchten am Leben zu bleiben. Aber nicht nur sie kämpften. Überall auf den Straßen in Paris herrschte Chaos und das einfache Volk bekämpfte die königlichen Soldaten wie Oscar und ihre Männer. Ihre Kompanie schrumpfte immer mehr. Jetzt waren sie weniger als 50 Mann und mit jedem Zusammenstoß mit der feindlichen Armee verloren sie weitere Soldaten. Viele der Kameraden waren bereits gefallen und deren leblose Körper lagen irgendwo verstreut auf den Straßen von Paris. „Rückzug!", schrie Oscar immer wieder, wenn sie auf die feindliche Linien trafen und diese auf sie schossen. Flankiert von André und Alain trieb sie ihr Pferd an die Spitze ihrer Truppe und dann in eine Seitengasse, bis zur nächsten Straße oder Brücke. Erschöpft und von den königlichen Soldaten von überall gehetzt, ritten sie dennoch weiter. Sie mussten Tuilerien erreichen, aber die gegnerischen Soldaten drängten sie immer wieder zurück. „Wir müssen einen Unterschlupf finden, Oberst!", empfahl Alain im schnellen Galopp.

„Alain hat recht, Oscar!", stimmte André seinem Freund zu. „Sonst werden wir Bernard niemals erreichen!"

Oscar musste den beiden zustimmen. Bernard und seine Mitbürger hatten bestimmt schon die Barrikaden errichtet und warteten nur noch auf sie. „Wir suchen Unterschlupf unter einer Brücke!", entschied Oscar und steuerte ihr Pferd der Seine entlang.

Schon bald kam eine Brücke in Sicht und mit ihr eine Linie von feindlichen Soldaten. Hoch zu Pferde und wie eine Wand postierten sie sich quer über die Straße und zielten ihre Gewehre auf Oscar und ihre verbliebenen Männer. „Wenn wir in der Mitte durchbrechen, können wir es schaffen!", rief Alain.

„Nein!", protestierte Oscar und zügelte ihr Pferd außerhalb der Reichweite von den feindlichen Kugeln. „Wir haben schon genug Männer verloren! Wir suchen eine andere Brücke!"

Noch ein Rückzug also... Ein Soldat verlor die Nerven und stieß heftig seinem Pferd in die Flanken. „Lassalle!", rief sein Kamerad Pierre ihm nach, aber wurde nicht gehört.

„Lassalle, bist du wahnsinnig, komm sofort zurück!", befahl Oscar lauthals, aber auch auf sie hörte Lassalle nicht.

Wie ein Wahnsinniger galoppierte er auf die feindliche Linie zu, richtete sein Gewehr mit Bajonett nach vorn und schrie aus voller Kehle: „Ihr werdet für alles büßen, ihr Schweine!"

Der Kommandant hob seinen Arm und ein Schuss erscholl aus nächster Nähe. Überrascht zügelte Lassalle sein Pferd und sah zu, wie der Kommandant der feindlichen Truppe aus dem Sattel zur Seite kippte und tot auf den Boden fiel. Panik brach unter den Soldaten auf und kaum dass sie sich versahen, wurden sie von hinten angegriffen. Nicht nur Lassalle, auch Oscar, André, Alain und die überlebenden Kameraden starrten ungläubig auf ein dutzend Soldaten aus der ehemaligen königlichen Garde, die die feindlichen Linien durchbrachen und jeden Mann niedermetzelten. Aber nicht nur das machte sie fassungslos und baff. Zwei Knaben flankierten einen ehemaligen Offizier von beiden Seiten und zusammen mit ihm sorgen sie dafür, dass keiner der feindlichen Soldaten entkam. Die Knaben jagten den Flüchtigen nach, schnitten ihnen den Weg ab und der Offizier, der offensichtlich diese kleine Truppe anführte, machte ihnen den Garaus mit seinem Schwert. Verärgert und beinahe enttäuscht schielte Oscar zu Alain. „Ich habe dir doch ausdrücklich gesagt, dass sie bei dir zuhause bleiben sollen!"

„Tja, Oberst, der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.", meinte Alain und zuckte seine Schultern. Er war selbst erstaunt, die Zwillinge hier zusehen und das auch noch mit Verstärkung. „Als ich heute früh meine Frauen verließ, waren die zwei noch bei mir zuhause und haben mir versprochen, auf meine Frauen aufzupassen."

„Lass es sein, Oscar, das führt zu nichts.", versuchte André seine Geliebte zu besänftigen. „Hauptsache sie leben und wie es aussieht, haben sie nur Verstärkung geholt."

Oscar gab entrüstet nach. „Folgt mir, wir schließen uns ihnen an!", befahl sie ihrer Kompanie und ritt selbst an der Spitze ihrer Männer.

Die feindlichen Soldaten schienen bis zum letzten Mann überwältigt zu sein und lagen leblos auf dem Boden. Unter ihnen bildete sich eine Menge von Blut und deren Pferde liefen herrenlos umher oder standen mit gesenkten Köpfen zwischen den Gefallenen. Ein nobler Offizier, der eigentlich keiner mehr war, mit langem und welligen Haar, befahl seinen Männern aufzuhören und flankiert von zwei Knaben ritt er zu Lassalle. „Sag Oscar de Jarjayes, dass der Weg bis zu den Barrikaden auf dem Platz der Tuilerien frei ist. Und sag ihr, Victor Clement de Girodel ist gekommen, um sein Wort zu halten."

„Ich glaube, das braucht er nicht mehr tun, Onkel. Das könnt Ihr ihr selbst sagen.", meinte der braunhaarige Knabe zur rechten Seite von ihm und wies mit seinem Blick hinter Lassalle hin.

„Unsere Eltern kommen schon von alleine zu uns.", fügte der blondgelockte Knabe stolz hinzu und richtete seinen Rücken noch gerader.

Die ehemaligen Soldaten aus der Königlichen Garde metzelten noch die letzten Überlebenden nieder und gesellten sich zu ihrem Anführer. In dem Moment erreichten Oscar und ihre Kompanie die Truppe. Lassalle wurde sogleich von seinen Kameraden auf die Schulter geklopft und beglückwünscht, dass er gerade so dem Tod entkommen war. Girodel verneigte sich im Sattel, als Oscar, flankiert von André und Alain, vor ihm ihr Pferd anhielt. „Lady Oscar, ich freue mich, Euch unversehrt zu sehen. Einstmals sagte ich Euch, dass ich für Euch sogar die Seiten wechseln werde und das tue ich nun. Ich bin gekommen, um mein Wort zu halten und schließe mich mit meinen Männern Euch an."

„Genug, Girodel!", unterbrach Oscar ihn schroff. Sie schätzte seine Bereitschaft zwar sehr, aber die Tatsache, dass er sie wegen Augustin all die Jahre angelogen hatte und zusätzlich, ihre Kinder gerade jetzt in Gefahr brachte, ließ ihr hitziges Temperament hochkommen. „Meine Männer und ich sind dankbar für Eure Hilfe, aber dass Ihr die Kinder in den Kampf mitnehmt, kann ich Euch nicht vergeben."

„Lasst es mich bitte erklären, Lady Oscar...", setzte Victor an, aber wurde unterbrochen.

Alain mischte sich mit mahnender Stimme ein. „Ihr könnt euch später erklären. Wir müssen so schnell wie möglich Bernard und die Barrikaden erreichen."

Seine Warnung brachte Oscar zu ihren Vorhaben zurück. „Wir reden später, Girodel. Danke für die Unterstützung. Ihr und Eure Männer sind uns willkommen." Sie wandte sich an ihre Männer, ohne ihre Söhne anzusehen. „Wir reiten schnell weiter, solange der Weg frei ist. Girodel und seine Männer werden uns begleiten."