Liebe, Lüge, Wahrheit

Kapitel 87 – Unverhofft

Die Fäuste schmerzten, die Kraft ließ nach, die Stimme klang röchelnd wie ein altes Reibeisen und die kleine Flamme in der Öllampe verbrannte ihre letzten Reserven, aber Oscar schlug noch immer gegen die Tür. André nahm sogar etwas Anlauf und versuchte mit seiner Schulter die massive Holztür aufzubrechen – erfolglos. Augustin streckte am anderen Ende des Raums seine Hand, soweit es ihm möglich war, durch das kleine Gitterfenster, winkte und rief nach Hilfe, aber wurde von François gepackt und zurück in den Raum befördert. „Willst du etwa deine Hand verlieren?", ermahnte François, bevor Augustin ihn für die rüde Behandlung anfahren wollte. „Sieh nur!" Er zeigte in Richtung des Fensters. Draußen wurde es langsam heller, das Morgengrauen breitete sich überall aus und die Zahl der vorbeilaufenden Füße der Menschen wurde immer mehr. Große Massen der Bürger von Paris marschierten entschlossen und kampfbereit zur Bastille. „Zur Bastille! Wir stürmen die Bastille! Für Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit!" Diese fest entschlossenen Kampfrufe übertönten sogar die lauten Stimmen aus dem Keller.

„Girodel, macht sofort auf, das ist ein Befehl!", schrie Oscar heiser und donnerte noch einmal gegen die massive Tür mit beiden Fäusten. Nur ein kaum hörbares Klimpern des eisernen Schlosses und der Türriegel antwortete ihr von der anderen Seite der Tür.

„Oscar, hör auf, bitte!" André konnte das nicht mehr länger mit ansehen. Zwar hatte er vor wenigen Minuten noch selber versucht die Tür mit seinem Körper aufzubrechen, aber im Gegensatz zu Oscar sah er langsam ein, dass sein Unterfangen zwecklos war. Er packte seine Geliebte an beiden Armen, drehte sie zu sich und drückte ihren schmalen Körper gegen den seinen, um sie zu beruhigen. Es würde nichts mehr nützen, auf die Tür weiterhin einzuschlagen, denn dahinter war bestimmt niemand mehr anwesend. „Graf de Girodel ist bestimmt schon fort...", vermutete André und streichelte den Rücken seiner Geliebten.

Oscar versuchte sich nicht aus der Umarmung von André zu befreien. Er hatte recht, gestand sie sich widerwillig ein, Girodel führte bestimmt schon die Soldaten an und gab ihnen die Befehle, die Bastille zu stürmen. Wie konnte er sie erneut hintergehen? Und das, nachdem sie ihm ihr Vertrauen wieder geschenkt hatte... „Das war das letzte Mal, dass ich ihm vertraut habe!", spie sie außer sich vor Wut in die Uniform ihres Geliebten. Die Enttäuschung in ihrer Stimme war nicht zu überhören.

Augustin sah immer noch zu den vorbeilaufenden Füßen hinter dem Gitterfenster hinauf und dieselbe Enttäuschung durchströmte auch ihn. Wie konnte sein Erzieher sie alle so hintergehen? „Wir hätten ihn gestern lieber nicht um Verstärkung bitten sollen.", murrte er verstimmt und ballte seine Hände zu Fäusten.

François stimmte weder seinem Bruder zu, noch verneinte er dessen Aussage. Er stand an der Seite von Augustin und schaute zu seinen Eltern hinüber. Das schwache Licht der Öllampe, die unter dem Fenster in der kleinen Nische stand, reichte kaum noch bis zur Tür, aber dank dem Morgenlicht des beginnenden Tages konnte er immer mehr die Umrisse seiner Eltern erkennen. „Onkel Victor hat uns bestimmt absichtlich hierher gelockt und mit unseren Eltern eingesperrt. Er wollte nicht, dass unserer Mutter etwas zustößt.", schlussfolgerte er und zog die Aufmerksamkeit der beiden auf sich.

André und Oscar horchten auf. Ihr Sohn konnte Recht haben. Zwar konnten sie die Tat von Girodel nicht nachvollziehen, aber zumutbar war sie ihm schon – besonders wenn es um seinen ehemaligen, weiblichen Kommandanten ging. Auch Augustin kehrte dem kleinen Fenster den Rücken zu und schaute direkt in Richtung seiner Eltern. „Dann hoffen wir, dass er den Schlüssel nicht verliert, sonst sitzen wir hier für immer fest!", zischte er. Im Gegensatz zu seiner Mutter, die in den Armen seines Vaters sich zu beruhigen schien, war er innerlich noch immer aufgebracht.

Stunden vergingen, ebenso wie der Tag - quälend langsam und wie eine Ewigkeit. Schon seit dem Morgengrauen wurde die Tür von Oscar nicht mehr eingeschlagen. Zusammen mit André und den Zwillingen kauerte sie mit leerem Magen unter dem kleinen Fenster und hoffte, dass sie jemand von hier befreite. Die Sonne neigte sich langsam dem Horizont zu, der Boden von Paris war vom Blut getränkt und am Himmel zogen schwarze Rauchfahnen. Dann hörten die Zwillinge und ihre Eltern gellende Jubelschreie von draußen: „Die Bastille ist gefallen! Wir haben gesiegt!" Sofort richteten sich aufgeregt die vier Köpfe in Richtung des Fensters, aber konnten nicht viel sehen.

Ja, die Bastille war gefallen, aber Girodel kam immer noch nicht. Noch etwa eine oder zwei Stunden saßen Oscar, ihr Geliebter und ihre Kinder eingesperrt im Keller, bis hinter der Tür Schritte und Stimmen von zwei Männern zu hören waren. Der Schlüssel wurde in das Loch gesteckt, gedreht, der Riegel geschoben und im nächsten Augenblick öffnete sich die Tür. Endlich! Alle vier bewegten ihre Füße unverzüglich zum Ausgang – vorneweg Oscar. Aber nicht Girodell zeigte sich an der Türschwelle, sondern Alain und Bernard. Den Schlüssel hatten sie von Rosalie erhalten, nach dem sie mit überlebenden Kameraden in Bernards Wohnung zurückgekehrt waren und Rosalie ihnen unter den Tränen von die Tat von Victor de Girodel erzählt hatte. „Wo ist er?!", verlangte Oscar auf der Stelle zu wissen und eilte schon selber aus dem Keller, die Treppe hinauf und zu Rosalies Wohnung. André und die Zwillinge folgten ihr auf dem Fuß. Alain und Bernard ließen sie passieren und gingen ihnen nach. Für die Erklärung war der Keller kein günstiger Ort.

Mit Tränen in den Augen empfing Rosalie ihre Schutzpatronin und sobald Oscar die Wohnung betrat, warf sich Rosalie ihr gleich darauf in die Arme. Marguerite und Philippe blieben etwas Abseits und schauten dem Geschehenen nur zu. „Bitte vergebt mir, Lady Oscar... ich konnte nicht...", schluchzte ununterbrochen die junge Frau in die verdreckte blaue Uniform ihrer ehemaligen Schutzpatronin. Hinter Oscar kamen auch die anderen in die Wohnung herein: Alain, die Zwillinge, André und Bernard. Im Schlepptau von Philippe schlenderte Marguerite sogleich zu ihren Brüdern und fragte sie, wo sie denn die ganze Nacht gewesen waren.

„Im Keller.", brummte Augustin verstimmt und Marguerite stellte keine weiteren Fragen mehr. Ihre Brüder und ihre Eltern sahen sehr ernst, wenn nicht gar sehr grimmig aus.

Oscar nahm die zitternde Rosalie bei den Schultern und schob sie von sich. „Hat Girodel dich oder die Kinder bedroht?" Sie konnte sich zwar innerlich nicht vorstellen, dass Girdel den Kindern etwas antun würde, aber nach seinem erneuten Verrat von heute Nacht war sie sich nicht mehr sicher, wozu er noch alles fähig war.

Rosalie schüttelte verneinend den Kopf, trat einen Schritt rückwärts und tupfte ihre tränennassen Augenlider mit dem Zipfel ihrer Schürze trocken. „Nein... Den Kindern und mir geht es gut, Lady Oscar..." Geplagt vom schlechten Gewissen erzählte sie, was Girodel angeordnet hatte, als er den Schlüssel an Philippe gab. Sie hatte ihm dann dem Jungen abgenommen und bei sich bis zur Rückkehr von Bernard und Alain behalten. Aus Furcht vor seinen letzten Worten an sie hatte sie sich nicht getraut, seinen Befehl zu missachten.

Oscar war noch wütender auf ihren einstigen Untergebenen als noch zuvor im Keller. Sie drehte sich um und funkelte Alain jähzornig an: „Wo ist Girodel jetzt?! Ich will ihn sofort zur Rechenschaft ziehen!"

Alain hatte schon vor einer langen Zeit aufgehört, auf ihre Wutausbrüche zu reagieren. „Mit Verlaub, Oberst, aber Ihr könnt ihn nicht mehr zur Rechenschaft ziehen. Girodel ist beim Sturm auf die Bastille gefallen. So wie viele unserer Kameraden und unzählige Bürger von Paris."

„Wie bitte?" Das traf nicht nur Oscar überraschend, sondern auch die Zwillingsbrüder und André. Nun ja, in der Revolution ging es nun mal nicht ohne Blutvergießen und Todesopfer, aber nicht doch Girodel! Er durfte nicht sterben, zumindest solange er nicht für seinen Verrat bestraft wurde!

„Ja, so ist es. Das haben mir zwei seiner Soldaten berichtet, die mehr in seiner Nähe waren als ich und meine Männer oder Bernard und seine Bürger.", erklärte Alain ungerührt weiter und verschränkte seine Arme vor der Brust.

Bernard bestätigte seine Aussage. „Wir waren alle mit der Einnahme der Festung beschäftigt und achteten deshalb nicht auf ihn. Erst als wir siegten und die Festung verließen, trafen wir uns alle bei den Kanonen wieder. Dort erfuhren wir über seinen Tod von zwei seiner Soldaten. Allerdings konnten wir danach seinen Leichnam nicht mehr finden."

„Wie ist er gestorben?", wollte Oscar wissen. Mit einem Mal wich ihre Wut auf ihren einstigen Untergebenen in Bestürzung. Irgendwie konnte sie es noch immer nicht fassen, dass Girodel tot war. „Und wieso konntet ihr seinen Leichnam nicht finden?"

„Als die Bastille gestürmt wurde, blieb er mit seinen Männern bei den Kanonen in der vordersten Reihe. Dann sah einer seiner Soldaten, wie er von einem Mann von hinten angegriffen wurde und zu Boden ging. Ein anderer Soldat berichtete, dass ein vermummter Mann ihn aufgefangen und ihn weggebracht hatte. Bis sie den Grafen jedoch erreichten, war sein Leichnam weg.", berichtete Alain etwas ausführlicher und bevor Oscar weitere Fragen stellen konnte, wies er sie auf eine andere Tatsache hin: „Draußen herrscht Chaos, die Menschen drehen durch, Oberst. Der Kommandant der Bastille und seine Soldaten wurden geköpft. Jetzt prangen deren Köpfe auf den Mistgabeln und werden durch die Straßen von Paris getragen. Deswegen schlage ich vor, wir sollten weg von hier. Am besten raus aus der Stadt." Damit meinte er nicht nur Oscar, André und deren Kinder, den kleinen Philippe mit eingeschlossen, sondern seine Frauen wollte er auch in Sicherheit wissen und in der aufgewühlten Stadt Paris war das nicht mehr möglich.

Ein vernünftiger Vorschlag, fand André, aber wo sollten sie denn hin? Auf das Anwesen de Jarjayes dürften sie bestimmt nicht mehr hin, da sie auf die Seite des Volkes gewechselt hatten und bestimmt als Verräter galten. Zumal General de Jarjayes seine Tochter an ersten Stelle dort suchen und ihr die Kinder wegnehmen würde. Es blieben noch zwei Orte übrig: das Landgut der Familie de Jarjayes in Arras und Oscars Haus in der Normandie. Aber auch das schien nicht mehr sicher zu sein, denn General de Jarjayes könnte seine Spione auch dorthin schicken oder es gar selber nachprüfen. Wie André es in seinem Kopf drehte und wendete, es schien nirgendwo einen sicheren Ort vor General de Jarjayes und seinen Spitzeln zu geben.

„Wir bleiben hier und warten, bis sich das Chaos auf den Straßen von Paris gelegt hat.", entschied sich Oscar und schaute Alain an. „Du kannst natürlich zu deinen Frauen zurückkehren und bei ihnen bleiben. Wenn die Lage sich etwas beruhigt hat, kommen wir zu dir und besprechen, wie es weiter geht."

„Aber was ist, wenn dein Vater uns aufsucht?", wand André mit Bedacht ein.

„So schnell wird er uns nicht aufsuchen.", meinte Oscar darauf fest überzeugt. „Er hat jetzt andere Sorgen als mich oder unsere Kinder. Die Nachricht über den heutigen Sturm auf die Bastille wird bald den König erreichen und ich bezweifle, dass mein Vater deswegen Versailles verlassen wird. Sein Platz ist an der Seite des Königs und seine Majestät braucht ihn jetzt am meisten. Die Pflicht und Treue zum Königshaus steht bei meinem Vater an aller erster Stelle."

André seufzte schwer. „Ich hoffe, dass du recht hast und wir vor ihm oder seinen Spionen sicher sind."

An diese Szene dachte Oscar auch ein paar Wochen später. Die Bastille war gefallen, ebenso wie der Graf Victor Clement de Girodel. Sein Leichnam wurde jedoch nie gefunden. Ebenso der Mann, der ihn angeblich aufgefangen und weggebracht hatte. Wie denn auch? Er war nicht der Einzige, der beim Sturm auf die Bastille ums Leben gekommen war und höchstwahrscheinlich wurde er, wie viele andere gefallene Bürger und Soldaten, irgendwo in einem Massengrab beigesetzt. Und niemand, bis auf die zwei seiner Soldaten, hatte anscheinend gesehen, wie er gestorben war. Denn alle Beteiligten bei dem Sturm an jenem Tag waren damit beschäftigt, die Bastille einzunehmen. Die besagten Zeugen seines Todes konnten nur das bestätigen, was Oscar schon von Alain gehört hatte.

Oscar schüttelte ungläubig den Kopf, als sie immer wieder daran dachte, was man ihr nach der Befreiung aus dem Keller am 14. Juli erzählt hatte. Auf den Straßen wurde es zwar nach wenigen Tagen etwas ruhiger, aber Paris war nicht mehr sicher und nach dem Sturm auf die Bastille war noch kein Ende der Revolution zu sehen. Dennoch konnten Oscar und die ihren in gewöhnlicher, bürgerlicher Kleidung gefahrlos die Wohnung von Rosalie verlassen und zu Alain gehen.

Im August hatte die Nationalversammlung die Erklärung der Bürger- und Menschenrechte verabschiedet. Jedoch weigerte der König sich noch immer die Abschaffung der Feudalherrschaft zu unterzeichnen. Das und die noch immer herrschende Knappheit der Lebensmittel führten zu neuen Tumulten in Paris. Die Preise für das Brot stiegen unaufhaltsam und es kam deshalb zu wiederholten Ausschreitungen zwischen hungernden Bürgern und den Verkäufern der Lebensmitteln – besonders den Bäckern. Oscar und ihre kleine Familie bekamen das alles natürlich mit und halfen sich gegenseitig so gut sie konnten. Alain und die überlebenden Soldaten, darunter auch die aus Girodels Kompanie, meldeten sich in der Nationalgarde an und wurden dort auch angenommen. Jeden Tag besuchten Oscar und die ihren sich gegenseitig, tauschten die neusten Ereignisse in der Stadt aus und besprachen zusammen, wie es weitergehen sollte.

„Solange der König sich weigert, werden weitere Aufstände folgen.", äußerte Bernard seine Vermutung. Zusammen mit seiner Frau saß er in seinem Zimmer und trank mit ihr den Tee. Außer ihnen beiden befanden sich auch André, Alain mit seiner Constance und die Zwillinge in demselben Raum seiner Wohnung.

„Ich muss nach Versailles!" Oscar konnte nicht mehr ruhig sitzen und stand von ihrem Platz auf. Nervös marschierte sie zu dem Fenster und blieb dort stehen. Draußen herrschte ein sonniges Wetter und nur vereinzelte Federwolken waren am blauen Himmel zu sehen. Ihre Tochter Marguerite spielte mit Philippe im Hof des kleinen Wohnhauses Fangen. Diane und Anna spielten auch mit und Oscar schloss kurz die Augen, um zur Ruhe zu kommen. Sie spürte ihren André hinter sich und seine Hände auf ihren Oberarmen. „Das ist viel zu gefährlich, Oscar.", sagte er ruhiger als er sich fühlte zu ihr. Er kannte ihre schnell wechselnde Stimmung und wählte seine Worte sorgfältig aus. „Niemand wird uns bestimmt dort sehen wollen, vor allem dich nicht. Wir gelten in Versailles sicherlich als Abtrünnige und werden sofort verhaftet, sobald wir dort nur einen Fuß hineinsetzen."

Oscar öffnete ihre Augen. Sie gab ihm zwar recht, aber so einfach war es für sie trotzdem nicht. Die zwanzig Jahre in den Diensten der königlichen Familie hatten ihr Leben geprägt und gewisse Spuren an ihrer Seele hinterlassen. „Es ist nicht so einfach, mein André. Ich muss Ihre Majestät sehen und mit ihr sprechen. Wenigstens ein letztes Mal."

„Dann komm mit mir nach Versailles!", hallte eine tiefe Stimme durch den Raum und alle Köpfe drehten sich überrascht in Richtung der Tür. Ein Mann, umhüllt in einen schlichten Umhang zog seine Kapuze vom Kopf herunter und seine dunkelblauen Augen nagelten Oscar fest.

Auch Oscar und André wirbelten herum und ihre Gesichter verfinsterten sich. Mit diesem Besuch hatte niemand von ihnen gerechnet! „Was wollt Ihr hier, Vater?", murrte Oscar. Und die zweite Frage war: Wie kam er auf einmal hierher? Nun gut, er war schlau genug, um sich wie ein Bürgerlicher von Paris zu kleiden und somit niemanden auf den Straßen als Adliger aufzufallen, aber woher kannte er ihren Aufenthaltsort?

„Eigentlich ist diese Frage überflüssig, Oscar. Du weißt genau, was ich will." General de Jarjayes setzte seine Füße in Bewegung. Durch Sophie und dem Dienstmädchen Marie war es leicht zu erfahren, wo Oscar und ihre Kinder sich versteckten. Und von einem gewissen Gast, der bei ihm auf dem Anwesen schon seit einer Woche weilte, wusste er auch den Wohnort von Rosalie... Der Holzboden knarzte bei jedem seiner Schritte und alle Anwesenden im Raum schienen zu einer Säule erstarrt zu sein. Er blieb am Tisch genau vor seinen beiden Enkeln stehen und sein Blick schweifte von seiner Tochter auf Augustin. „Du, mein Junge, kommst auf jeden Fall mit mir mit."

Die Zwillinge schossen wie gestochen in die Höhe. Auch die Anderen erhoben sich von ihren Plätzen. Oscar kam sogleich mit André angelaufen und stellte sich zwischen ihren Sohn und ihrem Vater. „Ich werde mit Euch gehen, aber Augustin bleibt hier!"

„Nein, Mutter!", protestierte Augustin hinter ihrem Rücken. „Ich will nicht, dass wegen mir gestritten wird! Wenn mein Großvater nur meinetwegen hier ist, dann werde ich mit ihm gehen!"

„Und ich komme mit!", fügte François selbstsicher hinzu. „Ich lasse dich nicht alleine!"

Reynier de Jarjayes sah tief in die Augen seiner Tochter und ein Lächeln umspielte seine schmalen Lippen. „Wie interessant. Ich bin neugierig zu erfahren, wie du diese Situation lösen wirst, Oscar. Zwischen Muttergefühlen, meiner Erziehung zu einem Offizier und der Pflicht gegenüber des Königshauses ist es sicherlich nicht leicht für dich. Aber ich kann dir die Entscheidung gerne abnehmen."

„Wie ich schon sagte, ich werde mit Euch gehen, aber Augustin bleibt hier!", wiederholte Oscar und betonte ihre Worte mit selbstsicherer Haltung. „Keines meiner Kinder wird mit Euch nach Versailles gehen!"

„Wenn du gehst, dann werde ich dich begleiten, Oscar!", mischte sich André ein, aber wurde von den beiden überhört.

Reynier fixierte nur seine Tochter. „Ich bin nicht dein Feind, Oscar. Ich bin es leid, mit dir jedes Mal zu streiten."

„Ich will auch nicht mit Euch streiten, Vater."

„Wenigstens darin sind wir uns einig." Reynier seufzte schwer. Auf einmal wirkte er ermattet, erschöpft und um einige Jahre gealtert. „Die Königin möchtet dich auch noch einmal sehen. Da nicht du bei dem Sturm auf die Bastille beteiligt warst, sondern Girodel, hat sie dich vom Verrat an der königlichen Familie freigesprochen. Girodel ist der einzige, der sich für den Verrat verantworten muss. Aber mit seinem Tod hat er schon genug für sein Fehlverhalten bezahlt und deswegen wurde ihm nur sein Rang und sein Titel genommen. Das heißt, im Gegensatz zu ihm steht es dir frei, nach Versailles zu gehen ohne verhaftet zu werden. Was Augustin angeht, er kommt mit, weil ich ihn als Beschützer des Prinzen und einzigen Thronfolgers Louis Charles seiner Majestät vorgeschlagen habe und der König hat eingewilligt. Das bedeutet, es ist ein Befehl des Königs und ich werde nicht ohne meinen Enkel gehen."

Oscar überlegte schnell. Zuerst wunderte sie sich über Girodel und woher ihr Vater über seinen Tod wusste, aber verwarf sogleich die Frage über ihren einstigen Untergebenen. Ihr Vater kam wegen Augustin hierher und nicht wegen Girodel. „Gut, ich komme mit Augustin nach Versailles, aber er wird stets an meiner Seite sein.", beschloss Oscar und bevor ihr Geliebter protestierte, richtete sie ihre nächsten Worte an ihn. „André, du bleibst mit François, Marguerite und Philippe hier, bei Rosalie."

„Wäre es nicht besser, wenn André mit den Kindern auf mein Anwesen zurückkommt?", wand General de Jarjayes ein. „Seine Großmutter wird sicherlich erfreut sein, ihn und ihre Urenkel wohlauf zu sehen. Auch Marie vermisst ihren Sohn und macht sich um ihn Sorgen."