Liebe, Lüge, Wahrheit
Kapitel 90 – Der Gast
Zwei Holzschwerter kreuzten sich, schlugen leicht aufeinander und ließen gleich darauf voneinander ab. Der kurzhaarige Mann mit aschblondem, welligen Haar, zeigte gerne dem kleinen Jungen mit dem rotbraunen Haar, wie man ein Schwert führte. Am Brunnen im Hinterhof des Anwesens de Jarjayes und nachdem der Regen aufgehört hatte, war das eine willkommene Abwechslung in den sonst tristen und trüben Herbsttagen. Besonders für den Mann, der schon seit einem Monat hier als Gast weilte. „Du sollst niemals deinen Gegner aus den Augen lassen, Philippe, merk dir das!", lehrte der Mann den achtjährigen Jungen und kreuzte wieder mit ihm die Holzschwerter, aber verübte keinen Angriff. Er wartete, bis sein Schützling diesmal als erster zuschlug.
„Jawohl, Monsieur Clement!" Philippe verstand, was sein Lehrer von ihm erwartete, holte mit seinem Holzschwert aus und schlug zu. Dabei heftete sich sein Blick konzentriert auf den Schwertarm seines Gegners.
Clement schmunzelte in seinen dichten Vollbart und sparte auch nicht mit dem Lob. „Das machst du gut! Wenn du regelmäßig trainierst, wird aus dir ein hervorragender Kämpfer werden!"
„Sowie François und Augustin?", wollte Philippe mit leuchtenden Kinderaugen wissen und schlug erneut zu. Er mochte die Zwillingsbrüder von seiner Freundin Marguerite – sie waren sein Vorbild.
Clement parierte seine Hiebe, aber schlug nicht zurück. Er wollte dem Jungen die Möglichkeit geben, mehrere Hiebe nacheinander schnell, ohne Unterbrechung, verüben zu können. „Nun, so wie François und Augustin zu werden, bedarf es mehr als nur gelegentliche Fechtübungen mit Holzschwertern.", sagte er und fügte schnell hinzu, um den Stolz des Jungen nicht zu verletzen: „Dennoch ist es nicht unmöglich."
„Monsieur Clement! Monsieur Clement!" Die aufgebrachte Stimme eines Mädchens zerstörte augenblicklich die harmonische Stimmung zwischen Clement und Philippe. Die beiden brachen ihre Fechtübung sofort ab und schauten in Richtung des Hauses. Das Mädchen mit braunen, wedelnden Zöpfen, rannte Hals über Kopf zu ihnen. „Monsieur Clement!", rief sie dabei schnell atmend und mit bebender Stimme.
Clement fing das Mädchen ab und hielt sie bei den Armen fest. „Was ist passiert, Marguerite? Wieso bist du so aufgebracht?" Er versuchte ruhig zu sprechen, um dem Kind keine weitere Angst einzujagen, aber innerlich wappnete er sich auf eine schlimme Nachricht.
„Papa hat Mama mitgebracht...", schluchzte Marguerite und versuchte tapfer ihre aufkommenden Tränen zu unterdrücken. „...und ...und sie ist verletzt..."
Wie schlimm, wollte Clement fragen, aber nach dem ängstlichen Gesichtsausdruck des Mädchens zu urteilen, war es vermutlich sehr schlimm. Er ließ von Marguerite ab und überlegte, was er jetzt tun sollte. Den Eltern von Marguerite wollte er nicht unbedingt begegnen. Obwohl er André hin und wieder auf dem Anwesen de Jarjayes gesehen hatte, aber das waren nur flüchtige Augenblicke, die nach knappen Begrüßung schon in Vergessenheit gerieten. Und François war nie mit seinem Vater auf dem Anwesen de Jarjayes erschienen. Von General de Jarjayes, der in seinem Zuhause gelegentlich auftauchte, wusste Clement, dass der Knabe sich meistens bei Alain de Soisson in Paris aufhielt. Der kurzhaarige Gast mit dem aschblonden Haar traf seine Entscheidung und gab den Kindern eine Aufgabe, um sie von dem ganzen Trubel abzulenken: „Philippe, du gehst mit Marguerite zu deiner Mutter und..."
„Marie ist bei Mama im Zimmer und meine Großmutter ist auch dort...", unterbrach ihn Marguerite wispernd. Sie sah nicht danach aus, als würde sie gerne ins Zimmer ihrer Mutter gehen wollen. Zumindest nicht unter diesen Umständen, die sie gerade erlebt hatte. Die Hände ihres Vaters waren blutverschmiert, als er mit einem Stallknecht ihre Mutter ins Haus gebracht und dabei nach seiner Großmutter gerufen hatte. Hinter ihnen war ein Mann in nobler Kleidung gelaufen und sich der angerannten Haushälterin und Marie als Hofarzt vorgestellt. Marguerite hatte die Geschehnisse aus der Küche beobachtet und sobald alle die große Treppe hochgestiegen waren, war sie zu dem Brunnen im Garten gerannt.
Clement konnte die Angst des Mädchens nachvollziehen und atmete tief durch, bevor er seine vorherige Aussage änderte. „Dann bleibt ihr hier und wartet auf mich. Ich schaue derweilen, wie es deiner Mutter geht, Marguerite." Er ließ die Kinder stehen und marschierte leicht hinkend in das Gebäude. Dabei rieb er an seiner rechten Seite. Die zum größten Teil verheilte Wunde, oberhalb seiner Hüfte, zerrte und dehnte sich manchmal unangenehm beim Laufen. Clement nahm die Treppe, die in das obere Stockwerk führte und erreichte kurz darauf die Gemächer von Lady Oscar. Die Tür zu ihrem Salon stand weit offen und Clement spähte hinein. André befand sich an dem Eingang zum Schlafzimmer seiner Geliebten und sein Gesichtsausdruck sprach Bände. Dann war die Lage wirklich schlimm... Clement bekam beim Anblick auf André einen unangenehmen Druck im Brustkorb und ein mulmiges Gefühl im Bauch. Trotzdem kam er in den Salon herein und blieb nicht weit von André stehen. „Was ist passiert?", fragte er im rauen Ton.
André erschrak leicht, aber drehte sich um und schaute Clement mit einem verbitterten Blick an. Unschlüssig, was er sagen sollte, hob und senkte er nur seine Schultern. Sollte er dem Gast von General de Jarjayes über die Geschehnisse in Versailles berichten oder lieber nicht? Im Grunde genommen kannte er Clement nicht. General de Jarjayes hatte ihn seit etwa einem Monat bei sich beherbergt und kurz angebunden gesagt, er sei ein alter Bekannter und hieß Clement. André hatte sich nie für den Gast des Generals interessiert, als er hier seine siebenjährige Tochter und seine Großmutter besuchte. Clement war nie gesprächig und hielte sich meistens im Kontor von General de Jarjayes auf, wenn dieser aus Versailles auf sein Anwesen kam. François war ja meistens bei Alain und war schwer von dort weg zu kriegen. André seufzte betrübt und entschied sich doch noch über die Geschehnisse in Versailles zu berichten. „...und so brachte ich Oscar hierher. Die Königin schickte sogar einen ihrer Hofärzte mit uns und jetzt wird Oscar von ihm besser versorgt als in Versailles und auf weitere Verletzungen hin untersucht."
„Hast du oder jemand von euch den Angreifer erkennen können?", fragte Clement mit einem mulmigen Gefühl und die zum großen Teil verheilte Wunde an seiner rechten Rückenseite pochte und zerrte noch unangenehmer als draußen am Brunnen. Nach außen hin bewahrte er noch immer Ruhe, aber innerlich brodelte es in ihm. Er hatte so eine Ahnung, wer Lady Oscar angegriffen haben könnte...
„Nein.", meinte André und schaute wieder ins Schlafzimmer seiner Geliebten. Oscar lag nur in einem langen Hemd im Bett. Ihre blutverschmierte Oberbekleidung lag am Boden und erinnerte ihn an das Attentat auf sie. André erlebte die Geschehnisse immer wieder in seinem Kopf und beschuldigte sich selbst, weil er nicht rechtzeitig reagieren und somit Oscar nicht vor dem Angreifer bewahren konnte... Hilflose Wut war das einzige, was er gerade empfand.
Der Hofarzt schien fertig mit der Untersuchung und Versorgung der Wunde zu sein, denn er deckte Oscar zu, sagte etwas zu den Anwesenden und Sophie schickte Marie hinaus. Die Mutter von Philippe und Kinderfrau von Marguerite blieb direkt vor André stehen. „Lady Oscar möchtet dir etwas Wichtiges sagen. Der Hofarzt hat etwas festgestellt, das dich auch interessieren sollte." André verschwand sogleich im Zimmer und Clement schaute ihm nach. „Was hatte der Hofarzt festgestellt?", wollte er wissen.
Marie schaute direkt in sein Gesicht und der Blick ihrer graphitgrauen Augen wirkte unschlüssig, ob sie es ihm sagen sollte. Vor einem Monat war Clement auf dem Anwesen de Jarjayes aufgetaucht – in Lumpen, verwahrlost, aber mit gut versorgten Wunden auf seinem Rücken. General de Jarjayes war zu dem Zeitpunkt auf seinem Anwesen und beim Anblick auf Clement sah er aus, als hätte er einen Geist gesehen. Aber er erholte sich rasch vom Schreck und hatte Marie angeordnet, sich um seinen Gast zu kümmern. Er selbst kam oft zu ihm und sprach lange unter vier Augen mit ihm. Den anderen auf seinem Anwesen hatte der General angeordnet, Stillschweigen über Clement zu bewahren und wenn jemand fragte, dann sagen, er sei ein entfernter Verwandter von ihm und hieße Clement. Marie hatte sich fürsorglich um ihn gekümmert, seine große Wunde, sowie andere Verletzungen, Blessuren und Abschürfungen, die auf seinem ganzen, abgemagerten Körper verteilt waren, gepflegt und nach besten Kräften versorgt. Als es ihm nach zwei Wochen besser ging und er langsam zu Kräften kam, hatte sie auf seinem Wunsch ihm sogar sein langes, welliges Haar abgeschnitten. Seinen Bart hatte er schon zuvor wachsen lassen und bis auf seinen leidvollen Blick der türkisblauen Augen war er nicht mehr zu erkennen. Marie konnte nicht lange in sein besorgtes Gesicht sehen und entschied sich für die Wahrheit. „Lady Oscar ist guter Hoffnung. Zum Glück ist dem Kind nichts passiert. Der Arzt meinte aber, wenn sie sich jedoch nicht genug schonen wird, dann könnte es passieren, dass sie das Kind verliert."
Clement ging an das große Fenster im Salon. Noch ein Kind von André... Er musste erst einmal einen klaren Gedanken fassen. Unten am Brunnen sah er die zwei Kinder spielen. Marguerite und Philippe fischten die gefallenen, bunten Blätter aus dem kalten Wasser und machten einen bunten Strauß daraus. Er hörte leichtfüßige Schritte von Marie hinter sich und das leise Rascheln ihrer Röcke. Er war ihr sehr dankbar für ihre Pflege und Fürsorge, die sie ihm den ganzen Monat geschenkt hatte. Jedoch den innerlichen Schmerz und die qualvolle Erlebnisse seit dem Sturm auf die Bastille würde sie niemals heilen können. Erst wenn sein Peiniger sterben würde, würde er womöglich den nötigen Seelenfrieden finden... „Ich muss nachher mit dem Hofarzt sprechen.", sagte er zu ihr.
„Wieso geht Ihr nicht zu ihm und hört, was er Lady Oscar erzählt?", flüsterte Marie leise und stellte sich direkt neben ihm. Sie wusste, dass es unhöflich von ihr war, ihm eine solche Frage zu stellen, aber in dem einen Monat der Pflege und Fürsorge hatte sie ihn ins Herz geschlossen und wollte mit dieser Frage es ihm andeuten.
Clement wandte seinen Blick von den Kindern am Brunnen überrascht zu ihr, aber sie erwiderte den Blick nicht. Sie sah ihren Sohn an, der draußen am Brunnen sein Holzschwert zog, es Marguerite zeigte und für sie ein paar Hiebe vorführte. „Nein, ich bevorzuge es, hier zu bleiben. Ich will nicht, dass sie mich sieht.", hörte sie den Gast sagen und schaute verwirrt zu ihm. „Habt Ihr Angst, dass sie Euch erkennt?"
Clement lächelte traurig in seinen dichten Bart. Marie war die einzige von der ganzen Dienerschaft auf dem Anwesen de Jarjayes, der er erlaubte, mit ihm so offen zu sprechen. Vielleicht lag es daran, weil sie eben den ganzen Monat an seinem Krankenlager verbracht hatte und er so gesehen ihr sein Leben verdankte. „Ich bin tot in ihren Augen – gefallen bei dem Sturm auf die Bastille und so soll es auch bleiben.", stellte er klar und bemerkte aus seinem Blickwinkel, wie zwei Personen den Salon betraten.
Marie wollte etwas zu seiner letzten Aussage erwidern, als auch sie die Bewegung im Salon wahrnahm. Beide schauten hin. Ein Diener führte einen Soldaten aus Versailles geradewegs zu ihnen, sein Blick jedoch heftete sich nur auf Clement. „Er wollte zu Euch, Monsieur.", teilte der Diener mit.
„Eine Nachricht von General de Jarjayes und ich soll sie Euch zuerst überbringen!", sprach der Soldat und salutierte.
Clement sah kurz zu Marie und von seinem leidvollen Blick war nichts mehr zu sehen. Er dachte und handelte jetzt wie ein Offizier, der er einstmals war. „Sag André, er soll in das Kontor von General de Jarjayes kommen." Ohne Antwort von ihr abzuwarten ging er an dem Soldaten vorbei und sagte ihm befehlshaberisch: „Folge mir und erzähle alles was du weißt, aber erst wenn André auch anwesend ist!"
Im Kontor des Generals erstattete der Soldat den Bericht, sobald André eingetroffen war: „Die königliche Familie wird gerade nach Paris in einem Wagen gebracht und General de Jarjayes begleitet den Zug mit anderen Soldaten der Wache. Auch die Nationalgarde ist dabei und wird von einem gewissen Alain de Soisson angeführt! Einer dieser Soldaten sagte zu General de Jarjayes, dass Armand aufgetaucht ist und dass der junge Aufseher des Kronprinzen verschwunden sei."
Clement wurde hellhörig und sein mulmiges Gefühl verstärkte sich. „Augustin?"
Auch André wurde es bang ums Herzen. „Mein Sohn?" Und bei der Erwähnung von Armand tauchten all die unschönen Erlebnisse vor seinem geistigen Auge auf und ein dicker Kloß entstand in seiner Kehle.
Der Soldat bejahte in Richtung von Clement. „Ja, Monsieur, der junge Augustin wird seit dem Attentat auf Lady Oscar vermisst."
„Was ist mit Augustin?" André hielt es nicht mehr auf seinem Platz aus. Er war sofort bei dem Soldaten, wollte ihn packen und nachfragen, was mit seinem Sohn sei, aber Clement fasste seinen Arm und hinderte ihn daran. „Ruhig, André, wir finden schon deinen Sohn!", befahl er in dem herrischen Ton, den er früher oft bei seinen Männern eingesetzt hatte. Zu dem erschrockenen Soldaten ordnete er sogleich folgendes an: „Du begibst dich unverzüglich zum General de Jarjayes nach Paris und sagst ihm, dass ich mich um diese Angelegenheit kümmern werde!"
„Jawohl, Monsieur!" Der Soldat salutierte und eilte aus dem Kontor ein wenig erleichtert. Er wollte dieser angespannten Atmosphäre dort nicht mehr länger ausgesetzt sein.
André befreite sich aus dem Griff von Clement und musterte ihn verblüfft. In dem Moment kam er ihm sehr bekannt vor, aber er konnte nur nicht zuordnen, woher. Clement ließ von ihm ab und kehrte ihm sogleich den Rücken zu. André rührte sich nicht vom Fleck und wiederholte lediglich seine Sorge: „Was ist mit Augustin?" Und woher wusste dieser Gast, dass Augustin sein Sohn war? Aber diese Frage verkniff er sich, denn sein Sohn hatte jetzt höhere Priorität!
Kurze Stille trat zwischen beiden ein, bis Clement sich doch noch umdrehte und ihn mit seinem stechenden Blick festnagelte. „Du gehst zu Lady Oscar und sagst ihr, was der Soldat über die königliche Familie gesagt hat. Über Augustin erwähnst du kein Wort, verstanden? Danach treffen wir uns bei den Pferden im Stall und vergiss deinen Degen nicht. Auch eine Pistole kannst du mitnehmen. Um Armand dingfest zu machen, werde ich deine Hilfe brauchen."
Dieser Befehlston... Aber woher kannte er ihn nur? Und was ging ihn seine Familie überhaupt an? André schüttelte diesen Gedanken ab – es ging hier um viel Wichtigeres! Es ging um Augustin und dessen Widersacher Armand! „Ich finde, Oscar hat das Recht, alles Gehörte zu erfahren!"
„Und was dann?", unterbrach ihn Clement schroff. „Lady Oscar ist schwerverletzt worden! Armand ist der Übeltäter und muss bestraft werden, aber ohne sie! Jegliche Sorge um ihren Sohn kann ihren Zustand nur noch verschlimmern! Du willst doch nicht, dass sie eine Fehlgeburt erleidet, oder?"
André schluckte hart. Was stimmte nur mit diesem Gast nicht? Woher wusste er so viel über seine Familie?! Etwa von General de Jarjayes? Gleichzeitig gab er ihm jedoch recht. Oscar brauchte jetzt Ruhe und Erholung – sie durfte ihr gemeinsames, ungeborenes Kind nicht verlieren! „In Ordnung, Monsieur Clement, ich werde Oscar nichts von Augustin sagen...", gab André entrüstet nach.
„Gut." Clement marschierte an ihm vorbei und ging in sein Zimmer. Dort befestigte er seinen Degen an seinem Gurt, zog seinen Ausgehrock an und warf einen Regenmantel mit Kapuze um seine Schultern.
Marie betrat unverhofft sein Zimmer. „Ihr liebt sie noch, nicht wahr?", fragte sie ganz leise. Sie war dabei, als André seiner Oscar über die königliche Familie berichtet hatte und dann ihr sagte, dass er mit dem Gast Clement zu General de Jarjayes aufbrechen würde. Marie hörte nicht mehr die Antwort von Madame Oscar und verließ stürmisch die Gemächer. Nun stand sie im Zimmer von Clement und fragte sich, warum sie sich überhaupt in sein Leben einmischte.
Clement fragte sich anscheinend das Gleiche und kam auf sie mit den Worten zu: „Ich wüsste nicht, dass ich dir eine Rechenschaft ablegen soll." Er nahm sie sachte bei den Schultern und schaute ihr tief in die Augen. Er mochte sie und ihren Sohn gleichermaßen und das lag nicht daran, weil sie ihn gesund gepflegt hatte. „Lady Oscar gehört André und ich gehöre nur mir selbst. Aber keine Sorge, ich werde zurückkommen, denn ich gehe nicht alleine und ich werde Augustin zurückholen."
„Ich habe schon einen Mann verloren und möchte Euch nicht auch noch verlieren, nachdem ich Euch gesund gepflegt habe...", meinte Marie mit glasigen Augen. „Mein Sohn mag Euch sehr..."
„Ich weiß." Clement küsste sie auf die Stirn und dann war er fort.
Zusammen mit André galoppierte er geschwind nach Paris. In der Nähe eines Hauses zügelte er jedoch sein Pferd. André machte es ihm nach und wunderte sich, weil er hier alles gut kannte. Clement zeigte in die Gasse des benachbarten Hauses, wo ein Soldat zu sehen war. „Den da schnappen wir uns!", meinte Clement und trabte sein Pferd an.
André glaubte sogar eine gewisse Schadenfreude vernommen zu haben und folgte ihm. Er erkannte, dass sie das Haus von Alain und seiner Constance passierten und in dem, um die Ecke stehenden, Soldaten erkannte er einen seiner Kameraden. „Louis, was machst du hier?", fragte er baff.
Der Angesprochene sah überrascht zu ihm auf und dann ging alles schnell. Clement sprang rasch hinter Louis von seinem Pferd, schlug ihn mit dem Knauf seines Degens bewusstlos nieder und schaute dann zu André. „Hilf mir, ihn aufs Pferd zu hieven!"
André verschlug es die Sprache und er verstand gar nichts mehr. Wer war dieser Mann? Dennoch stieg er von seinem Pferd herunter und half Clement seinen ehemaligen Kameraden über den Sattel zu hieven. „Wieso habt Ihr das getan?"
„Dein Freund Alain ist von Verrätern umgeben." Clement stieg wieder in den Sattel und ritt weiter. „Er arbeitet für Armand und weiß wo Augustin ist." Zwar wusste er das auch, aber er wollte nichts überstürzen und noch mehr Informationen aus Louis heraus bekommen.
André wollte ihm nicht glauben, aber sein Gefühl sagte ihm, er sollte auf Clement hören – auch wenn ihm dessen Gesellschaft nicht geheuer war. Er folgte ihm bis zu einem noblen Viertel und ihm fiel die Kinnlade nach unten. Was wollten sie am Haus von Graf de Girodel? Er wusste, dass nach dem Tod des Grafen dieses Haus General de Jarjayes von dem König übertragen wurde, aber was wollte Clement hier? Die Sache wurde immer kurioser. Trotzdem stellte er keine Fragen und half Clement den bewusstlosen Louis in das Innere des Hauses zu tragen. Während sie Louis fesselten, beschlich André ein Verdacht. Unmöglich, sagte er sich selbst, aber dieser Mann und dessen Verhalten erinnerten ihn so sehr an den früheren Besitzer dieses Hauses – trotz der kurzgeschorenen Haare... „Ihr seid es, Graf de Girodel, nicht wahr?", fiel es vorsichtig aus seinem Mund.
Clement zuckte bei dem Namen zusammen, aber fesselte Louis weiter bei den Beinen. „Graf de Girodel ist beim Sturm auf die Bastille im Sommer gefallen."
„Es hieß, dass sein Leichnam nie gefunden wurde.", merkte André an und sah Clement intensiver an.
Clement machte noch den letzten Knoten, setzte sich auf Louis und erwiderte fest den Blick von André. „Meinen Scheintod habe ich Armand zu verdanken." Er erzählte ihm alles, was er bei Armand erlebt hatte und wer noch aus Oscars ehemaligen Kompanie darin beteiligt war. „...ich wachte in einer schäbigen Hütte auf und die erste Person, die ich sah, war die alte Hebamme, die François und Augustin auf die Welt geholt hat. Dieser Mistkerl Armand hatte sie dazu gezwungen, mich am Leben zu halten, um sich an Augustin rächen zu können. Seinen vier Kumpanen, die er Jules, Louis, Pierre und Lassalle nannte, versprach er eine Belohnung in Form von Alains Schwester und er selbst wollte sich Augustins Freundin Anna bemächtigen... Die alte Hebamme hatte mich gepflegt und meine Wunden versorgt, die Armand mir immer und immer wieder zugefügt hatte... Obwohl ich vor vielen Jahren wegen Augustin nicht nett zu ihr war, hatte sie mich am Leben erhalten und sobald es mir besser ging, hatte sie mir zur Flucht verholfen... Ich bin froh, dass ich euch damals im Keller eingesperrt habe, denn sonst wäre Lady Oscar an meiner Stelle in Armands Hände geraten und ich will nicht wissen, was er mit ihr gemacht hätte... Armand ist nicht zu unterschätzen und deswegen brauchen wir Verstärkung.", beendete er und hörte unter sich quälendes Stöhnen.
André war von dem, was er gehört hatte, entsetzt. Ihm fehlte endgültig die Sprache. Clement dagegen nicht. Er stand auf und verpasste Louis einen heftigen Tritt in die Rippen. „Wach auf!", befahl er.
Louis blinzelte und stöhnte vor Schmerzen, aber er erkannte den Mann, der über ihn turmhoch stand. „Ihr lebt?"
Clement ging nicht auf seine Frage ein und trat noch mehr nach ihm. „Warum lauerst du beim Haus von Alain de Soisson herum? Oder willst du François abpassen und ihn zu Armand schleppen, so wie seinen Bruder?"
Louis begriff, dass er nichts mehr zu verlieren hatte. Dieser ehemalige Offizier hatte eine Hauptrolle beim Sturm auf die Bastille gespielt und war demzufolge nicht zu unterschätzen. „François ist schon bei ihm...", spie er und schmeckte sein eigenes Blut. Er hatte sich auf seine Zunge gebissen als er bewusstlos war. „Alle beide sind bei ihm... ihm fehlen die Weiber..."
„François auch?" In André kam wieder Leben. Er packte Louis am Kragen, zog ihn zu sich hoch und rüttelte ihn heftig. „Warum helft ihr Armand? Wir haben euch doch nichts getan!"
„Es hat nichts mit dir oder deiner Familie zu tun, André...", erklärte Louis röchelnd. Es war ihm jetzt alles egal. „Alain hat uns Diane verwehrt... Nicht nur Georges hatte um sie geworben... Armand hat sie uns als Belohnung versprochen, wenn wir ihm helfen, Augustin zu fangen..."
André ließ von ihm ab, als hätte er sich verbrannt. Er spürte die Hand von Clement auf seiner Schulter und wie er ihn zur Seite schob. Dann schlug er Louis wieder bewusstlos und offenbarte André seinen nächsten Schritt. „Du bleibst hier und ich hole Verstärkung. General de Jarjayes und dein Freund Alain müssen schon mit der Frauenbewegung beim Palais de Tuilerien angekommen sein."
„Und was mache ich mit Louis, wenn er aufwacht?", fragte André fassungslos.
Clement schaute kurz auf den gefesselten Soldaten, bevor er das Haus verließ. „Dann schlage ihn wieder bewusstlos. Ich denke, dein Freund Alain hat mit ihm und seinen Kumpanen eine Rechnung zu begleichen."
